John Holt & Patrick Farenga Bildung in Freiheit Das John-Holt-Buch zum eigenständigen Lernen John Holt & Patrick Farenga Bildung in Freiheit Das John-Holt-Buch zum eigenständigen Lernen Deutsch von Dagmar Mallett Genius Verlag Alle Rechte vorbehalten Titel der Originalausgabe: Teach Your Own Deutsche Erstausgabe © 2009 by Genius Verlag, Bremen www.genius-verlag.de info@genius-verlag.de Lektorat: Luise Fuchs, Tilman Neubronner Layout: Tilman Neubronner Cover: Petra Friebel, www.friebelarts.de Druck: Finidr, Tschechische Republik 1. Auflage Mai 2009 ISBN 978-3-934719-29-3 Inhaltsverzeichnis Danksagung 7 Vorwort 9 Einführung 23 1. Warum Eltern ihre Kinder aus der Schule nehmen 35 2. Häufige Einwände gegen Homeschooling 61 3. Die Freilerner-Politik 95 4. Das Leben mit Kindern 117 5. In der Welt lernen 139 6. Lebens- und Arbeitsräume 157 7. Ernsthaftes Spiel 167 8. Lernen, ohne unterrichtet zu werden 177 9. Lernschwierigkeiten 203 10. Kinder und Arbeit 221 11. Homeschooling in den USA 245 12. Die ersten Schritte zum freien Lernen 263 13. Reaktion der Schule 285 Anmerkungen 317 Anhang 319 Dieses Buch ist all jenen gewidmet, welche die Zeitschrift Growing Without Schooling unterstützt und sich für die Arbeit und die Ideen von John Holt eingesetzt haben. Ohne euren Mut und eure Entschlossenheit, eure Kinder selbst zu unterrichten und eure Erfahrungen weiterzugeben, hätte dieses Buch nie geschrieben werden können. Danksagung zur amerikanischen Originalausgabe Auch wenn meine Eltern und Schwiegereltern Homeschooling zunächst für eine verrückte Idee hielten, haben sie es mit der Zeit zu schätzen gelernt und schließlich selbst unterstützt. Sie haben mit- erlebt, wie gut sich ihre Enkelkinder entwickelten, und unterstützten meine Familie auf vielfältiger Weise, so dass dieses Buch entstehen konnte. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Ich danke Phoebe Wells und Dick Westheimer für ihre Ermuti- gung, als ich mein erstes Buch schrieb, The Beginner's Guide to Homeschooling, das in manche Teile dieses Buches mit eingeflos- sen ist. Ich hätte Bildung in Freiheit nicht schreiben können ohne die Freundschaft und die anregenden Gespräche mit folgenden Perso- nen: Larry und Susan Kaseman, Gene Burkart und Aaron Falbel, die auch weiterhin meine Gedanken zu Ausbildung und ihrer Rolle in der modernen Gesellschaft hinterfragen; sowie Donna Richoux, Susan- nah Sheffer und Meredith Collins, deren scharfsinnige Redaktions- und Denkarbeit aus GWS eine so großartige Zeitschrift gemacht haben. Besonderen Dank schulde ich Susannah Sheffer für ihren Geist und Intellekt, die mir helfen, meine Gedanken und Schriften zu fokussieren. Ein besonderer Dank geht an all meine Kollegen, die bei Holt Associates/Growing Without Schooling arbeiteten, sowie ihren Fami- lien, die diese Arbeit auch nach John Holts Tod im Jahr 1985 wei- terführten. Es gab zu viele Kollegen, um sie hier alle zu nennen, aber es gab einige, die immer da waren, wenn ich sie am meisten brauch- te: Peggy Durkee, Mary und Mark Van Doren, Ginger Fitzsimmons, Mary und Tom Maher, Randi Kelly, Dawn Lease, Maureen Carey, Sophia Sayigh, Marion Webster und Ron Rubbico. 7 Ich schulde auch all jenen Autoren und Denkern großen Dank, die mich in meiner Arbeit ermutigten, sei es persönlich oder durch ihre Bücher. Dazu gehören vor allem George Dennison, John Taylor Gatto und Ivan Illich. Ich möchte mich auch bei Suzanne MacDonald bedanken, die mich im Laufe der letzten Jahre durch alle möglichen Höhen und Tiefen hinweg anfeuerte und mir half, den Quellennach- weis dieses Buches auf den neuesten Stand zu bringen. Mein beson- derer Dank gilt Merloyd Lawrence, die mir viele Jahre lang half, John Holts literarisches Erbe mit Einfühlungsvermögen verantwortungs- voll zu bewahren und zu erweitern. Vor allem jedoch danke ich meiner Frau Day und meinen Kin- dern Lauren, Alison und Audrey für ihre Liebe, ihre Arbeit und ihre Unterstützung, die sie mir sowohl zu Hause als auch im Holt-Büro über all die Jahre hinweg geschenkt haben, und vor allem dafür, dass sie die Theorien des sogenannten »Unschooling« - also des Lernens ohne jeglichen schulischen Rahmen - Tag für Tag und Jahr für Jahr für mich in die Praxis umgesetzt haben. PAT FARENGA ANMERKUNGEN Die Zeitschrift Growing Without Schooling (GWS) wird im Verlauf des Buches häufig genannt. GWS wurde 1977 von John Holt gegründet und war das erste Magazin über Homeschooling. Als John 1985 starb wurde ich Herausgeber der Zeitschrift; meine Kolleginnen Donna Richoux, Susannah Sheffer und Meredith Collins waren nach Johns Tod nacheinander Herausgeberinnen von GWS, bis GWS im Dezem- ber 2001 eingestellt wurde. Einige Originalausgaben von GWS sind immer noch verfügbar (für Bestellungen siehe www.holtgws.com). PAT FARENGA Die von Patrick Farenga verfassten Ergänzungen sind in dieser Schriftart abgefasst und werden am Beginn und am Ende jeweils folgendermaßen gekennzeichnet: DIE HERAUSGEBER 8 Vorwort Bildung ist das, was in den Schulen geschieht - so dachte ich zumindest! PATRICK FARENGA Wie so viele Studenten, die Englisch als Hauptfach gewählt hatten, beab- sichtigte ich nach meinem Hochschulabschluss (Bachelor) Englischpro- fessor zu werden. Weil ich einen Großteil meiner Jugend damit verbracht habe, in der Schule zu sitzen und einem Lehrer zuzuhören, gefiel mir der Gedanke, dafür bezahlt zu werden, dass nun ich vor Schülern stehen und sprechen würde. Die soziale Routine, die Stundenpläne und das, was ich von meinem Arbeitsplatz zu erwarten hatte, waren mir nur allzu vertraut. Ich las und schrieb gern, so dass ich mir gut vorstellen konnte, als Erwachsener die Aufgaben eines Englischprofessors zu erfüllen. Nach meiner Englisch-Magisterprüfung stellte ich jedoch fest, dass ich nicht aus dem Holz geschnitzt war, aus dem man Doktoren machte. Ich wollte einfach Lehrer werden, doch in den 80er Jahren wurden keine eingestellt. Als ich nach Massachusetts zog, wo meine zukünftige Frau lebte, war die Lehrerschwemme dort so groß, dass es sogar zu Entlassun- gen kam. Für meinen Lebensunterhalt nahm ich viele Jobs an, während ich nach Mitteln und Wegen suchte, um mit dem Lehrberuf in Verbindung zu bleiben sowie Kontakte und Fähigkeiten zu erweitern. Als ich in einem Bostoner Buchladen Assistent der Geschäftsleitung war, arbeitete ich ehren- amtlich für die Holt Associates, der von John Holt gegründeten Firma und Verlagsgesellschaft zur Beratung in Erziehungsfragen. Vor allem wollte ich den Umgang mit Textverarbeitungsprogrammen lernen und die War- tezeit überbrücken, bis sich für mich eine Lehrerstelle finden würde. Je besser ich jedoch die Organisation kennenlernte, umso mehr lernte ich über Ausbildung, Homeschooling und schließlich über mich selbst. 9 John hatte seit 1977 die Zeitschrift Growing Without Schooling herausgebracht sowie Bücher und Informationsmaterial an all jene ver- kauft, die sich für Homeschooling interessierten. Innerhalb dieses klei- nen, wachsenden Unternehmens boten sich mir verschiedene Möglich- keiten, voranzukommen. Aus dem ehrenamtlichen Helfer wurde ein bezahlter Angestellter, als der ich bis heute im Unternehmen tätig bin. Ublicherweise leistete ich meine Freiwilligenarbeit abends, wenn John Holt in seinem Biiro war, um zu schreiben, zu lesen, oder auf ein Konzert zu warten. Musik war Johns große Leidenschaft, und wenn er in seiner Freizeit keine Konzertaufnahmen hörte, dann ging er ins Konzert oder spielte selbst Cello. Eines Abends kam John aus seinem Büro und verwickelte mich in ein Gespräch. Als Junggeselle Ende fünfzig trug er seine Brille locker auf der Nase. Sein weißes Haar bildete einen wusche- ligen Ring rund um die kahle Stelle auf seinem Kopf, und aus der Brust- tasche seines Hemdes ragten mehrere Stifte und ein kleiner Notizblock. »Woher kommst du, Pat?«, erkundigte er sich mit freundlicher, bedich- tiger Stimme. »Aus New York. Ich bin hierher gezogen, um bei meiner Freundin zu sein. « »Ich komme auch aus New York ...« Und bevor ich mich versah, plauderten wir. Schließlich erkundigte er sich auch nach meiner Arbeit. »Ich arbeite in einem Buchladen. Aber ich versuche, dort wegzu- kommen, um andere Dinge zu tun. Deshalb bin ich auch hier, um Text- verarbeitung zu erlernen.« »Und was willst du wirklich tun?« »Ich will als Lehrer arbeiten.« »Wirklich? Warum?«, fragte John. »Weil 1ch es liebe, mit Kindern zu arbeiten.« John zog schnell die Brille von der Nase und sah mich unverwandt an. »Pat, du 1rrst dich. Wenn du Lehrer wirst, wirst du nicht mit Kindern arbeiten, sondern an Kindern.« Ich war sprachlos. Wie konnte er nur so etwas über einen so wichti- gen Beruf sagen? »Wie meinen Sie das?«, fragte ich. »Hast du je eines meiner Bücher gelesen?« »Nein.« »Nun, es macht nichts, wenn du keines gelesen hast. Aber wenn du eines liest, wirst du erkennen, dass das eines meiner Hauptthemen ist. Ich habe im Verlauf vieler Jahre meine eigenen Ideen entwickelt, will mit 10 dir aber jetzt nicht die Grundlagen erörtern. Aber wenn du eines meiner Bücher gelesen hast, bin ich gerne bereit, mit dir darüber zu diskutieren, wenn du willst.« Zum Glück wendete sich das Gespräch anderem zu. Als ich an die- sem Abend aus dem Büro auf die Boylston Street hinaus trat, beschloss ich, eines von Johns Büchern zu lesen. Es war 1981, und die erste Ausgabe von Johns neuestem Buch Teach Your Own (Bildung in Freiheit) war eben in unserem Büro eingetroffen; ein guter Anfang für mich, wie mir schien. Augenblicklich ging ich in Opposition. Holts Vorstellungen, wie ganz normale Eltern ihre Kinder unterstützen können, zu Hause zumindest ebenso gut zu lernen wie in der Schule - wenn nicht sogar besser, erschienen mir für die meisten Familien nicht durchführbar. Ich konnte mich nicht von meiner grund- legenden Meinung lösen, dass die Schule der wichtigste Ort in meinem Leben sei: Die Schule ist der Ort, an dem wir alle lernen; eine Ausbildung ist eine teure Investition, die beträchtliche Dividenden abwirft, wie jede gute Investition; ohne Hochschule und gute Zensuren bekommt man keinen guten Job. Als ich mich zum ersten Mal mit Teach Your Own beschäftigte, gelang es mir nicht, es zu Ende zu lesen. Als ich Peg Dur- kee, Holts Büroleiterin, mein Dilemma schilderte, fand sie - wie immer - die richtige Antwort: »Mein Lieblingsbuch ist sein erstes Buch Aus schlauen Kindern werden Schüler ... Von dem, was in der Schule verlernt wird. Lies das mal.« Sofort konnte ich mich damit identifizieren, wie John in diesem Buch die Schule beschrieb, und zwar nicht aus der Perspektive des Leh- rers, sondern - und dies war besonders wichtig - aus der Perspektive eines Kindes. Aus schlauen Kindern werden Schüler ... Von dem, was in der Schule verlernt wird stimmte mit meinen eigenen Erfahrungen und Gefühlen als Schüler überein und spiegelte auch meine derzeitige Situa- tion als Mochtegern-Lehrer wider. Ohne zahllose Zitate und akademische Titel erklärte John auf einleuchtende Weise, was er beobachtet hatte und wie er mit dieser Information umging, um Kindern beim Lernen zu hel- fen; seine Erfahrungen ergaben für mich einen Sinn. John ging in seinen Theorien fast immer von einem bestimmten Fall aus und verallgemei- nerte dann, während ich aus meiner schulischen Erfahrung und vor allem während meiner akademischen Ausbildung gelernt hatte, allgemeine Theo- rien auf eine spezifische Aufgabe anzuwenden. Johns Schriften präsen- tierten mir jedoch die Einzelheiten und Prozesse in der Arbeit mit Kin- dern auf lebhafte Weise und vermittelten mir auch ein Gefühl für ihre 11 Wichtigkeit. Umfassende Theorien und institutionelle Betrachtungen wer- den zwar berücksichtigt, verdecken aber nicht seine scharfsichtigen, unmittelbaren Beobachtungen über das Lernverhalten von Kindern. Seine Texte über Kinder und Schule überraschten mich auf vielfältige Weise. Rasch befreite er mich von dem in meinem Geist eingebrannten Irrtum, dass »Schule« dasselbe sei wie »Bildung«. Bald schon kam ich fast täglich mit John ins Gespräch. Rückblickend erkenne ich, wie geduldig er mit vielen meiner fragwürdigen Einwürfe und Kommentare zu seiner Arbeit umging. Auch wenn ich nicht alles verstand, was er damals schrieb oder sagte, und sicher nicht allem zustimmte, blieb ich nach diesen Gesprächen immer mit dem unsicheren Gefühl zurück, dass die Zeit in der Schule vielleicht doch nicht die beste Art und Weise gewesen war, meine Kindheit und Jugend zu verbringen. Je mehr ich von John darüber erfuhr, wie Schulunterricht tatsächlich funktionierte, wobei er mir dazu auch andere Lehrer und Autoren vor- stellte, desto naiver erschien mir mein Ziel, selbst Lehrer zu werden, um Kindern auf interessante Weise das Lernen schmackhaft zu machen. Johns Uberzeugung, dass sich die meisten Eltern nicht fiir weniger Druck auf die Kinder in den Schulen einsetzten, sondern im Gegenteil sogar fur mehr Druck, erschien mir zunächst ein wenig exzentrisch. Im Verlauf der Zeit änderte sich jedoch meine Meinung, vor allem 1m Hinblick auf die starren Standards und das Schul- und Priifungswesen dieses neuen Jahr- tausends, bei dem so viel auf dem Spiel zu stehen scheint. Allmählich freute ich mich darauf; ins Büro zu kommen, wenn John auch da war, aber da er ein sehr aktiver Autor war und viele Vorträge hielt, war er jeden Monat mindestens eine Woche unterwegs. Gliicklicher- weise konnte ich auch mit meinen Kollegen im Büro sprechen, die über Bildung ähnlich dachten wie John, sowie mit Homeschoolern und ande- ren, die Holt Associates besuchten. Allmählich gelangte ich zu der Ansicht, dass Homeschooling eine gute Bildungsalternative war. Doch auch nach zwei Jahren bei Holt Associates zweifelten meine Frau und ich daran, ob wir uns bei unseren zukünftigen Kindern fiir Homeschoo- ling entscheiden würden. Schließlich waren es keine Homeschooling-Versammlung, kein Buch und auch keine Studie, die meine Frau und mich überzeugten, Home- schooling zu versuchen, sondern das immer häufigere Zusammentreffen mit Homeschooling-Eltern, deren Kinder sich ganz offensichtlich kör- perlich, seelisch und geistig gut entwickelten. Einige Eltern vertraten Aus- bildungsmethoden - etwa strikte schulähnliche Stundenpläne - die sich 12 von unseren Ansichten klar unterschieden. Andere Familien wiederum verwarfen jeden Gedanken an Schule vollständig. Sie alle wiesen jedoch eine Gemeinsamkeit auf: Ihre Kinder fühlten sich in Gegenwart ihrer Eltern und anderer Erwachsener sichtlich wohl. Der Umgang mit vielen Homeschooling-Kindern machte sogar großen Spaß. Sie waren gute Gesprächspartner und zeigten Interesse für eine breite Palette an Themen und Fähigkeiten. Das vom konservativen Schulsystem gestützte Klischee, dass Home- schooling-Kinder Eigenbrötler und Außenseiter seien, stimmte keineswegs mit unseren Erfahrungen überein. Als lernende Homeschooler erinnerten wir uns auch an unsere eigenen Erfahrungen und erkannten, dass Johns Ansichten stimmten: Vieles von dem, was wir in unserem Erwachsenen- leben anwendeten, hatte nichts mit unserer eigentlichen Schulausbildung zu tun. Freunde - einschließlich Lehrer - und außerschulische Aktiviti- ten hatten bei uns einen wesentlich dauerhafteren Eindruck hinterlassen, als in langen Nächten verfasste Aufsätze und in letzter Minute ange- häuftes Mathematikwissen. Durch die Arbeit bei Holt Associates stellte ich meine Ausbildung und den Wert meines schulischen Wissens in einer Art und Weise grundsätzlich in Frage, wie ich es nie zuvor für möglich gehalten hätte. Nur ein Beispiel: Warum bestehen Eltern und Ausbilder darauf, dass unsere Kinder stundenlang freudlos Dinge lernen, welche die meisten Erwachsenen nie anwenden? Heute hore ich dieselben pädagogischen Rechtfertigungen wie damals, als ich diese Frage als naseweiser Privat- schüler stellte: »Damit aus dir ein vielseitig gebildeter Mensch wird«; »die Auseinandersetzung mit Mathematik (Algebra, Trigonometrie, Latein, Chemie oder mit jedem anderen beliebigen Gegenstand) wird dir helfen, deine Denkfähigkeit zu schulen.« Warum sollten Aktivitäten wie Musi- zieren, Sport treiben, Malen, Poesie verfassen, Tanz, Bühnenspiel oder Lesen die Disziplin und das Denkvermögen weniger fördern als die erzwungene Teilnahme an Kursen und Hausarbeiten, für die Kinder wenig Neigung oder gar Freude aufbringen und auch gar keine Verwendung haben? Selbstverständlich bin ich dafür, dass man Kindern hilft, ihre Denkvermdgen zu schulen - und nicht nur Kindern, sondern allen Men- schen - aber muss der Lernprozess so freudlos und für unser Alltagsleben oft so nutzlos sein? Fördern nicht auch nützliche und freudvolle Tätig- keiten unser Denkvermogen? Wenn ich Vorträge darüber halte, dass wir unsere traditionellen Lehrpläne aufgeben sollen, werde ich üblicherweise von einem Zwi- 13 schenruf folgenden Inhalts unterbrochen: »Aber man muss sich doch mit Trigonometrie auskennen! Um sich in unserer heutigen komplizier- ten technologischen Gesellschaft behaupten zu können, muss man das wissen.« Unsere Gesellschaft ist tatsächlich kompliziert und immer stär- ker geprägt von technologischen Einflüssen, aber viele von uns werden sich eingestehen müssen, dass weder der Schulunterricht in Trigonome- trie noch Mathematik insgesamt eine Voraussetzung dafür waren, dass sie als Erwachsene lernten, mit einem Computer umzugehen. Die über- wiegende Mehrzahl jener Erwachsenen, die in den 80er Jahren lernten, mit einem Computer zu arbeiten, hat dafür keinen wie auch immer gear- teten Kurs besucht. Wenn wir etwas wissen müssen, gibt es unzählige Arten, uns dieses Wissen anzueignen; ein Kurs mit sorgfältig aufgebau- ten Lektionen ist nur eine davon. Heute arbeite ich mit Tabellenkalku- lation, entwerfe Seitenlayouts, retouchiere Fotos, schreibe E-Mails, ver- wende das Internet usw. ... Und alle diese Fähigkeiten habe ich im direk- ten Umgang mit diesen Programmen erlernt, nicht etwa durch Kurse in Algebra, zeichnerischer Darstellung oder anderen Fächern auf der High School oder dem College. Meine Frau Day und ich nahmen Johns Kritik an der traditionellen Ausbildung ernst und stellten uns und unseren Freunden Fragen wie: »Warum zwingt man Schiiler, Dinge zu erlernen, die sie vermutlich nie anwenden werden?« »Riskieren Homeschooling-Eltern die Zukunft ihrer Kinder, be- schneiden sie thre Fähigkeiten und Möglichkeiten, gute Jobs zu finden, anstindige Menschen kennenzulernen, bei Cocktailpartys literarische Anspielungen zu begreifen, indem sie ihre Kinder nicht so ausbilden las- sen, wie wir in privaten oder öffentlichen Schulen ausgebildet wurden?« »Miissen wir wie Schulen agieren und unsere Kinder dazu zwingen, auf dieselbe Art zu lernen, wie wir es in der Schule getan haben, damit sie als Erwachsene erfolgreich sind?« In unserer Altersgruppe, den Zwanzig- bis Dreißigjährigen, disku- tierten Day und ich intensiv über derartige Fragen, was mitunter bei Fami- lienfeiern zu erregten Auseinandersetzungen über Ausbildungsfragen führte (ein Fehler, den wir nach Möglichkeit nicht wiederholen werden). Welche Bedenken oder Einwände wir auch immer gegen Pflichtun- terricht vorbrachten - und mitunter stimmten alle Beteiligten darin sogar überein -, so lautete die Schlussfolgerung doch oft, Kinder müssten zum Lernen gezwungen werden. Das sei einfach ein notwendiges Ubel. »Wir müssen die Aufmerksamkeit und das Handeln der Kinder unter Kontrolle 14 halten«, lautete dieses Argument, »ansonsten verbringen sie die gesamte Zeit damit zu spielen, fernzusehen oder in Schwierigkeiten zu geraten. Außerdem können sie als Erwachsene auch nicht immer tun, wonach ihnen der Sinn steht. Deshalb ist es für uns alle besser, dass sie so früh wie möglich lernen, sich einer Autorität zu beugen und in unserem System klarzukommen.« Um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, müssen wir selbstverständlich hin und wieder Dinge tun, die uns nicht gefallen. Bevor wir heirateten, arbeitete Day ein Jahr lang für einen selbstherrlichen Theaterregisseur, um Arbeitserfahrung am Theater zu sammeln, was ihr größter Wunsch gewesen war. In der Schule hingegen sind wir oft gezwungen, uner- wünschte Dinge um ihrer selbst willen zu tun: Ist das wirklich eine sinn- volle Art und Weise, seine Zeit zu verbringen? Obwohl Day und ich während unserer gesamten Jugend auf angenehme Erfahrungen in priva- ten und öffentlichen Schulen zurückblicken können, erinnern wir uns immer noch an die Wartezeiten, bis man uns erlaubte weiterzumachen, nachdem wir mit unserer Arbeit fertig waren, an die Schulstunden, die endeten, bevor wir unsere Aufgaben abschließen konnten, und an die frustrierenden Stundenpläne, die wir zu erfüllen hatten und deren Sinn wir kaum verstanden. Allmählich kamen Day und ich zu der Ansicht, dass jene Homeschooling-Eltern, die ihren Kindern gestatteten, Astro- nomie zu studieren oder stundenlang mit Puppen zu spielen, damit eine bessere - oder zumindest interessantere - Art und Weise gefunden hatten, sich mit etwas auseinanderzusetzen, als es in der Schule möglich gewesen wäre. Während wir uns immer wieder mit Homeschooling-Familien trafen und darüber nachdachten, wie wir unsere noch ungeborenen Kinder auf- wachsen lassen wollten, erkannten wir, dass es viele Möglichkeiten gab, Kinder zu erziehen, und dass neben dem traditionellen Modell von »Setz dich, sei still und tu, was ich dir sage« auch zahlreiche andere Lehr- und Lernmethoden existierten. Geduldige gute Beobachter können einem jungen Menschen helfen, gut zu lernen, auch ohne sich auf die nur allzu weit verbreiteten Lehr- methoden von Angst, Erniedrigung und Zwang zu stützen. John schickte seinen Freunden oft Bücher - oder verkaufte sie über seinen Versandka- talog John Holt’s Book and Music Store - die sich mit Schulen, Lehrern, Eltern und Kindern befassten, die auf unkonventionelle Weise lernten. Diese Bücher dienen nicht nur als Beweis fiir unsere Jugend, dass es Alter- nativen zur konventionellen Schule gibt, sondern zeigen auch auf, dass jene Werte, die John am Konzept des Homeschoolings so schitzte und 15 förderte, auch bei anderen Personen und an anderen Orten zu finden sind oder auf diese übertragen werden können. Unsere natürliche Fähigkeit, durch Erfahrung und Vorbilder zu ler- nen, ist so mächtig, dass wir praktisch darauf programmiert sind, genauso zu lehren, wie wir in der Schule unterrichtet wurden. Wir alle haben so viel Zeit in der Schule verbracht, dass es uns schwer fällt, uns vorzustel- len, dass es in unserer heutigen Gesellschaft auch andere Möglichkeiten gibt, zu leben und zu lernen. Deshalb fällt es uns leicht, das konventio- nelle Schulsystem zu Hause zu kopieren. Immerhin wissen wir aus eige- ner Erfahrung als Schüler, und vielleicht sogar als Lehrer, wie es in der Schule abläuft, so dass wir, wenn wir uns mit unseren Kindern für Home- schooling entscheiden, alles mit dem Wort »Schule« verbinden. Als Ant- wort auf die übliche Definition des Wortes »Schule« erfand John das Wort »Unschooling«, um zu beschreiben, wie wir Kindern helfen können zu ler- nen, ohne die Konzepte und Praktiken zu kopieren, nach denen wir in der Schule lernten. So kann man beispielsweise die Trainingseinheiten von Vereins- football unschoolen. Eine Sportart, die mir bis dahin als betont schmerz- voll und wettbewerbsorientiert erschien, wo es um den Sieg um jeden Preis geht. Doch dann las ich den folgenden Artikel über John Gagliiardii, den Cheftrainer des Football-Teams der St. John’s University in Min- nesota: Seine Ergebnisse wären schon außergewöhnlich, wenn er konventionelles Football-Wissen anwendete, aber Gagliardi setzt sich praktisch über jedes Lehrbuch hinweg. Im Grunde besitzt St. John’s keinen Lehrplan für dieses Spiel, wie er erklärt, sondern nur ein einziges Blatt, auf dem die Aufgaben auf- gelistet sind. | »Die Jungs lernen alles auf dem Feld«, sagt er. (...) »Der gesamte Papier- kram wirkt auf mich, als wolle man einem Kind beschreiben, wie es das Rad- fahren erlernt. Das lässt sich zwar niederschreiben, aber das Kind wird es nicht verstehen. Es muss einfach auf das Fahrrad steigen, und es wieder und wieder probieren.« Gagliardi verzichtet nicht nur auf Lehrbücher, sondern auch noch auf zahl- reiche andere Standardmethoden im Football ... Einige Zitate aus Gagliardis »Philosophie des Sieges durch klare Absage«: - Kein Spieler wird ausgeschlossen. - Niemand ist zu klein. | - Keine Beurteilung von Spielaufzeichnungen. - Keine Poster in den Umkleideraumen. 16 - Keine Strafrunden. - Keine Worte wie »niedermachen«, »auslöschen« usw. - Kein Training an Sonntagen und Montagen. - Keine ausgehängte Statistik. - Kein unfaires Spiel. - Kein Training bei Regen, Schlamm oder heftigem Wind. - Keine Zeitnahme beim Training über 40 Yards, eine Meile usw.” Dies ist ein Beispiel dafür, wie man Thesen infrage stellt und großartige Ergebnisse erzielt, ohne den konventionellen Methoden zu folgen. Es zeigt jedoch auch, dass jene Elemente, die für den Erfolg verantwortlich sind, oft in starkem Gegensatz zur allgemeinen Lehre stehen. Im Jahr 2002 war Gagliardi der nach Siegen erfolgreichste aktive Coach im Col- lege Football und der zweiterfolgreichste in der ewigen Siegerliste der College-Football-Geschichte. Und dies erreichte er, indem er das Gegen- teil dessen tat, was alle übrigen Football-Trainer tun. Indem er die Stan- dardmethoden und anerkannten Praktiken nicht anwendete und auf die typische Spielermotivation nach dem Motto »schlagen oder geschlagen werden« verzichtete, zeigte uns Trainer Gagliardi neue Wege, mit jungen Sportlern umzugehen. Diese Methoden sind wesentlich interessanter als jene des immer häufiger anzutreffenden Trainertyps »Kleiner Napoleon«, der sonst überall im Jugendsport anzutreffen ist. Monty Roberts hatte als Jugendlicher so viel Gewalt gegen Tiere und Menschen erlebt, dass er nach neuen Methoden suchte, um Pferde zu trainieren und mit Behinderten und Kindern zu arbeiten. Er gründete seine Methoden auf Beobachtung, Geduld und Kommunikation statt auf herkömmliche, ergebnisorientierte Verfahren mit Zwangsausübung. Besonders seine Erfolge mit schwierigen Pferden sind beeindruckend, und seine Technik des Pferdeflüsterns ist sicherer, humaner und wirkt schneller als die konventionellen Methoden des Zureitens. Roberts kann über seine formelle Schulbildung wenig sagen (»meine Anwesenheitsliste war kurz«), aber wie er erzählt, hatte ihn eine Nonne als Lehrende am meisten beeinflusst: Ich werde mich immer an ihre Aussage erinnern, dass es so etwas wie Lehren gar nicht gibt - es gibt nur das Lernen. Sie glaubte, dass kein Lehrer je einen Schüler etwas lehren könne. Ihre Aufgabe als Lehrkraft bestehe darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem der Schüler lernen kann. Wissen ... darf nieman- dem aufgezwungen werden. Der Geist muss aufnahmebereit, formbar und vor allem wissensdurstig sein. 17 Dieselbe Philosophie wende ich bei der Ausbildung von Pferden an. Das Wort »Lehren« impliziert, dass Wissen injiziert wird. Wie Schwester Agnes Patricia gelangte auch ich zu der Ansicht, dass es so etwas wie »Lehren« gar nicht gibt - es gibt nur das Lernen.“ Was Roberts mit den Pferden machte, wendete Holt bei den Schülern seiner fünften Schulstufe an: Er ermöglichte ihnen das Lernen, ohne ihnen Ausbildung aufzuzwingen. Wie Roberts wurde auch Holts Arbeit seitens der Behörden nicht mit Begeisterung aufgenommen. Einzelne Leh- rer und Eltern betrachteten diese Methode jedoch mit großem Interesse. Holt betonte wieder und wieder, dass er das Unterrichten nicht in einer Ausbildungsstätte erlernt hatte, was er als Vorteil ansah. Auf diese Weise war er nicht erfüllt von den allgemeinen Annahmen und Vorschriften der Bildungstheorie, sondern von hart erworbenen Erkenntnissen über das, was funktionierte - oder nicht funktionierte -, bei seinen Versuchen, Kin- der zu unterrichten. Monty Roberts verbrachte mehrere Wochen in der Wüste, wo er den Wildpferdherden folgte, um durch eingehende Beob- achtung ihre Körpersprache und ihre Verständigungsmechanismen zu erlernen und auszuprobieren, wie sie auf seine Anwesenheit reagierten, wenn er ihre Verhalten kopierte; auf dieselbe Weise beobachtete John die Kinder. Über dieses schwierige Vorgehen schreibt er 1969 an die Harvard Education Review: Alles, was ich über Kinder weiß, lernte ich durch lange, aufmerksame Beob- achtung, und vor allem durch ständige Fehlschläge bei dem Versuch, sie mit mehr oder weniger orthodoxen Lehrmethoden in den Dingen zu unterrichten, die man angeblich lernen muss. Mir scheint, man geht von der Annahme aus - und ich entschuldige mich, wenn ich falsch liege -, dass beim Lernen über diese Welt die Bücher anderer Leute wichtiger seien als die eigene Beobach- tung. Dieser Ansicht widerspreche ich auf das Heftigste. Dies ist nur ein Teil dessen, was ich anderen Lehrern versuche zu verstehen zu geben: dass das, was sie durch direkten Kontakt mit den Kindern und ihre eigenen Beobachtungen erlernen und empfinden, wichtiger und vor allem vertrauenswiirdiger ist, als alles, was sie von Theoretikern erfahren. Ich weiß, dass diese Ansicht ketzerisch ist, aber so sehe ich nun mal die Dinge.” John gelangte zu der Einsicht, dass Eltern seine Rolle im Klassenzimmer ebenso gut ausfüllen könnten wie er selbst, wenn nicht sogar besser. Denn wenn sie die Beziehung zu ihren Kindern sorgfältig aufbauten, würden die Kinder den Eltern zeigen (oder auch jedem anderen geduldigen Erwach- 18 senen, der sich ernsthaft mit ihnen befasst), wie sie am besten lernen. Seine Unterstützung für all jene, die - unabhängig von sozialer Zugehörig- keit und eigener Ausbildung - Homeschooling versuchen, basiert auf seinen eigenen Erfahrungen durch Versuch und Irrtum, indem er beob- achtete, was in der Klasse funktionierte und was nicht. John Holt und andere Erzieher mussten sich jedoch auch von Home- schooling-Eltern die Kritik gefallen lassen, dass sie - wenn sie keine eige- nen Kinder hätten - nicht wiissten, was es bedeutet, jeden Tag vierund- zwanzig Stunden mit den eigenen Kindern zu verbringen. »Wenn er auch nur einen einzigen Tag mit meinen Kindern verbringen würde, würde er seine Meinung ändern!«, lautete die Reaktion vieler Eltern auf Johns Mahnung, auch bei heftigen Gefühlen und Aktionen der Kinder freund- lich, geduldig und verständnisvoll zu bleiben. Doch nichts konnte Johns Einfühlungsvermögen für Kinder und sei- nen Wunsch ins Wanken bringen, dass Eltern ihren Kindern eine zweite, dritte, vierte und weitere Chance geben mögen, akademisch und emo- tional zu lernen. Allerdings gestattete John den Kindern auch nicht, ihre Eltern wie Fußabtreter zu behandeln! Seine Ratschläge über das Leben und Lernen von Kindern basierten nicht nur auf seinen Erfahrungen in Klassenzimmern, denn er begab sich auch bewusst und gerne in Situa- tionen, in denen er Kinder aller Altersklassen beobachten und mit thnen Zeit verbringen konnte. Bei der Planung seiner Vortragsreisen bat er mich, statt im Hotel lieber in Familien übernachten zu können. In seinen Büchern erwähnt er häufig die Kinder seiner Schwestern und Freunde sowie seine eigenen Schüler und die anderer Klassen. Sowohl in der in die- sem Buch oft zitierten Zeitschrift GWS als auch im direkten Kontakt mit Eltern diskutierte er die unterschiedlichsten Themen, die mit Home- schooling in Zusammenhang stehen. In den Anfangsjahren des Home- schoolings wurde John fiir viele eine Art weiser alter Onkel. Ironischerweise war einer der häufigsten Kritikpunkte am Home- schooling, dass nämlich Kinder auf diese Weise nicht genügend soziale Kontakte knüpfen würden, fiir John gerade einer der Hauptgriinde für Homeschooling. Aufgrund seiner Beobachtungen war er der Ansicht, dass Kinder überaus soziale Wesen seien und dass Kontakte innerhalb der engen und erweiterten Familie, der Gemeinschaft usw. den Kindern hil- fen, zu lernen und sich zu entwickeln. Ohne eine Gemeinschaft von Spre- chenden um das Kind herum, ohne Menschen, die zuhoren, antworten und mit dem Kind sprechen, werde es kein Interesse am Spracherwerb entwickeln. Die Tatsache, dass Kindern in den Schulen die Entwicklung 19 sozialer Fähigkeiten oft verweigert wurde und sie vielfach sogar negative soziale Erfahrungen machten, blieb John nicht verborgen. Lehrer und Erzieher, die Holts Ideen als nicht durchführbar abzutun versuchen, bezeichnen ihn oft als »romantischen Kinderfreund« und ord- nen ihn derselben Kategorie zu wie den berühmten liberalen französi- schen Philosophen Jean-Jacques Rousseau. John wurde gewiss nicht von Rousseau beeinflusst, der der Ansicht war, dass Kinder dann am besten lernen, wenn man sie dem korrumpierenden Einfluss der Erwachsenen- gesellschaft entzieht, und vor allem dem Einfluss ihrer Eltern. Gleichzei- tig war John gegen übertriebene Kinderliebe. Im Kapitel »Leben mit Kin- dern« spricht John in klaren Worten über die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern: Kinder erscheinen mir oft als talentierte Barbaren, die nur allzu gerne zivili- siert werden wollen. Viele liberale Schulen und einige freundliche, wohlmei- nende Eltern leiden unter der Vorstellung, dass in ihren Kindern etwas Wildes, Wertvolles steckt, das sie so lange wie möglich gegen Angriffe aus der realen Welt schützen müssen. Sobald wir uns von dieser Vorstellung befreien, wird unser Leben mit Kindern bedeutend einfacher, und gleichzeitig werden auch die Kinder selbst glücklicher. In letzter Zeit habe ich viele Stunden mit Kleinkin- dern verbracht, die mir den überwältigenden Eindruck vermittelten, dass sie sich nichts inniger wünschen, als dazuzugehören, teilzunehmen und das Rich- tige zu tun - das heißt, genau das zu tun, was wir tun. Wenn ihnen dies nicht immer gelingt, dann nur aus Mangel an Erfahrung, oder weil sie von ihren Gefühlen hinweggerissen werden. Seltsamerweise stehen sich die reaktionidre und die romantisch-liberale Ansicht über Kinder wie die zwei Seiten einer Medaille gegenüber. Die Hard- liner erklären, dass wir alles Übel aus den Kindern herauspriigeln müssen, um ste auf die Welt vorzubereiten. Die romantischen Kinderfreunde erklären, dass wir bei der Vorbereitung auf diese Welt das Gute im Kind größtenteils zer- stören. Während die eine Gruppe behauptet, Kinder seien fehlerhafte Minia- turausgaben von Erwachsenen, behauptet die andere Gruppe, dass Erwachsene tiberdimensionierte fehlerhafte Kinder seien. Beides ist falsch. Aber es gibt tatsächlich Mittel und Wege, wie man Kindern helfen kann, sich zu entwickeln und ihre besten Fähigkeiten zu behalten und auszubauen. Johns ruhige Argumentation half vielen Eltern, Homeschooling auch dann weiterzufithren, wenn sie ihre Kinder als belastend emptanden. Durch sie lernten Eltern, die unterschiedlichen Lehrmethoden und -stile zu begreifen, welche die Kinder anwendeten, sobald sie außerhalb der 20 Schule zu lernen begannen. Darüber hinaus forderte er Eltern auf, sich zu entspannen und die Zeit mit ihren Kindern zu genießen, anstatt die Rolle eines akademischen Organisators zu übernehmen. Als Teach Your Own 1981 erstmals veröffentlicht wurde, war John bereits eine bekannte Persönlichkeit, deren politische und rechtliche Ratschläge gefragt waren. Er wusste, dass öffentliche und private Schulen Macht und Geld auf ihrer Seite hatten; gleichzeitig wusste er, dass Familien und Kinder wesentlich mehr Rechte und Möglichkeiten im Bildungswesen besaßen, als ihnen ' bewusst waren. John riet Eltern, Schwierigkeiten mit Schulbehörden mög- lichst zu vermeiden, und ging sogar so weit, den Umzug in einen freund- licher gesonnenen Schulbezirk vorzuschlagen. Wann immer eine Familie wegen der Behörden in Sorge war, unterstützte John sie mit Gerichtsur- teilen, Geschichten, Analysen und Ratschlägen und zitierte auch oft aus der Originalausgabe von Teach Your Own. Glücklicherweise hat sich das politische Klima 1m Lauf der vergan- genen zwanzig Jahre zugunsten von Homeschooling verindert, so dass Homeschooling heute in allen fünfzig Staaten der USA legal ist, ebenso wie in Kanada, England, Irland, Australien, Frankreich, Spanien, Japan, Skandinavien und vielen anderen Regionen und Ländern. In der Ori- ginalausgabe von Johns Buch stehen noch viele Hinweise auf Schul- behorden, Rechtsentscheidungen und Schulpolitik, die heute überholt sind. Darum wurden sie fiir diese Ausgabe überarbeitet. Einige seiner Kommentare habe ich jedoch auch in dieser Ausgabe beibehalten, sei es als historischer Nachweis, oder weil es sich um besonders raffinierte Rat- schläge handelt. Homeschooling ist nicht bloß ein weiteres Ausbildungssystem; es bietet uns alternative Möglichkeiten zu lehren, zu lernen und am Leben der Familie und der Gemeinschaft teilzunehmen. Zudem zeigt es Wege auf, wie man einen Arbeitsplatz findet oder eine höhere Ausbildung erhält, ohne die standardisierten Pfade der Massenausbildung zu beschrei- ten. Es bietet uns Mittel und Wege, wie wir die Schule zu unserem Nut- zen verwenden können, ohne von ihr benutzt zu werden. Homeschooling bietet uns auch die Möglichkeit, über »Demokratie« und »Individualitat« nachzudenken, ohne die Gefahr der Polarisierung, plötzlich als eigen- brötlerischer Überlebenskünstler oder kollektivistischer Nichtstuer zu gel- ten; es bietet Kindern und Eltern Gelegenheit, in einer Gemeinschaft zu leben und zu lernen, die weit über gemeinsame Hausarbeiten hinausgeht. Wenn Sie dieses Buch lesen, finden Sie heraus, wie das geht! 21 Es grenzt eigentlich an ein Wunder, dass der moderne Lehrbetrieb die heilige Neugier des Forschens noch nicht ganz erdrosselt hat; denn dies delikate Pflänzchen bedarf neben Anregung hauptsächlich der Freiheit, ohne die es unweigerlich verkommt. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass Freude am Schauen und Suchen durch Zwang und Pflichtgefühl gefördert werden könne. Ich denke, dass man selbst einem gesunden Raubtier seine Fressgier wegnehmen könnte, wenn es gelänge, es mit Hilfe der Peitsche fortgesetzt zum Fressen zu zwingen, wenn es keinen Hunger hat, besonders wenn man die unter solchem Zwang verabreichten Speisen entsprechend auswählte. ALBERT EINSTEIN 22 EINFÜHRUNG John Holt Dieses Buch befasst sich mit der Frage, wie wir unsere Kinder selbst unterrichten, oder besser gesagt, wie wir es ihnen ermöglichen kön- nen, außerhalb des Schulsystems zu lernen - zu Hause oder an jedem anderen Ort, oder in jeder anderen Umgebung (je mehr, desto besser), die wir ihnen zur Verfügung stellen können. Teils ist dieses Buch ein Plädoyer für das Lernen außerhalb der Schule, teils ist es ein Bericht über Menschen, die genau das tun, und teils ist es ein Leitfaden für all jene, die Homeschooling betreiben wollen. Viele Ereignisse, von denen einige öffentlicher, andere privater Natur waren, und wieder andere, die sich nur in meinem Kopf abspielten, führten dazu, dass ich dieses Buch schrieb. Alles begann in den späten 50er Jahren, als ich an einer angesehenen Schule Zehnjährige unterrichtete. Damals verbrachte ich auch viel Zeit mit den Babys und Kleinkindern meiner Schwestern und anderer Freunde. Besonders überraschte mich der Unterschied zwischen den Zehnjährigen (die ich sehr mochte) und den Ein- und Zweijährigen. Ungeachtet ihrer wohlhabenden Familien und ihres hohen Intelli- genzquotienten waren die Kinder im Klassenzimmer - bis auf wenige Ausnahmen - ängstlich, befangen, ausweichend und auf Selbst- schutz bedacht. Die Kleinkinder zu Hause hingegen waren kühne Abenteurer. Bald schon wurde mir klar, dass Kinder von Natur aus und von Geburt an überaus neugierig sind auf die sie umgebende Welt, die sie energisch, einfallsreich und fachkundig erforschen, um alles über sie herauszufinden und sie zu meistern. Kurz gesagt sind sie wesent- lich lernbegieriger als die meisten Erwachsenen unter uns und lernen 23 auch tatsächlich wesentlich besser. Babys sind keine untätigen Win- delpakete, sondern wahre Wissenschaftler. Warum machen wir aus unseren Schulen dann nicht ein Umfeld, in dem es Kindern gestat- tet ist und sie dazu ermutigt werden zu lernen, und in dem wir ihnen helfen (wenn sie darum bitten), ihre Umwelt zu erkunden und zu begreifen (in zeitlicher und räumlicher Form), und dies in einer Art und Weise, die sie tatsächlich interessiert? Genau darüber schrieb ich in meinen ersten beiden Büchern Aus schlauen Kindern werden Schüler ... Von dem, was in der Schule verlernt wird (1964) und Wie kleine Kinder schlau werden. Selbständiges Lernen im Alltag (1966). Diese wurden schon von einem breiten Publikum gelesen und in viele Sprachen übersetzt. Gemeinsam mit Gesinnungsgenossen hielt ich schon bald unzäh- lige Vorträge, war Gast in verschiedenen TV-Talkshows usw. Wie es schien, waren viele Erzieher, Eltern und große Teile des Publikums begeistert von der Idee, Schulen zu einem Ort zu machen, in dem Kinder unabhängig und selbstbestimmt lernen. Ich wurde sogar auf- gefordert, an der Harvard Graduate School of Education einen Kurs über studentisches Lernen zu halten. Es hatte den Anschein, als würden derartige Veränderungen innerhalb weniger Jahre an vie- len Schulen stattfinden und bald sogar an der Mehrzahl der Schu- len umgesetzt. Wenn mir Eltern erzählten, sie seien mit den Schulen ihrer Kin- der unzufrieden - und das waren viele, forderte ich sie auf, initiativ zu werden und Versammlungen abzuhalten, öffentliche Unterstüt- zung für Schulreformen zu organisieren, die Schulaufsichtsgremien unter Druck zu setzen und gegebenenfalls neu zu wählen. An eini- gen wenigen Orten handelten die Eltern auch nach diesen Rat- schlägen. Zunächst stellte ich das System der Pflichtschule gar nicht in Frage. Ab etwa 1968 gelangte ich jedoch zu der Ansicht, dass jene Veränderungen, die meiner Meinung nach an den Schulen stattfinden sollten, vor allem die Beziehung der Lehrer zu den Schülern betra- fen und so lange nicht greifen konnten, solange die Schulen als Pflichtschulen geführt wurden. Zu diesem Thema schrieb ich den Artikel »Not So Golden Rule Days«, der zunächst im Center Magazine erschien, der Zeitschrift des Center for the Study of Democratic Insti- tutions, und später in meinem dritten Buch 7he Underachieving School. Da das Pflichtschulgesetz die Lehrer dazu anhält, Polizei- 24 aufgaben zu übernehmen, und sie dadurch daran hindert, einer ech- ten Lehrtätigkeit nachzugehen, wäre es sogar in ihrem eigenen Inter- esse sowie dem der Eltern und Kinder, dieses Gesetz abzuschaffen oder zumindest weitgehend zu modifizieren. In diesem Artikel schlug ich mehrere politische Schritte und Etappen vor, in denen dies zu bewerkstelligen wäre. Auf diese Weise arbeiteten viele von uns mit großem Engage- ment, Begeisterung und Vertrauen fur eine Schulreform. Wie all jene, die sich für Veränderung einsetzen, sahen auch wir jedes noch so kleine Anzeichen einer Veränderung als weiteren Beweis dafür, dass der Wandel kommen würde. Wir hatten noch nicht begriffen, dass in unserer heutigen Welt der Massenmedien Ideen aufkommen und wieder verschwinden wie jeder andere Modetrend in der Textilindu- strie. Eine Zeit lang war das Thema Schulreform in Mode. Allerdings hatten wir damals noch keine Möglichkeit zu erkennen, dass es tatsächlich nur eine Modeerscheinung war. Es klärt sich immer erst später, was nur ein Modetrend war und was bleibende Wirkung gezeigt hat. Doch schon damals gab es gewisse Anzeichen dafür. In Min- neapolis, einer liberalen Stadt in einem liberalen Staat, war ich als einer von mehreren Rednern eingeladen worden, auf einer bedeu- tenden Konferenz vor etwa 700 Lehrern aus Minnesota zu spre- chen. In der Fragerunde danach, die zunächst sehr konstruktiv ver- lief, meldete sich schließlich eine beleibte Frau mit dünnen, zusam- mengepressten Lippen, herabhängenden Mundwinkeln und bar- scher, verärgerter Stimme zu Wort: »Und was machen Sie mit den Kindern, die schlicht und einfach stinkfaul sind?« Das gesamte Publikum applaudierte. Ich war überrascht und schockiert. Als der Applaus verebbt war, fand ich eine treffende Antwort und die Ver- sammlung kehrte wieder zu ihrer anfänglichen Wohlgesonnenheit zurück. Später verdrängte ich die unangenehme Erinnerung an diese Begebenheit. Ich wollte nicht wahr haben, was die schwei- gende Mehrheit einen Augenblick lang deutlich zum Ausdruck gebracht hatte: »Kinder sind kleine Nichtsnutze.« Auf meinen Reisen wurde ich oft in Schulen und Klassen ein- geladen, wo mir Menschen verkündeten: »Wir haben Ihre großartigen Bücher gelesen und machen alles, was Sie darin beschreiben.« Meis- tens taten sie auch genau das, was sie sagten, aber nicht so, wie sie es meinten - denn sie taten all die falschen, schädlichen Dinge, die 25 ich in den Büchern beschrieben und einst selbst getan hatte. Die Menschen sprachen mit mir auch begeistert über ihre innovativen Programme. Allerdings wurden diese jeweils aus Bundesmitteln finanziert, und wenn im Lauf der Zeit der Geldfluss versiegte, kamen auch diese Projekte zum Erliegen. So sehr diese Menschen den Ver- lust dieser wundervollen Programme bedauerten, waren sie nicht bereit, eine andere Finanzierung - vielleicht gar mit eigenem Geld - auf die Beine zu stellen. Über diese Möglichkeit wurde nie nach- gedacht. Wenn ich zu Vorträgen in andere Städte reiste, wurde ich am Flughafen immer von zwei oder drei Personen abgeholt, zu denen meist sofort ein Gefühl starker Vertrautheit entstand. Sie hatten meist alle meine Bücher gelesen und sahen vieles genauso wie ich. Wir verbrachten eine angenehme Zeit zusammen, stellten zahlreiche Übereinstimmungen fest und erzählten einander von unseren Erfol- gen, Misserfolgen und Leidensgeschichten. Bis es Zeit für meinen Vortrag wurde, fühlte ich mich bei ihnen meist schon zuhause, so dass ich mit wenigen Ausnahmen den Eindruck hatte, alle Zuhörer wären mit mir auf derselben Linie. Erst allmählich begriff ich, dass jene, die mich zu einem Vortrag eingeladen hatten, meist einer winzigen Minderheit innerhalb ihrer Schule oder Gemeinschaft angehörten, und dass es meine Aufgabe war, in der Öffentlichkeit laut auszusprechen, was die Anderen von ihnen nicht mehr hören wollten oder sie selbst nicht zu sagen wagten. Sie hofften, dass man mir - dem berühmten Autor und Gast in der Today-Show etc. - mehr Aufmerksamkeit schenken würde als ihnen. Zu Beginn der 70er Jahren erkannte ich anhand vieler solcher Erlebnisse langsam und widerstrebend - aber umso klarer -, dass die Bewegung für Schulreform größtenteils nur eine Modeerschei- nung und eine Illusion war. Nur wenige Menschen innerhalb und außerhalb des Schulwesens waren bereit, sich für mehr Freiheit, Wahlmöglichkeiten und Selbstbestimmung von Kindern einzusetzen oder sie auch nur zu tolerieren. Von den wenigen aktiven Befürwor- tern handelten die meisten nicht, weil sie wirklich glaubten, dass Kin- der tatsächlich im Stande wären, die Welt zu erkunden, und ihren Fähigkeiten vertrauten, sondern weil sie vermuteten, dass dies eine kluge Methode sei, die Kinder durch ein wenig Pseudofreiheit (in alten Klamotten herumzulaufen, zu schreien, die Wände zu bema- len etc.) dazu zu bewegen, genau das zu tun, was die Schule von 26 ihnen wollte: den üblichen Schulstoff zu schlucken, auf ein gutes Col- lege zu kommen usw. Die zugestandene Freiheit war somit keine wirkliche, sondern nur eine Mogelpackung, ein »Motivationsinstru- ment«. Als diese Methode nicht rasch genug zu den erwünschten Ergebnissen führte, gaben die Pädagogen sie ohne einen weiteren Gedanken und ohne jegliches Bedauern wieder auf. Gleichzeitig entdeckte ich immer mehr Hinweise, dass die meis- ten Erwachsenen den meisten Kindern misstrauten und sie nicht mochten. Das betraf auch die eigenen Kinder, häufig sogar ganz besonders diese. Über diesen Grund sprach ich in meinen Büchern Zum Teufel mit der Kindheit und Instead of Education. Menschen, die ein mühseliges, langweiliges, schmerzliches und bedeutungslo- ses Leben führen - die also leiden -, neigen oft zur Ablehnung jener, die weniger leiden als sie, und werden diese darum leiden lassen, wenn sie dazu Gelegenheit bekommen. Menschen, die das Gefühl haben, angekettet zu sein, ohne Hoffnung, diese Ketten je abwerfen zu können, wollen, dass auch alle anderen Ketten tragen. Ich erkannte also, dass die überwiegende Mehrzahl der lang- weiligen, stark reglementierten Schulen genau das tat, was sie immer getan hatte und was die meisten Menschen von ihr erwarteten. Diese Schulen bringen den Kindern bei, wie die Wirklichkeit aussieht, dass das Leben kein Zuckerschlecken ist, man still sein und tun muss, was einem gesagt wird. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Diese Menschen denken nicht aus Bosheit so. Der Redakteur einer radi- kalen Zeitung schilderte mitfühlend das Leben in den Kleinstädten lowas. Um Schulden zu bezahlen, müssten dort viele Vollerwerbs- farmer einen Zweitjob in der Fleisch verarbeitenden Industrie anneh- men - »WO sie Lungen schaufeln«, wie er es formulierte. Er meinte weiter: »Die Arbeitsmoral ist diesen Leuten so tief eingebrannt, dass jeder, der keinen beschwerlichen Job ausübt, für sie ein Penner ist.« Und weil sie nicht wollen, dass ihre Kinder Penner werden, kehren sie Zu ihrem alt bewährten Code zurück: Schule darf keine Freude machen. Vielen von ihnen ist das Lesen an sich egal. Sie selbst lesen - wie die meisten Amerikaner - wenig und sehen stattdessen fern. Sie wollen, dass ihre Kinder lernen zu arbeiten. Damit meinen sie aber keine qualitativ hochwertige und befriedigende Arbeit, die sie gerne tun, denn auch sie haben keine derartige Arbeit und haben auch nie eine solche erwartet. Etwas Derartiges würden sie gar nicht als 27 »Arbeit« bezeichnen. Sie wollen, dass ihre Kinder, wenn die Zeit gekommen ist, willig und bereit sind, dieselben beschwerlichen Ganz- tagsjobs auszuüben wie ihre Eltern. Und darauf werden sie am besten vorbereitet, indem die Schule so weit wie möglich dieser beschwerlichen Arbeit gleicht. Selbstverständlich würden sie es gerne sehen, wenn ihre Kin- der auf ein »gutes« College gingen, Rechtsanwälte, Ärzte, Manager oder ein Teil jener Welt des Reichtums und der Macht würden, die sie jeden Tag im Fernsehen sehen. Aber das ist so wahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Sie hoffen zwar darauf - ihre einzige Hoffnung -, können aber nicht darauf zählen. Bis ihre Kinder die zweite oder dritte Schulstufe beenden, wissen die meisten Eltern ohnehin, dass sie nicht das große Los ziehen werden. Also bleibt ihnen nur der mühevolle Ganztagsjob. Die Schulen sind nun einmal dazu da, die Kinder - wie schon immer - auf dieses Leben vorzu- bereiten. Erst neulich sprang mir diese Wahrheit wieder ins Gesicht: Ich fuhr mit dem Taxi zum Flughafen und kam mit dem Fahrer, einem fröhlichen, freundlichen Mann, ins Gespräch. Er fragte mich, wohin ich reise und was ich beruflich tue. Ich antwortete, dass ich Bücher über Kinder, Schulen und Ausbildung schreibe und auch eine kleine Zeitschrift herausbringe über Menschen, die ihre Kinder zu Hause unterrichten. Er meinte, dass er dies für keine gute Idee halte und fuhr fort, über Schulen zu sprechen und was an ihnen falsch sei. Nachdem ich am Flughafen angekommen war, notierte ich alle seine Äußerungen so genau wie möglich. Die hier zitierten Bruchstücke ergeben ein ziemlich genaues Bild des Ganzen. Zu Beginn unseres Gesprächs sagte er: Für mich sieht es so aus, als würden heute die Schüler die Lehrer herum- dirigieren, anstatt umgekehrt ... Als ich noch ein Kind war, hätte ich eine Ohrfeige bekommen, wenn ich dem Lehrer widersprochen hätte (er lachte). Dann hätte ich nur noch auf Gottes Hilfe gehofft, dass er meinem Vater nichts davon erzählt. In schriftlicher Form lässt sich kaum zum Ausdruck bringen, mit wie viel Zustimmung und sogar Freude er dies sagte. Ich treffe sel- ten Menschen, die so viel Vertrauen in Gewalt als Problemlöser setzen. Und wenn ich einen dieser Menschen treffe, versetzen sie mich in Angst und Schrecken. Während ich in dem Taxi saß, dachte 28 ich nur: »In was bin ich da hineingeraten?« Während der Fahrt sprach ich wenig und versuchte nur ein oder zwei Mal vergeblich, das Thema zu wechseln. Zum Schluss schwieg ich einfach, während er das Gespräch allein weiterführte und dabei immer wütender wurde. Aber als wir den Flughafen erreichten, verab- schiedete er sich äußerst freundlich von mir und wünschte mir noch einen guten Flug. Beim Weggehen sah ich ihn mir nochmals genau an. In der Stadt begegnen mir oft Gesichter, die wütend, bru- tal oder grausam aussehen. Aber auf seinem Gesicht war nichts davon zu erkennen. Das oben zitierte »Gnade Gott meinen Kindern, wenn eines von ihnen je einem Lehrer widersprochen hätte« stieß er mit solcher Grim- migkeit hervor, dass es mir die Sprache verschlug. Heute frage ich mich, was er getan hätte, wenn dieser Fall tatsächlich eingetreten wäre und ob er seine Drohung tatsächlich einmal wahr gemacht hätte, wenn eines seiner Kinder behauptet hätte, von einem Lehrer ungerecht behandelt worden zu sein. Vermutlich hätte er ihm gesagt, dass es auf Gerechtigkeit verzichten müsse, denn immerhin sei der Lehrer der Boss und das Kind habe zu gehorchen. Dieser Gedanke erinnert an eine Szene aus Frederick Wisemans Film High School, in der ein Schüler dem stellvertretenden Direktor widerspricht. Der Schüler ist geübt im Umgang mit Worten und stammt offensichtlich aus guten Verhältnissen. Er beharrt unnach- giebig darauf, nicht getan zu haben, wessen man ihn beschuldigt, weshalb er auch nicht bestraft werden dürfe. Der stellvertretende Direktor, ein hochgewachsener ehemaliger Sportler, der vermutlich aus armen Verhältnissen stammte, erklärt dem Schüler ebenso unnachgiebig, dass es egal sei, ob er die Tat begangen habe oder nicht; denn die verantwortlichen Personen hätten entschieden, dass er sie begangen habe. Deshalb solle er die Strafe annehmen »wie ein Manne, als ob sich nur Heulsusen und Unruhestifter über Unge- rechtigkeiten beschwerten. Theoretische Betrachtungen über Wahr- heit oder Gerechtigkeit seien überflüssig. In der wirklichen Welt hatte ihn die oberste Autoritat fur schuldig erklart, weshalb er bestraft werde und die Strafe zu akzeptieren habe. Etwas später in unserem Gespräch äußerte sich mein Taxi- fahrer bewundernd Uber die katholischen Schulen. Er sagte: Ich kenne einen Mann, der hatte ein paar High-School-Kinder, die etwas wild waren. Deshalb hat er sie auf so eine heilige Schule geschickt. Wenn 29 eines der Kids einem Priester widersprochen hat, bekam es augen- blicklich eine Ohrfeige. Da hat keiner Fragen gestellt. (Dabei lachte er zustimmend.) Keines der allgemein anerkannten Argumente über die Wirkungslo- sigkeit und Destruktivität von Gewalt hätte auch nur den geringsten Eindruck auf diesen Taxifahrer gemacht. Denn im selben Gespräch erzählte er mir, dass jedes seiner sechs Kinder das College besucht, sich das Geld dafür selbst verdient und seinen Abschluss gemacht habe. Eine seiner Töchter habe sogar als Jahrgangsbeste von 170 Schülern eine Zahntechnikerschule abgeschlossen. Einer seiner Söhne versuche, einen Studienplatz für Medizin zu bekommen, was ihm aber noch nicht gelungen sei, da er weder farbig, noch Puertori- caner, noch Mexikaner sei. (Darüber sprach er lange und verbittert.) Auf jeden Fall sei er nur ein Taxifahrer, während seine sechs Kinder als College-Absolventen auf dem Weg in die höheren Gesellschafts- schichten seien. Für ihn war dies Beweis genug, dass seine Drohun- gen und seine Härte funktioniert hatten. Nicht einen einzigen Augen- blick hatte er über die Möglichkeit nachgedacht, dass seine Kinder nicht aus Angst vor seiner Faust, sondern aus Wertschätzung für seine gute Wahl genau das getan haben könnten, was er sich für sie wünschte. Eines möchte ich noch klarstellen. Dieser Vater - wie so viele andere auch - besteht nicht deshalb auf einer harten, grausamen Schule für seine Kinder, weil er selbst grausam ist, sondern weil er daran glaubt, dass die wirkliche Welt nur so funktioniert. Er glaubt, wir könnten Kindern nur durch Härte helfen, ein besseres Leben zu führen, als wir es tun, und in einem guten Job zu arbeiten, anstatt sich als Kellner oder einfacher Taxifahrer durchs Leben zu schlagen. Diese harte Linie verfolgen aber nicht nur Menschen aus der Arbei- terklasse. Folgende Geschichte entstammt einem meiner früheren Bücher. Ein Junge aus einer meiner ersten Klassen der 5. Schulstufe war der Sohn eines leitenden Angestellten in einem großen Unter- nehmen, der zwar nicht extrem reich war, aber ein Einkommen im Bereich der oberen Zehntausend hatte. In den zwei bis drei Jahren, bevor der Junge in meine Klasse kam, hatte er schlechte schulische Leistungen erbracht und war auch durch sein Benehmen in der Schule und zu Hause zum Problem geworden. Man hatte Experten zu Hilfe gerufen - vergeblich. In meiner weniger streng geführten Klasse fand der Junge viele Dinge, die ihn interessierten, wurde Klassen- 30 bester in Schach, steigerte seine schulischen Leistungen - vor allem in Mathematik, seinem verhasstesten Fach - und er besserte sein Verhalten sowohl in der Schule als auch zu Hause. Eines Tages suchte mich seine Mutter nach der Schule auf. Sie sagte mir mit freundlicher Stimme, wie sehr sie und ihr Mann sich über die bes- seren schulischen Leistungen freuten, und um wie viel angenehmer das Leben nun mit ihrem Sohn sei. Sie berichtete auch, dass ihr Sohn meinen Unterricht genieße und dass er oft über all die interessanten Dinge spreche, mit denen er in Kontakt käme. Dann schwieg sie einen Augenblick lang stirnrunzelnd, ehe sie schließlich sagte: »Wir sind doch ein wenig beunruhigt, wie viel Spaß er jetzt in der Schule hat. Immerhin wird er sein ganzes Leben lang Dinge tun müssen, die er nicht mag, und da wäre es besser, wenn er sich schon jetzt daran gewöhnen würde.« Solange solche Eltern in der Mehrheit sind - und dies sind sie in jeder Gesellschaftsschicht - werden sich Schulen kaum so weit in die Richtung verändern, die ich und andere ihnen seit Jahren drin- gend anraten, auch wenn sie es vielleicht wirklich wollen. Diese Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder auch nur in die Nähe von Klassen kom- men, in denen Schüler lernen, was sie am meisten interessiert und was ihnen Zufriedenheit und Freude beschert. Sie wollen, dass ihre Kinder glauben, was mir zahllose Lehrer und Eltern gesagt haben: »Wenn ich nicht gezwungen worden wäre, etwas zu tun, hätte ich gar nichts getan.« Sie wollen gar nicht daran glauben, dass Menschen sich aus Interesse für eine bestimmte Sache anstrengen. Denn die wirkliche Welt funktioniert in ihren Augen nicht auf diese Weise und kann auch nicht dazu bewegt werden. Während ich mir die Frage »Lässt sich das Schulwesen refor- mieren?« immer wieder mit einem Nein beantworten musste, stellte ich mir eine wesentlich tiefer greifende Frage: »Sind Schulen, unab- hängig davon, wie gut organisiert oder geführt sie auch waren, über- haupt notwendig? Sind sie der beste Ort, um etwas zu lernen? Sind sie denn wenigstens ein guter Ort, um zu lernen?« Außer bei Men- schen, die besondere Fähigkeiten erlernen wollen, zweifelte ich mehr und mehr daran. Das meiste von dem, was ich wusste, hatte ich weder in der Schule noch in einer schulähnlichen »Lernumgebung« oder »Lernsituation« gelernt, wie etwa bei Fachtreffen, Workshops oder Seminaren. Und ich vermutete, dass dies auch auf die meisten anderen Menschen zutraf. 31 Im Laufe der Zeit mehrten sich sogar meine Zweifel, was das Wort »Lernen« selbst betraf. Als ich eines Morgens quer durch den Stadtpark von Boston spazierte, stellte ich mir eine große Konferenz in einem Hotel vor, mit Hinweisschildern, Postern und Namensschil- dern für die Teilnehmer. Aber auf dieser Konferenz schienen alle über das Atmen zu sprechen. »Wie atmen Sie heute?« »Bereits viel bes- ser als bisher, aber ich muss mich noch weiter steigern.« - »Haben sie Joe Smith schon gesehen - er atmet wirklich ausgezeichnet.« In all den Versammlungen, Büchern und Diskussionen ging es um besse- res Atmen. Und ich fragte mich, ob ich inmitten all dieser Hinweise auf das Atmen nicht annehmen würde, dass alle Teilnehmer einer derartigen Konferenz krank seien oder zumindest krank waren. Warum sollte man so viel über etwas sprechen und sich darum sor- gen, was jeder gesunde Mensch von Natur aus tut? Könnten wir nicht dasselbe über unsere ewige Sorge um das »Lernen« sagen? Gab es je eine Gesellschaft, die sich so intensiv damit befasste, wie man mehr, besser, früher, länger oder einfacher lerne? Waren nicht alle Gespräche und Sorgen ein weiteres Zeichen dafür, dass etwas mit uns nicht stimmte? Wendeten kraftvolle, gesunde, aktive, kreative und erfindungsreiche Gesellschaften - wie etwa im Griechenland von Perikles, in England zur Zeit von Elisabeth, in den USA nach der Revolution - so viel Zeit dafür auf, um über das Lernen zu sprechen? Nein. Die Menschen waren viel zu beschäftigt damit, etwas zu tun und dadurch zu lernen. Diese Gedanken führten zu meinem Buch /nstead of Education, in dem ich deutlich auf den Unterschied zwischen dem Tun, »einem selbstgesteuerten, gezielten, bedeutungsvollen Leben und Arbeiten« und der Ausbildung hinwies, diesem »Lernen, das vom Leben und Tun abgeschnitten ist und unter dem Druck von Bestechung, Dro- hung, Habgier und Angst erfolgt.« Noch während ich schrieb, plante ich bereits die Fortsetzung, die den Titel Growing Up Smart - With- out School (Klug groß werden - ohne Schule) tragen sollte. Es sollte von kompetenten, wertvollen Erwachsenen handeln, die in ihrer eige- nen Kindheit mehrere Jahre nicht zur Schule gegangen waren, oder von Familien, die ihre Kinder jetzt ohne Schule aufwachsen ließen. Anfang der 70er Jahre kannte ich mehrere Gruppen von Men- schen, die ihre eigene kleine, alternative Privatschule gegründet hat- ten. Die meisten versuchten erst jahrelang, die lokalen öffentlichen Schulen zu bewegen, ihnen eine Alternative zu bieten, ehe sie ihre 32 eigene Schule gründeten. Wenn sie diese Entscheidung getroffen hatten, mussten sie erst andere Eltern überreden, sich ihnen anzu- schließen, eine Vereinbarung über die Schulform treffen, ein baupo- lizeilich geeignetes und bezahlbares Gebäude finden, die Bewilli- gungen der örtlichen Feuerwehr, des Gesundheitsamtes und der Sicherheitsbehörden usw. einholen, und die nötigen staatlichen Zulassungen erwirken, damit ihre Schüler nicht als Bummler galten, und zu guter Letzt einen oder mehrere Lehrer einstellen. Vor allem jedoch mussten sie Geld auftreiben. Eines Tages sprach ich mit einer jungen Mutter, die am Anfang dieses langen Weges stand, ob ich vielleicht kommen und bei einer öffentlichen Versammlung sprechen könnte. Gemeinsam mit einer Freundin hatten sie festgestellt, dass sie es nicht länger ertragen konnten, was die örtlichen Schulen ihren Kindern antaten, und dass sie ihre eigene Schule gründen mussten. Monatelang hatten sie nach anderen Eltern, geeigneten Räumen und einer geeigneten Finanzie- rung Ausschau gehalten, ohne sichtlichen Fortschritt. Während des Gesprächs fragte ich mich plötzlich, ob all dies überhaupt notwendig sei. »Wollen Sie tatsächlich eine Schule führen oder nur ein angenehmes Umfeld für Ihre eigenen Kinder schaffen?«, fragte ich sie schließlich. Sie antwortete ohne zu zögern: »Ich will ein angenehmes Umfeld für meine eigenen Kinder.« »Wenn dem so ist«, sagte ich, »warum machen Sie sich dann die ganze Mühe und neh- men Ihre Kinder nicht einfach aus der Schule, um sie zu Hause zu unterrichten? Das kann kaum schwieriger sein, als das, was Sie vor- haben, und vielleicht ist es sogar viel einfacher.« Und genau so wurde es - viel einfacher und machte außerdem viel mehr Spaß. Aus den Gesprächen mit jungen Familien wie dieser erkannte ich, dass derartige Familien vor allem Unterstützung und Ideen von anderen Familien brauchten, die ähnlich dachten und fühlten. Aus diesem Grund entschloss ich mich zur Herausgabe der Zeitschrift Growing Without Schooling, in der Eltern davon berichteten, wie sie ihre Kinder zu Hause unterrichteten. Ein Teil des Materials für die- ses Buch erschien erstmals in dieser Zeitschrift. Ich zitierte aus Büchern, Zeitschriften, Zeitungsartikeln, Gerichtsentscheidungen usw. und verfasste einige Texte selbst. Vieles entnahm ich Briefen von Eltern. Die hier zitierten Briefe sind nur ein Bruchteil all jener Briefe, die in der Zeitschrift abgedruckt wurden, und diese wiederum sind nur ein Bruchteil aller Briefe, die uns die Leser geschickt haben. 33 Selbstverständlich zählen die zitierten Briefe zu den besten, aber auch viele andere waren so gut, dass sie ebenfalls hätten gedruckt werden können. Viele der Briefe musste ich aufteilen, um sie unter verschiedenen Themen in den Kapiteln unterzubringen. Moglicher- weise haben sie dadurch ein wenig von der Kraft und Energie der Originale eingebüßt. Die von uns zitierten Textstellen vermitteln jedoch einen Eindruck davon, wie liebevoll, scharfsinnig und wort- gewandt die meisten dieser Briefe waren. Diese Briefe zu lesen zählte zu den größten Belohnungen meiner Arbeit. Ich hoffe, dass Sie diese Briefe ebenso genießen. 34 1 Warum Eltern ihre Kinder aus der Schule nehmen Warum nehmen Eltern ihre Kinder aus der Schule oder lassen sie erst gar nicht dorthin gehen? Viele Eltern sind der Ansicht, dass sie selbst für die Ausbildung ihrer Kinder zuständig sind, und nicht die Regierung; sie genießen das Zusammensein mit ihren Kindern, hel- fen ihnen gerne beim Lernen und wollen dies nicht anderen über- lassen; sie wollen verhindern, dass ihre Kinder geistig, körperlich oder emotional verletzt werden. Bevor Ihnen einige Unschooling-Eltern mit eigenen Worten sagen, warum sie ihre Kinder aus der Schule genommen haben, zwei Fragen: (1) Wie viele solcher Familien gibt es? (2) Was sind das für Menschen? Gute, knappe Antworten auf diese Fragen wären (1) »das weiß niemand« und (2) »jede Art von Menschen«. Es gibt einen einleuchtenden Grund, warum wir nicht wissen, wie viele Familien ihre Kinder selbst unterrichten. Denn viele dieser Eltern fürchten zu Recht, in Schwierigkeiten zu geraten, wenn die örtlichen Schulen davon erfahren, und unterrichten daher heimlich. Einige ver- heimlichen den örtlichen Schulbehörden sogar die Existenz ihrer Kinder oder geben an, diese seien an einer Privatschule angemeldet. Das kann mitunter auch das eigene Zuhause sein, was in vielen Bundesstaaten problemlos möglich ist. Mitunter melden sie sich gemeinsam mit ande- ren Familien als konfessionelle Schule an. Daher ist es schlichtweg unmöglich zu sagen, wie viele derartige Familien es gibt und wie viele der in einem Staat als Privatschule gemeldeten Schulen tatsächlich die- ser Bezeichnung genügen - d.h. aus eigens gemieteten Räumlichkeiten mit eigens angestellten Lehrern bestehen - und wie viele davon ge- tarnte Familienhaushalte sind, in denen die Eltern selbst unterrichten. 35 Welche Familien betreiben Homeschooling? Auch diese Frage ist schwer zu beantworten. Nur ein geringer Teil dieser Familien liest Growing Without Schooling, und nicht alle, die diese Zeitschrift lesen, schreiben uns auch. Und von denen, die uns schreiben, erfah- ren wir vor allem etwas über ihre Kinder, aber kaum etwas über ihren familiären Hintergrund, ihren Arbeitsplatz oder ihr Einkommen. Der Großteil unserer Abonnenten sowie deren Leserpost stammt aus ländlichen Gebieten, Kleinstädten und Vororten, in denen Men- schen mit geringem bis mittlerem Einkommen leben. Ich bin genug umhergereist, um die Namen der reicheren Vororte vieler amerika- nischer Großstädte zu kennen. Dadurch weiß ich, dass wir nahezu keine Post und keine Abonnenten aus reicheren Vororten bekom- men, ebenso wenig wie aus den Großstädten selbst. Wie steht es mit Einkommen, Ausbildung und ethnischer Her- kunft? Aus den wenigen uns zur Verfügung stehenden Anhalts- punkten geht hervor, dass das durchschnittliche Einkommen von Homeschooling-Familien etwa dem landesweiten Durchschnitt gleich- kommt. Wir führen nahezu keine Korrespondenz mit Personen, die anhand ihrer Adresse, ihres Briefpapiers, ihres Geschäftsumfeldes etc. als offensichtlich reich einzustufen wären. Im Gegenteil, viele Familien, die uns schreiben, haben ein Einkommen, das deutlich unter dem Landesdurchschnitt liegt; sie haben sich entschlossen, mit ihrem geringen Einkommen auf dem Land oder in Kleinstädten zu leben, wo sie eine kleine Landwirtschaft, einen Handwerksbetrieb oder ein anderes kleines Unternehmen führen. Einige Homeschoo- ling-Mütter leben auch von Sozialleistungen. Was den Ausbildungs- stand betrifft vermute ich, dass die meisten Eltern, die GWS lesen, selbst das College besucht haben. In einigen unserer erfolgreichsten Homeschooling-Familien besuchten die Eltern jedoch lediglich die High School. Meiner Ansicht nach hat ein etwas höherer Anteil jener Personen, die ihre Kinder über kirchennahe Fernschulen ausbilden lassen, selbst nicht das College besucht. Im Hinblick auf die ethni- sche Verteilung kann ich nicht einmal eine Schätzung abgeben. Außer dass einige wenige unserer Leser spanische Familiennamen haben kann ich nur sagen, dass wir bisher kaum Kontakt zu Familien aus Großstädten hatten. Wir sprechen also über eine Gruppe von Amerikanern, die ver- mutlich überwiegend weiß ist, eher im ländlichen Raum als in Groß- städten lebt und ansonsten in allem durchschnittlich ist, bis auf ihre 36 Beharrlichkeit, ihren Mut, ihr Unabhängigkeitsstreben und ihr Ver- trauen in sich und ihre Kinder. 3 Zwanzig Jahre nachdem Holt diese Zusammenfassung schrieb, gab das National Center for Education Statistics des amerikanischen Bil- dungsministeriums eine Studie heraus, »um anhand einer strengen Stich- probenerhebung unter den Haushalten die Zahl der Homeschooler in den USA zu schätzen«.‘ Das Bildungsministerium gelangte fast genau zu denselben Schlussfolgerungen wie Holt: Aus der Untersuchung von 1999 ging hervor, dass Homeschooling-Familien über ein durchschnittliches Einkommen verfügen, vorwiegend weiß sind (auch wenn die Forscher anmerkten, dass »durch einen Anstieg des Homeschooling auch ein brei- teres Spektrum amerikanischer Familien und Werte angesprochen werden könnte«), eher in ländlichen Regionen als in Städten leben und im All- gemeinen mehr Kinder pro Familie aufweisen als Familien, die kein Homeschooling betreiben. Holt schätzte, dass 1981 weniger als 30 000 Kinder als Homeschooler lernten, dass sich ihre Zahl jedoch rapide erhöhen würde. 1999 waren es den statistischen Aufzeichnungen des ame- rikanischen Bildungsministeriums zufolge bereits 850 000 Kinder. Heute, im Jahr 2002, werden vermutlich mehr als eine Million Kinder zu Hause unterrichtet, was etwa 2 Prozent aller Kinder im schulpflichtigen Alter entspricht. Zu den drei Hauptgriinden, die Holt für eine Ausbildung von Kin- dern außerhalb der Schule anführt, will ich nun zwei weitere hinzufügen: (1) den Wunsch einiger Familien, mehr Zeit gemeinsam zu verbringen, und zwar nicht nur »Qualititszeit« (wenig Zeit, dafür aber höchst effizi- ent eingesetzt), und (2) die wachsende Akzeptanz von Internet-Fernschu- len und anderen Formen von Fernunterricht anstelle eines konventionel- len Schulbesuchs. Familien, die mehr Zeit gemeinsam verbringen, lösen dadurch nicht automatisch sämtliche Probleme, die es zwischen Eltern und Kindern geben kann. Aber wenn beide Parteien bereit sind, an ihrer Beziehung zu arbeiten und die gemeinsame Zeit dazu verwenden, ihre Kommunikation zu verbessern, ist diese Zeit gut genutzt. Durch das höhere Maß an gemeinsamer Zeit steigt nicht nur die Chance auf gute zwischenmensch- liche Beziehungen. Auch akademische Fächer können gefördert werden. Eine weitverbreitete Studie der Universität Harvard besagt, dass die Lese- fähigkeit und der schulische Erfolg von Kindern in engem Zusammen- hang zu angenehmen Gesprächen beim Abendessen über Alltagsereignisse 37 stehen.” Zusätzlich führte Blake Bowden, ein Forscher am Children’s Hospital Medical Center of Cincinnati »eine Studie durch, um zu sehen, was Teenager vor einem unangemessenen Verhalten schützt. Die Antwort: Wenn sie mindestens fünf Mal pro Woche gemeinsam mit den Eltern essen.« Selbstverständlich ist es nicht notwendig, Kinder aus der Schule zu nehmen, um mit ihnen gemeinsam zu essen, aber es macht die Sache leichter, wenn ein langes Frühstück, ein mittägliches Picknick oder ein gemeinsamer Pausensnack all jenen Homeschooling-Eltern Gelegenheit zu langen, tiefgründigen Gesprächen außerhalb der Hauptmahlzeit bieten, die zur Zeit des Abendessens zu beschäftigt sind. Natürlich kann man es auch übertreiben, weshalb auch Home- schooling-Eltern die Dynamik der Gemeinsamkeit mit ihren Kindern beachten sollten, vor allem, wenn diese allmählich heranwachsen. Meine Kollegin Susannah Sheffer studierte heranwachsende Homeschooling- Mädchen und die enger werdende Beziehung zu ihren Müttern. Sheffer schreibt: Mehrere Mädchen bestätigten, dass sie eine ungewöhnlich gute Beziehung zu ihrer Mutter hätten und sprachen die Hoffnung aus, dass die zwischen ihnen bestehende Offenheit bestehen bliebe. Andere wünschten sich mehr Gelegen- heit zu sprechen und gehört zu werden, was ihnen derzeit nicht möglich erschien. Aber keines der Mädchen sagte: »Ich hätte lieber keine so enge Bezie- hung zu meiner Mutter.« Diese Mädchen erinnern mich an eine Beobachtung der Forscherin Teri Apter, die von der traditionellen Ansicht der Jugendzeit als Zeit der Trennung von den Eltern spricht. Aus Gesprächen mit Mutter-Toch- ter-Paaren schloss Apter, dass heranwachsende Mädchen von ihren Müttern als eigenständige Individuen anerkannt, gesehen und begriffen werden wollen, dass sie aber gleichzeitig die Beziehung zu ihren Müttern aufrechterhalten wollen. Sie nützen Konflikte mit ihren Müttern, um sich weiterzuentwickeln, sich selbst zu verstehen und um ihre Mütter herauszufordern, sie zu verstehen, Konflikte und Konfliktlösungen mit der eigenen Mutter erscheinen auf den ersten Blick nicht so wichtig wie die Schule, aber sie sind es den- noch. Oft genug werden wir zu dem Glauben verleitet, dass sich schuli- scher Erfolg in ein erfolgreiches Leben ummünzen lässt, und es daher besser sei, die Zeit mit schulischen Aktivitäten zu verbringen, statt mit den Kindern zu essen, spazieren zu gehen oder zu spielen. Wenn wir jedoch Bildung nicht nur als Ansammlung von Zeugnissen und Diplo- men betrachten, helfen wir unseren Kindern nicht nur, sich emotional zu entwickeln, sondern auch intellektuell. 38 Die wachsende Akzeptanz des Fernlernens überraschte ein wenig, weil Fernlehrprogramme - und hier vor allem schriftliche Fernstudien- programme - schon seit ich mich zurückerinnern kann zum Home- schooling gehörten. Allerdings wurden damals diese Fernlehrprogramme, die man als arme Verwandte des konventionellen Schulwesens betrach- tete, nur auf Streichholzschachteln beworben, und nicht in auflagenstar- ken amerikanischen Zeitschriften wie Atlantic Monthly, wie es heute der Fall ist. Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre erfuhr Fernunterricht durch Videos, Computer und das Internet eine immer höhere Akzeptanz in der Öffentlichkeit und gilt heute sogar als erstrebenswert. Zudem bewerben große Universitäten und Unternehmen ihre Online-Lernprogramme, mit denen eine neue Ära des Fernunterrichts eingeläutet wird. Allerdings ist es ein bescheidener Beginn. Denn viele der angebote- nen Online-Kurse sind nicht besser - und häufig sogar schlechter - als Kurse, die per Korrespondenz, in Form eines Buches oder unter der Auf- sicht eines Lehrers angeboten werden. Wenn Sie Ihren Computer gerne verwenden, genießen Sie das Online-Lernen vielleicht sogar. Ich hinge- gen bin nicht begeistert davon, den Computer als Ausbilder zu verwen- den. Ich schätze und nütze den Computer, um zu forschen, mich zu unterhalten und mit anderen zu kommunizieren. Mit der Erweiterung der technologischen Möglichkeiten, vor allem was Aktualität, Video- kommunikation, technische Qualität betrifft, werden sich vermutlich auch die Fernlehrprogramme verbessern. Derzeit ist es jedoch noch zu früh, um eine breitflächige Publikumswirksamkeit von Homeschooling vorherzusagen, auch wenn Homeschooling mittlerweile Legalität und durch das Internet auch ein Ansehen erworben hat, das es in den 80er- Jahren nicht besaß. Zwanzig Jahre lang 1st Homeschooling durch die Anstrengung echter Menschen in einer echten Welt gewachsen, nicht durch Chatroom-Besucher, die in einer virtuellen Wirklichkeit agieren. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Homeschooler zu den ersten gehörten, die den Computer und das Internet für sich eroberten, indem sie die erste Generation von Heimcomputern dazu verwendeten, auf der Suche nach Unterstützung und Ratschlägen Internet-Foren und Chat- rooms zu durchforschen, und dieses Medium auch für andere politische Aktionen einsetzten. Ihr Vermächtnis ist so groß, dass heute jede Internet- Suchmaschine Millionen Einträge für den Suchbegriff »Homeschooling« | oder »Fernunterricht« liefert. Die Versprechungen des Fernunterrichts haben sich bisher jedoch nicht erfüllt, weshalb ich dazu rate, den Com- puter wie ein Fachbuch, Papier und Bleistift oder einen Taschenrechner 39 zu betrachten: als Hilfsmittel, um zu Hause zu lernen, und nicht als etwas, das man unbedingt zum Homeschooling braucht. Die zuvor genannten Bildungsforscher der Regierung untersuchten auch die Gründe, aus denen sich Eltern für Homeschooling entscheiden: Die Qualität der Ausbildung, die Religion und die armselige Lernumge- bung der jeweiligen Schulen sind die drei wichtigsten genannten Gründe. Eine interessante Statistik des amerikanischen Bildungsministeriums aus dem Jahr 1999 zeigte, dass 22 Prozent der Homeschooling-Eltern einen Hochschulabschluss haben, im Vergleich zu 16 Prozent aller anderen Eltern. Warum entscheiden sich immer mehr Menschen, die selbst den überwiegenden Teil ihrer Jugend an einer höheren Lehranstalt verbracht haben, dazu, ihre Kinder selbst zu unterrichten? Vielleicht aus demselben Grund, aus dem auch meine Frau und ich uns dafür entschieden haben: Wir wollten nicht, dass unsere Kinder ihre Zeit mit denselben sinnentleerten Ausbildungsritualen verbringen, wie wir es mussten: Indem sie Prüfungen ablegen, nur um das Gelernte nach der Zensurenvergabe augenblicklich wieder zu vergessen; indem sie jah- relang Fremdsprachen erlernen, ohne außerhalb des Klassenzimmers auch nur ansatzweise ein Gespräch in dieser Sprache führen zu können; indem sie sich abmiihen, mathematische Fähigkeiten zu erwerben, die außerhalb des Klassenzimmers kaum je Anwendung finden; indem sie Laborexperi- mente durchführen, die eher Gedichtnisiibungen gleichen als wissen- schaftlichen Untersuchungen. Zeit und Jugend kann man nicht zurück- holen; deshalb 1st die wahre Bildungskrise vermutlich die Desillusionie- rung der Hochschulabsolventen und nicht die mangelnde Leistung der derzeitigen Studenten.?? | DIE UNFAHIGKEIT DER SCHULEN Als ich meine Lehrtatigkeit an der Colorado Rocky Mountain School begann, zählte es zu meinen ersten Aufgaben, einem ansonsten Klu- gen und fahigen Siebzehnjahrigen, dessen schulische Leistungen auf dem Niveau eines Acht- bis Neunjahrigen lagen, als Tutor zur Seite zu stehen. Hoch dotierte Fachleute aus seiner Heimatstadt hatten ihn als »hirngeschadigt« eingestuft. Ungeachtet dieser Kategorisierung wollte er ebenso wie alle anderen lesen, schreiben und die Welt begreifen. Er bat mich um Hilfe und traute mir zu, dass ich ihm diese geben konnte. 40 | Da ich keine Fachausbildung als Lehrer besaß, hatte ich auch noch nie von einem »Hirnschaden« gehört. Was auch immer dieses Wort bedeutete, eines war mir klar: Es war meine Verantwortung und Pflicht herauszufinden, was den Jungen vom Lernen und Begreifen abhielt, um etwas dagegen unternehmen zu können. Bald schon erkannte ich, dass er einen überaus präzisen, logischen Geist besaß und erst eine Sache vollständig begreifen musste, ehe er zur nächs- ten weitergehen konnte. Schon unmittelbar nach seinem Schuleintritt war sein Lernprozess ins Stocken geraten, weil er - wenn die Lehrer über das Lesen, die Arithmetik, die Rechtschreibung etc. sprachen - nicht imstande gewesen war, diese Dinge vollständig zu begreifen, oder weil er nicht die richtigen Fragen stellen konnte zu einem Zeit- punkt, zu dem er sie hätte stellen müssen, oder weil er auf seine Fra- gen keine Antwort erhielt. Während ich einige seiner Fragen sofort beantworten konnte, beschäftigten mich andere noch Jahre danach. Auch wenn ich nicht für all seine Fragen eine Antwort fand, war ihm offenbar meine Überzeugung, dass sie beantwortet werden können, Hilfe genug. Einige Jahre später schrieb er mir von einer Armeebasis und erzählte mir, welche Bücher er gerade las - und dabei handelte es sich um ernsthafte Erwachsenenbücher. Offenbar hatte er sein Problem selbst gelöst. Damals versuchte ich das zu sein, was ich heute als ernsthaften Lehrer bezeichne. Ich war nicht bereit, gut klingende Ausreden als Ersatz für das zu akzeptieren, was ich tun musste, nämlich den Kin- dern beim Lernen zu helfen. Wenn sie dann tatsächlich nicht das lernten, was ich unterrichtete, gab ich nicht ihnen die Schuld dafür, sondern suchte nach einer neuen Lehrmethode, bis ich eine funk- tionierende fand. Wie das Buch Aus schlauen Kindern werden Schüler ... Von dem, was in der Schule verlernt wird verdeutlicht, dauerte dies oft eine beträchtliche Weile, und ich hatte mehr Misserfolge als Erfolge zu verzeichnen. Ein weiteres Buch über ernsthaften Unterricht ist das erste Werk von James Herndon The Way It Spozed to Be. Darin erzahlt er die Uberaus unterhaltsame, wahre und im Endeffekt trau- rige Geschichte Uber sein erstes Jahr als Lehrer und seinen schmerz- lichen, aber erfolgreichen Kampf - fur den er gefeuert wurde -, jenen Schülern zu helfen, die von seiner Grofdstadtschule längst aufgegeben worden waren. Einer der Hauptgrunde, warum nur so wenige Schulen ihre Auf- gabe gut erfüllen, ist der, dass sie nicht ernsthaft arbeiten. »Gute« 41 wie »schlechte« Schulen, Privatschulen wie öffentliche wurden mit wenigen Ausnahmen nach der Devise geführt, dass die Schule für jeglichen Lernerfolg die Lorbeeren einheimst, während Misserfolge den Schülern in die Schuhe geschoben werden. Während man von Seiten der Schulen vor etlichen Jahren noch behauptet hätte, dass einige der Kinder bösartig, dumm, faul oder gestört seien, erklärt man heute, sie würden an mysteriösen Krankheiten leiden, wie »mini- maler zerebraler Dysfunktion« oder »Lernbehinderung«. Doch egal, unter welcher Bezeichnung dies läuft, es bleibt, was es immer war: eine Entschuldigung für Schulen und Lehrer, die ihre Aufgabe nicht erfüllen. Als weiterer Beweis für die Unfähigkeit von Schulen dient ein Zitat aus der Chicago Tribune (1977): Nach zehnjähriger Entwicklungsphase sind die Schulbehörden von Chi- cago nun überzeugt, ein vollständiges und mitreißendes Programm erar- beitet zu haben, um Kindern das Lesen beizubringen - ein Programm, das zum Schrittmacher einer ganzen Nation werden könnte ... Im Verlauf meh- rerer Jahre stellte Bernard Gallegos, ein Leseexperte des Bildungsaus- schusses, ein Paket jener Lesefähigkeiten zusammen, die Kinder in der Grundschule erlernen müssen. Anfänglich umfasste Gallegos Liste 500 Elemente. Mittlerweile wurde sie auf 273 reduziert, die sich auf die Schul- stufen 1 bis 8 verteilen. Man könnte an einen Scherz glauben, wenn es nicht so grauenvoll wäre. Fünfhundert Fertigkeiten! Welche um Himmels Willen sollen das sein? Als ich mir selbst das Lesen beibrachte, erlernte ich gewiss keine 500 Fertigkeiten, nicht einmal 273. Ich betrachtete gedruckte Worte auf Anzeigetafeln, in Büchern und wo immer ich sie sah, und enträtselte sie, weil ich wissen wollte, was sie besagen. Mit jedem Wort, das ich lernte, wurde es leichter, das nächste zu verstehen. Auf diese Weise konnte ich lesen, bevor ich zur Schule ging. Soweit man in der Schule lesen lernte, geschah dies anhand der Buchstabier- und Sprechmethode, wie ich diese Technik bezeichne: »H, u, n, d - Hund.« Die meisten Menschen, die lesen, und vor allem jene, die gut lesen, wurden nicht in 273 unterschiedlichen Fertigkeiten unterrichtet. Und weshalb wurde die Liste von 500 Elementen auf 273 reduziert? Anzumerken ist, dass die erste dieser Fertigkeiten das Wieder- holen von zwei- und dreisilbigen Wörtern betrifft. In der Praxis bedeu- tet dies vermutlich, dass alle Kinder, einschließlich der farbigen, 42 hispanischen, asiatischen und anderen nicht aus angelsächsischen Ländern stammenden, diese Worte »korrekt« aussprechen müssen, d.h. auf dieselbe Weise wie ihr Lehrer. Kinder, die nicht so sprechen können oder wollen wie weiße Nordamerikaner der Mittelklasse, wer- den mit großer Wahrscheinlichkeit als »noch nicht bereit« für den nächsten der 273 Schritte eingestuft. Und dies ungeachtet der Tat- sache, dass die Welt voll von Menschen ist, die fließend Englisch lesen, auch wenn sie es in einem Dialekt oder mit einem Akzent spre- chen, den nur wenige Lehrer in Chicago (und insgesamt nur wenige Amerikaner) verstehen. Ich schreibe nun drei Jahre später, nachdem diese Geschichte veröffentlicht wurde. Ob dieses Schema an den Schulen Chicagos je in die Praxis umgesetzt wurde und noch immer angewendet wird, weiß ich nicht. Eines steht jedoch fest: Sofern diese Kinder tatsäch- lich besser lesen gelernt haben als Kinder aus anderen Regionen, ist dies ein wohlgehütetes Geheimnis geblieben. Vor einigen Jahren hörte ich von einer Lehrerin einer anderen Großstadt, die tatsächlich im Lauf der Jahre eine Methode entdeckt hatte, um Kindern, die nie zuvor gelesen hatten, zum Lesen zu ver- helfen. Sie wurde entlassen, weil sie sich als verantwortungsvolle Lehrerin vernünftigerweise geweigert hatte, ihr funktionierendes Leseprogramm einzustellen, als die Schulaufsicht ein neues Lese- programm für alle Lehrer der Stadt verordnet hatte. Zweifellos passierte dasselbe auch in Chicago; die besten Lesetrainer wurden vermutlich aufgefordert, ihre Methoden zu ändern oder den Hut zu nehmen. Die Kinder müssen so intensiv damit beschäftigt sein, die 273 Lesetests zu bestehen, dass sie vermutlich gar keine Zeit mehr zum Lesen haben. Dass sie auf diese Weise schon bald die Lust am Lesen ganz verlieren, ist das Schlimmste daran. Wie in vielen ande- ren Schulen werden die wenigen Kinder, die tatsächlich lesen kön- nen, vermutlich ausgebremst, wenn sie einige der 273 Tests nicht bestehen. In etwa zehn Jahren werden wir in den Zeitungen dann von einem neuen großartigen Plan lesen. Ein Lehrer, der an einer privaten Grundschule als Aushilfslehrer tätig war, schrieb an GWS: Vier Tage lang ...war ich nun in der 3. Schulstufe. Die beiden Lehrer unter- richteten gemeinsam, so dass auch ich im Team unterrichten musste. Beide waren etwas altmodisch und drängten auf Mathematik und Lese- übungen aus den Übungsbüchern. Ich bin fast verrückt geworden. Selbst 43 ich konnte die Fragen und Antworten nicht begreifen (weil ich mich wei- gerte, das Antwortbuch für Lehrer zu benutzen), und die Kinder saßen nur frustriert und in angespannter Regungslosigkeit im Unterricht. Am zwei- ten Tag erkannte ich, dass diese Kinder nie Zeit hatten zu denken, geschweige denn, aus Freude zu lesen - hier ging es nur um Worterfas- sungs- und Gedankenleseübungen. Im Klassenzimmer gab es Taschen- bücher, Das Schweinchen Wilbur und seine Freunde und viele andere auf- regende Dinge, die unberührt blieben, weil die Kinder offenbar »noch nicht gut genug lesen« konnten. Ich ging ... zur Direktorin und erklärte, dass ich den Unterricht nicht fortsetzen könne, wenn während meiner Anwesenheit die Lesezeit nicht zum stillen Lesen genützt würde. Sie stimmte zu, obwohl sie über meine Initiative keineswegs erfreut war, was ich deutlich spürte. Daraufhin erklärte ich den Kindern neue Regeln: »Wenn ihr ein Wort nicht kennt und es euch wirklich stört, dann gebt mir ein Zeichen und ich komme und flüs- tere es euch ins Ohr. Kein Nachsprechen, keine Selbstlaute, keine Silben, keine Fragen, nur das Wort.« Auch wenn nur wenige nach den ersten Minu- ten tatsächlich eine Frage stellten, baten die Kinder doch darum, zwei Mal pro Tag still lesen zu dürfen. James Herndon berichtet Ähnliches in seinem Buch Die Schule über- leben. Als er gemeinsam mit ein bis zwei anderen Lehrern aufhörte, Kinder über das zu befragen, was sie lasen, sie nicht mehr benotete und ihre Fortschritte nicht mehr zwischendurch prüfte, sondern sie einfach lesen ließ, steigerten sich schon bald die Lesefähigkeiten der Kinder, und zwar auch jener, die zuvor schlecht gelesen hatten. Aber sowohl seine Schule als auch seine Lehrerkollegen weigerten sich, aus dieser Erfahrung zu lernen. Ebenso häufig wird darüber geklagt, dass Schüler nicht schreiben können. Ein Artikel mit dem Titel »Pumping Polysyllabism« (»Mehr Viel- silbigkeit«), der im August 1977 in der Zeitschrift Mother Jones erschien, geht davon aus, dass nicht immer die Schüler dafür ver- antwortlich sind: Zwei Englischprofessoren aus Chicago haben herausgefunden, dass eine Seminararbeit besser benotet wird, wenn man eine »wortgewaltige, bom- bastische« Sprache verwendet. Professor Joseph Williams und Professor Rosemary Hake erklärten, dass sie eine gut geschriebene Seminararbeit sprachlich nur geringfügig veränderten, wobei die Grundgedanken und das Konzept erhalten blie- 44 ben. Sie verfassten jedoch zwei verschiedene Versionen - eine in einer schlichten, geradlinigen Sprache und eine weitere in einer wortgewaltigen, mit pedantischen Begriffen überladenen Sprache. Danach legten sie diese beiden Arbeiten neun High-School-Lehrern vor; zu ihrer Überraschung gaben alle neun der wortgewaltigen Arbeit nahezu durchweg die Bestnote, während die schlicht formulierten Arbeiten als zu einfach und seicht bezeichnet und schlechter bewertet wurden. Daraufhin legten die beiden Professoren dieselben beiden Arbeiten neunzig weiteren Lehrern vor, was ähnliche Ergebnisse erbrachte. Drei von vier High-School-Lehrern und zwei von drei College-Professoren gaben der wortgewaltigen Arbeit eine bessere Note. DIE BÜRGERRECHTE VON KINDERN Ich will und werde nicht zulassen, dass dies hier nur eine Ansamm- lung von Horrorgeschichten über Schulen wird. Die Argumente gegen Pflichtschulen sind wesentlich tiefgreifender. Einige von ihnen brachte ich in einem Brief an die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union zum Ausdruck: Obwohl es noch kein entsprechendes Gerichtsurteil gibt, erscheinen mir die Gesetze über die Schulpflicht ein ernsthafter Verstoß gegen die Bür- gerrechte von Kindern und ihren Eltern zu sein, und dies unabhängig von der Art der Schulen, ihrer Organisationsform und ihrer Behandlung von Kindern - mit anderen Worten: auch wenn sie wesentlich humaner und effektiver wären, als sie tatsächlich sind. Um noch einmal zur Anwesenheitspflicht in Pflichtschulen zurückzukeh- ren, würden Sie mir gewiss zustimmen, dass es einen krassen Verstoß gegen Ihre Bürgerrechte darstellte, wenn Ihnen die Regierung vorschriebe, sich an einhundertachtzig Tagen im Jahr für sechs oder mehr Stunden pro Tag an einem bestimmten Ort aufzuhalten und das zu tun, was andere Ihnen auftragen. Der Staat jedoch rechtfertigt diese Vorgehensweise bei Kindern als Mittel der öffentlichen Ordnung, indem er behauptet, dass Kin- der nur so zu verantwortungsbewussten Bürgern heranreifen könnten. Selbst wenn es so wäre, dass Kinder in der Schule wichtige Dinge lernen, die sie nirgendwo sonst lernen können - einer Annahme, der ich keines- falls zustimme - würde ich Bürgerrechtler dennoch daran erinnern, dass die öffentliche Ordnung in anderen und oft schwerwiegenderen Fallen - 45 etwa Nazi-Kundgebungen - nicht als Vorwand für einen Verstoß gegen die Grundrechte des Bürgers verwendet werden darf, und deshalb auch nicht in diesem Fall dafür verwendet werden sollte. Im Lauf der Jahre hat die American Civil Liberties Union (ACLU) das Recht der Kinder, eine Schule zu besuchen, als Bürgerrecht aner- kannt, während sie den Nichtbesuch nicht als Bürgerrecht anerkennt. Wie ich erfuhr, diskutiert nun ein Komitee innerhalb der ACLU über die Frage, unter welchen Bedingungen die Schulpflicht als Ein- schränkung der Bürgerrechte betrachtet werden könne. In einigen Fällen haben lokale Stellen der ACLU bzw. Rechtsanwälte der ACLU Unschooling-Familien sogar unterstützt. Es wäre jedoch hilfreich, wenn die Landesorganisation eines Tages auch zu einigen von mir angesprochenen Themen eine klare Position einnähme. 2 Bis zum heutigen Tag hat die Landesorganisation der ACLU zu den von Holt erwähnten Themenbereichen noch nicht Stellung bezogen. Im Gegenteil, seit Holt dieses Buch geschrieben hat, haben verschie- dene Gerichtsurteile die Bürgerrechte der Kinder innerhalb und außer- halb der Schulen sogar weiter aufgeweicht. Die ACLU, ebenso wie die meisten anderen progressiven Institutionen, stellen das Recht der Kin- der auf Schulunterricht immer noch über das Recht, nicht zur Schule zu gehen. Dagegen verändert sich allmählich die Situation im Hinblick auf die körperliche Bestrafung an Schulen; 1998 wurde körperliche Ziichtigung an allen Schulen Großbritanniens verboten. Es steht jedoch nicht fest, ob diese Veränderung fiir die USA ebenso umfassend sein wird. Im Jahr 2000 sprach die American Academy of Pediatrics die Empfehlung aus, »kor- perliche Bestrafung an Schulen in allen Bundesstaaten per Gesetz abzu- schaffen und alternative Formen zur Regelung des Schiilerverhaltens ein- zusetzen.« Diese Empfehlung wird in den USA jedoch nur schleppend umgesetzt. So wurden zum Beispiel im Februar 2002 in den zwei Schul- bezirken Moorhead in Minnesota und Nashville in Tennessee die ent- sprechenden Richtlinien herausgegeben, die es Lehrern untersagen, Schülern gegenüber Schläge oder andere Formen von physischer Gewalt anzuwenden, da sie zu emotionalen oder körperlichen Schäden führen können. Gleichzeitig sprach sich ebenfalls im Februar 2002 die gesetzge- bende Körperschaft von Wyoming dafür aus, das Schlagen von Kindern in der Schule auch weiterhin zuzulassen. Allerdings werden Kinder heute 46 in der Schule nicht mehr so häufig zur Bestrafung geschlagen oder in einen Schrank eingeschlossen wie in den 50er und 60er Jahren. Körperli- che Bestrafung wird jedoch nach wie vor von einigen Staaten und Schul- bezirken in den USA offen unterstiitzt.¢¢ EIN NEUES VERANTWORTUNGSBEWUSSTSEIN Auch wenn heute viele Erwachsene - und vielleicht sogar der Groß- teil der Erwachsenen - Kinder ablehnen und ihnen misstrauen, wächst gleichzeitig die Minderheit jener, die Kinder mögen, verste- hen, ihnen vertrauen, sie respektieren und schätzen, und zwar auf eine bisher seltene Art und Weise. Viele dieser Menschen entschei- den sich heute bewusst für Kinder, was früher nur selten geschah. Sie bekommen nicht bloß Kinder, weil sie verheiratet sind und man das von ihnen erwartet, oder weil sie sich mit Verhütung nicht aus- kennen. Im Gegenteil. Obwohl sie genau wissen, wie viel Zeit, Ener- gie, Geld, Gedanken und Sorge sie vermutlich werden aufbringen müssen, nehmen sie die schwere Verantwortung auf sich, Kinder zu bekommen und großzuziehen, weil sie den innigen Wunsch ver- spüren, einen Teil ihres Lebens mit ihnen zu verbringen. Nachdem sie sich bewusst für Kinder entschieden haben, empfinden sie es als ihre Verantwortung, diese Kinder darin zu unterstützen, zu guten, klugen, fähigen, liebevollen, vertrauenswürdigen und verantwor- tungsvollen Menschen heranzuwachsen. Es erscheint ihnen nicht richtig, diese Verantwortung staatlichen oder privaten Institutionen zu übertragen, und sie würden es auch nicht tun, selbst wenn sie diese Institutionen für gut befinden und ihnen vertrauen würden, was jedoch oft nicht der Fall ist. Diese Ansicht mag uns sehr altmodisch oder überaus modern erscheinen. Vermutlich ist sie beides. ? Heute betreiben bedeutend mehr Familien Homeschooling als zu jener Zeit, da Holt dieses Buch schrieb. Darum haben die heutigen Schul- behörden im Umgang mit Anfragen fiir Homeschooling mehr Erfahrung als in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nur wenige all jener, die heute Homeschooling betreiben wollen, miissen dafür einen Kampf mit ihrer Schulbehérde führen, einen Anwalt ein- schalten oder in einen aufgeschlossenen Schulbezirk tibersiedeln. Unter 47 der Rubrik »Unabhängiges Studienprogramm« werben heute sogar viele Schulen um Homeschooling-Familien, und einige Vertragsschulen und gewinnorientierte Schulen locken mit Versprechungen von kostenlosen Computern für das Lernen zu Hause, fachlicher Unterstützung usw. Viel wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass heute wesentlich mehr Home- schooler von wachsender lokaler, staatlicher und bundesstaatlicher Unter- stützung durch Homeschooling-Gruppen und -Unternehmen profitieren. Informationen und Lehrmaterialien sind über diese Homeschooling- Zentren wesentlich leichter zu beziehen als über konventionelle Schul- institutionen. Im 21. Jahrhundert vervielfachen sich die Möglichkeiten für Homeschooling. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich allgemein die Einstel- lung gegenüber Homeschooling beträchtlich verändert. Meine drei Töch- ter betrieben nicht nur Homeschooling, sondern wechselten auch immer wieder zwischen privaten und öffentlichen Schulen, je nach den Anfor- derungen in ihrem Leben zu unterschiedlichen Zeiten, ohne dass man ihnen von Seiten der Schulen deshalb Steine in den Weg gelegt hätte. Unsere jüngste Tochter Audrey zum Beispiel, beharrte darauf; in die erste Schulstufe zu gehen, weil sie meinte, dass wir »sie nicht genug unterrich- ten«. Innerhalb weniger Tage war Audrey Feuer und Flamme fiir ihre Klas- senlehrerin, eine talentierte ältere Lehrkraft, während sie an der Schule selbst verzweifelte. »Was 1st los?«, erkundigte ich mich. »Ich bin eine ganze Woche zur Schule gegangen, und sie lernen immer noch das Alphabet! Aber ich kenne das Alphabet schon!« (Audrey spricht oft mit Ausrufezeichen in der Stimme.) »Aber es gibt doch gewiss auch andere Dinge, die du dort lernst. Wie wäre es, wenn du einfach wartest, bis die Klasse mit dem Alphabet fertig ist und zu dir aufschliefdt?« »Dad! Es ist so langweilig! Und in Mathematik lernen sie erst, wie man in Zwelerschritten bis zwanzig zählt! Ich kann schon in Einer, Zweler- und Funferschritten bis hundert zihlen!« Einige Tage später gingen meine Frau Day und ich in die Schule, um mit Audreys Klassenlehrerin, Miss Reppucci, zu sprechen. Sie verstand vollkommen, was Audrey meinte, und sprach Day ein großes Kompli- ment fiir thre Homeschooling-Arbeit mit Audrey aus. (Da Audrey zu die- sem Zeitpunkt noch sehr jung war, betrachteten wir das, was wir mit ihr machten, nicht als »Homeschooling-Vorschule«. Immerhin taten wir nichts anderes, als das, was wir mit allen unseren Madchen taten: Wir 48 sprachen mit ihnen, hörten ihnen zu und erforschten gemeinsam die Welt.) Dann sagte Miss Reppucci zu Day: »Ich habe in meiner ersten Schulstufe so viele Kinder, die nicht annähernd dort sind, wo Audrey jetzt schon ist, auch wenn sie es sein sollten. Und ich benötige für jeden einzelnen dieser Schüler zusätzliche Zeit, die ich dadurch nicht für Audrey verwenden kann. Warum überlegen Sie es sich nicht noch einmal und machen mit Audrey weiter Homeschooling?« Als Audrey hörte, dass ihre geliebte Klassenlehrerin meinte, dass Homeschooling für sie das Beste sei, wirkte sie erleichtert und willigte nach elftägigem Besuch einer öffentlichen Schule ein, mit dem Segen ihrer Klassenlehrerin wieder zu Hause zu lernen. Selbstverständlich sind nicht alle Lehrer so sympathisch und auch nicht alle Homeschooler wenden sich um Unterstützung an eine Öffent- liche Schule. Homeschooler sind unabhängige Freigeister, von denen einige glauben, dass auch der geringste Kontakt zu lokalen Behörden und staatlichen Regierungsinstitutionen im Widerspruch stehe zu ihrer per- sönlichen Einstellung und deshalb als illegale Bürde zu bekämpfen sei. Diese Personen definieren ihre persönliche Verantwortung auf eine Weise, die sie mit nahezu allen konventionellen Schul- und Gesetzespraktiken in Konflikt bringen, aber das ist ihr gutes Recht. Die meisten Homeschoo- ler hingegen nehmen einen flexibleren Standpunkt ein und versuchen, mit Schulen zusammenzuarbeiten oder sie ganz oder teilweise zu umge- hen, ohne dabei unnötig mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. €¢ Judy McCahill, die Frau eines Berufsoffiziers der US-Marine, erklärt ihre persönliche Verantwortung folgendermaßen: Wir alle, die wir als Eltern oder andere Privatpersonen eine revolutionäre Veränderung in Gang setzen, die das Leben anderer ernstlich beeinflussen wird, müssen uns immer vor Augen halten, dass wir dies aus selbstsüch- tigen Gründen tun. Mein Mann und ich bekamen zwei oder drei Tage vor Schulbeginn dieses Jahres kalte Füße (»das klingt wie eine Epidemie«, sagte unsere Tochter). Nur der Gedanke, dass ich sehr unglücklich sein würde, wenn wir es nicht einmal versuchten, gab mir die Kraft, unseren Plan weiterzuverfolgen. In diesem Augenblick ging es nicht darum, dass wir uns fragten, was für die Kinder das Beste sei; wir glaubten (und glauben immer noch), dass es für sie besser sei, zu Hause aufzuwachsen als in einem Klassenzimmer. Aber im Grunde war es vorrangig meine Entschei- dung, mein Experiment und mein Glaube, der sie zu Hause hielt. Ich hoffe, dass sie lernen, den wahren Sinn einer Handlung zu erkennen; dass man 49 ein erkanntes Unrecht richtigstellen muss, dass man einen Weg, den man für besser hält, auch tatsächlich einschlagen muss. Die Mutter einer auf dem Land lebenden muslimischen Familie führt ähnliche Gründe dafür an, dass sie ihre jüngeren Kinder zu Hause aufwachsen ließ: ... wie viele andere Familien, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, war auch in unserem Fall die Religion ein Hauptgrund, wenn auch nicht die christliche Religion, sondern der Islam. Wir sind als Familie dem Islam sehr verbunden, deshalb ist es für uns von größter Wichtigkeit, dass unsere Kinder in einer Atmosphäre aufwachsen, die sich der religiösen Orientie- rung und den damit verbundenen Werten nicht in den Weg stellt. Aus die- sem Grund sind wir nicht einverstanden mit vielen sozialen und morali- schen Werten (oder besser gesagt »Unwerten«), die in den Schulen pro- pagiert werden, ebenso wie mit dem begrenzten Bildungsangebot. Darü- ber hinaus werden in unserem Glauben Religion und andere Lerninhalte nicht als zwei getrennte Bereiche gesehen, weil der Islam keine Trennung zwischen den »religiösen« und »säkularen« Aspekten des Lebens kennt. Unsere drei älteren Kinder wuchsen in öffentlichen Schulen auf, was ernste Folgen für ihr Selbstwertgefühl und ihre Werteentwicklung hatte, vor allem aber auf die Eigenständigkeit ihrer Persönlichkeit. Sie gingen durch die Hände einer Reihe von Junior-High-School- und High-School-Lehrern und erlebten zahlreiche Situationen, in denen Religion und jeder, der mora- lische und ethische Werte hochhält, ablehnend betrachtet oder zumindest als überaus seltsam und unnormal stigmatisiert wurden. Kurz nachdem wir nach mehreren Jahren im Ausland zurückgekehrt waren, kam mein Sohn in die erste Klasse der Junior-High-School, wo er sich ganz und gar nicht wohl fühlte. So ging ich zum Direktor und berichtete ihm von meinen Sorgen. Ich erklärte ihm, dass mein Sohn ein sehr religiöser Jugendlicher mit hohen Werten sei und fragte, ob es möglich sei, einen Club oder eine Vereinigung von Jugendlichen mit ähnlichen Neigungen zu gründen. Die Antwort des Direktors überraschte mich. Er erklärte mir, dass er sich den Schulbericht meines Sohnes und die Aufzeichnungen über sein Verhalten ansehen und mit seinem Berater sprechen würde, ob er überhaupt normal sei und dazu passe. Vermutlich können Sie sich vorstellen, wie ich mich nach dieser Besprechung fühlte, und die Idee eines solchen Clubs starb selbstverständlich von selbst, obwohl ich mich auch weiterhin bemühte, andere in der Gemeinde dafür zu interessieren, aber ohne Erfolg. Trotz- dem bin ich immer noch der Meinung, dass eine derartige Organisation für 50 all jene Jugendliche wichtig und bedeutungsvoll wäre, die großen Wert auf Religion und Werte legen, aber nur wenig Unterstützung erfahren und dadurch sogar oft Angst haben, angesichts des vorherrschenden Klimas ihre Meinung zu äußern. Als unser viertes Kind Ina alt genug war für den Kindergarten, schrie- ben wir es in einer katholischen Schule ein, in der Hoffnung, dass diese bedeutend besser wäre als eine öffentliche Schule. Aber auch diese Schule war eine totale Enttäuschung und unterschied sich weder in ihrem Klima noch in ihren Methoden von den anderen. Nach Beendigung von Inas Kin- dergartenjahr blieb uns somit keine andere Lösung, als die Kinder zu Hause zu unterrichten. Ich besprach die Angelegenheit mit dem Leiter der lokalen Schulbehörde. Obwohl er klar zum Ausdruck brachte, dass er kein Befürworter von Homeschooling sei, war er hilfsbereit und kooperativ. Wir müssten ihm zu Beginn des Sommers einen Brief schreiben, den er der örtlichen Schul- kommission vorlegen würde, die ihn ihrerseits der staatlichen Bildungs- kommission vorlegen würde. Gemeinsam mit meinem Mann verfasste ich eine kurze Erklärung, dass »unsere Familie islamisch ist, und dass diese Religion das gesamte Leben umfasst. Die religiöse Ausbildung geht dadurch Hand in Hand mit der säkularen Ausbildung. Diesen Bedürfnissen unserer Kinder wird eine normale Schule nicht gerecht.« Ferner verwiesen wir darauf, dass wir möglicherweise erneut längere Zeit außer Landes ver- bringen würden und dadurch eine Ausbildungsmethode benötigten, die wir an jedem Wohnort weiterführen könnten. Uns wurde die Erlaubnis zum Homeschooling unter der Auflage erteilt, dass wir nach dem Calvert-Pro- gamm vorgingen, dass ich an 176 Tagen pro Jahr Unterricht erteilte, und dass ich unter der Aufsicht der örtlichen Schuldirektorin stünde (welche die Calvert-Tests abnehmen und mit mir einmal pro Vierteljahr eine Bespre- chung abhalten würde. Außerdem würde das Kind die standardisierten Zulassungs- und Jahrestests ablegen müssen.) Die Erfahrung, meine Kinder selbst zu unterrichten, hat mir unendlich viele neue Einsichten gebracht in Bezug auf die Rolle der Eltern (vor allem der Mütter) - was sie für uns bedeutet, bedeuten könnte und bedeuten sollte - und in Bezug auf das Wesen und die Bedeutung der Ausbildung. Ich kann gar nicht sagen, wie zufrieden es mich macht zu sehen, wie meine Kinder zu gefestigten, eigenständigen, glücklichen Persönlichkeiten he- ranwachsen, und dies vor allem nach all den Kämpfen, in denen wir mit ansehen mussten, welch schädlichen Einfluss die Schule auf die drei älte- ren Kinder hatte ... 51 KINDER VOR SCHADEN BEWAHREN Die meisten Eltern nehmen ihre Kinder nicht aus philosophischen oder politischen Gründen aus der Schule, sondern vielmehr aus per- sönlichen Gründen, wie diese islamische Mutter zum Ausdruck brachte: um zu verhindern, dass die Schule ihren Kindern Leid zufügt oder sie in der Schule noch mehr Schaden erleiden, als dies ohnehin schon der Fall ist. Viele Eltern schreiben Geschichten wie diese: Ihr Kind habe sich selbst - wie auch immer - schon vor Schuleintritt das Lesen beigebracht; es befinde sich gerade in der Vorschule oder einer der ersten Grundschulklassen; im Lesen sei es ein bis drei Jahre dem Lehrstoff seiner Klasse voraus. Selbstverständlich habe es keine Lust, an Leseübungen oder anderen Aufgaben teilzuneh- men, welche die anderen Kinder erfüllen müssen, um das zu lernen, was es bereits kann. Das Kind wolle Bücher lesen, die es bereits lesen kann. Aber wenn es dies versuche, weise es die Lehrerin an, dieselben Aufgaben zu erfüllen wie die anderen Kinder, und wenn es verständlicherweise sage, dass es das nicht wolle oder es einfach nicht tue, werde es von der Lehrerin bestraft. Entweder werde es vor den anderen Kindern gescholten, ihm werden die Bücher weg- genommen, es müsse in der Ecke stehen, werde im Schrank einge- schlossen, geschlagen, bekomme einen Vermerk wegen schlechten Betragens oder werde als »hyperaktiv« abgestempelt. Oft genug bekommen die Eltern derartiger Kinder von den Lehrern zu hören, dass ihr Kind durchfallen und die Klasse wiederholen müsse, wenn es nicht wie die anderen Kinder seine Aufgaben erfülle, und dies, obwohl es den anderen Kindern im Lesen weit voraus ist. Selbstverständlich weisen die erstaunten Eltern darauf hin, dass das Kind der Klasse im Lesen weit voraus sei und es daher unsinnig sei, dass es die gleichen Aufgaben wie die anderen Kinder erfüllen müsste und geradezu absurd - wenn es dies nicht tate -, es durch- fallen zu lassen. Meist sind derartige Einwände zwecklos. Die Lehr- kraft beharrt darauf, das Kind habe dieselben Aufgaben zu erfüllen wie die anderen. Wenn die Eltern daraufhin zum Direktor gehen, ver- teidigt dieser üblicherweise die Position des Lehrers. Durch diese Erfahrung kommen auch viele Eltern zu Unschooling, die ansonsten damit zufrieden gewesen wären, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Andere Eltern erzählen genau entgegengesetzte Geschichten. In diesen Fällen sind die Kinder der Klasse nicht voraus, sondern 52 hinken hinterher. Wie dem Jungen, den ich in Colorado als Tutor unterstützte, bereitet ihnen das Lesen oder die Arithmetik Schwie- rigkeiten, oder sie verstehen die Lehrbücher nicht und Ähnliches mehr. Sie sind nicht imstande, die Hausaufgaben zu erledigen und werden dafür oftmals bestraft. Ihren Eltern erzählen sie, dass sie manches nicht verstehen, und dass ihnen die Lehrerin nicht hilft, auch wenn sie diese um Hilfe bitten. Die Eltern, von denen viele nach eigenen Angaben arm sind - oder deren Briefe darauf schließen las- sen, gehen daraufhin zur entsprechenden Lehrkraft und bitten sie um ein wenig zusätzliche Unterstützung für ihr Kind. Üblicherweise sagt die Lehrerin daraufhin: »Ich kann Ihrem Kind keine zusätzliche Hilfe bieten, weil ich mich auch um alle anderen Kinder kümmern muss.« Dadurch fällt das Kind immer weiter zurück. Selbstverständlich sind die Eltern in den meisten Fällen imstande, ihre Kinder in der nötigen Weise zu unterstützen. Aber sei- tens der Schule haben sie so oft zu hören bekommen, dass sie nicht in den Lernprozess des Kindes eingreifen sollen und nicht versuchen sollen, dem Kind selbst etwas beizubringen, dass sie sich mittler- weile selbst so hilflos fühlen, als hätten sie es mit einer seltenen Krankheit zu tun. Der Lehrer ist nicht bereit zu helfen, die Eltern hal- ten sich nicht für befähigt, und die Kinder, die zusätzlich zu ihren anderen Problemen vermutlich von ihren Klassenkameraden aus- gelacht und verspottet werden, weil sie zurückgefallen sind, verlie- ren allmählich jeglichen Mut. Viele brechen die Schule ab, ebenso wie viele Eltern, die mir erzählen, dass ihnen in ihrer Kindheit das- selbe passiert ist. Eine Mutter schreibt: Jan ist jetzt frei! Er ist zwar an der Santa Fe Community School angemel- det, lernt in Wirklichkeit jedoch zu Hause. Sobald die Entscheidung gefal- len war, schien eine schwere Last von ihm abzufallen. Augenblicklich über- nahm er selbst die Verantwortung für sein Leben und seine Ausbildung und begann nun auch Fachgebiete mit einer Begeisterung und einem Eifer zu studieren, die er früher nur für seine Lieblingsfächer Biologie und Sport sowie für Konstruktionsprojekte aufbrachte. Früher hasste er zum Beispiel Mathematik, und die Tatsache, dass er Mathematikhausaufgaben machen musste, führte zu unsäglich unglücklichen, elenden Stunden zu Hause. Heute setzt er sich selbst das Ziel, Mathematik zu lernen, und verfolgt es ohne all die negativen Emotionen, die ihn früher plagten. 53 Für eine arme Arbeiterfamilie ist es nicht leicht, so etwas auszuprobieren —- im Grunde ist es sogar eine etwas erschreckende Aufgabe. Allerdings habe ich das Gefühl, dass Kinder aus der Arbeiterklasse in den öffentli- chen Schulen die schlimmsten Schäden erleiden und es für sie deshalb am wichtigsten ist, sich zu befreien. In einem Artikel der News and Sun-Sentinel von Fort Lauderdale, vom 1. Juli 1979, wird von einer ähnlichen Veränderung bei einem Kind berichtet: ... So etwas Einfaches wie die Tatsache, dass das Lächeln verschwunden war, bewog die Grundschullehrerin Mrs O0’ Shea dazu, die öffentliche Aus- bildung in Frage zu stellen. »Als Kim noch klein war, war sie ein so glückliches Mädchen, das immer ein Lächeln auf dem Gesicht hatte. Mit dem Schuleintritt änderte sich das total. Sie hörte auf zu lächeln. Während der sechs Monate, die sie zur Schule ging, war sie zutiefst unglücklich. Es war seltsam. Als ich in die Schule ging, entschuldigte sich die Lehrerin wegen des Lärms, und ich dachte: »Aber hier gibt es doch gar keinen Lärm. Diese Kinder wirken, als wären sie kleine Roboter.« Diese Atmosphäre war alles andere als gesund. Und als der Tag vorüber war, fragte ich Kim: »Was ist los?«, und als ich sie ansah, wusste ich, was sie fühlte. Ich sagte: »Dann wollen wir es selbst versuchen.« »Wenn wir erzählen, was wir tun, sagen viele: »Sie sind ja Lehrerin, dann ist es ja in Ordnung««, erklärt Mrs O0’ Shea. »Aber sie begreifen nicht, dass jeder unterrichten kann. Wir glauben zu wenig an uns. Wir glauben, dass die Schule etwas für uns tun kann, das wir selbst nicht zustande bringen.« Sie gesteht auch ein, dass ihr die Lehrerausbildung nicht viel gehol- fen hat, denn die Mädchen wollen oft etwas lernen, von dem sie selbst nichts versteht. »Aber ich glaube, immer wenn du etwas lernen willst, fin- dest du auch Mittel und Wege, um es zu erlernen. Wenn du etwas wirklich willst, wirst du immer eine Lösung finden.« Mitunter finden sich auch unorthodoxe Lösungen: Um Aquarellmalerei und Biologie zu erlernen, besuchten die Mädchen Erwachsenenkurse ; als sie vor kurzem Maschinenschreiben lernten und ihre Fähigkeiten üben wollten, halfen sie einige Tage im Schlüsselgeschäft eines Freundes aus; außerdem haben sie Kurse in Tauchen, Judo und Musik belegt; von ihrer Mutter erhalten sie zu Hause Unterricht in Kunst und Werken, und für Mathematik, Lesen und Buchstabieren greifen sie zu Fachbüchern, Zeit- schriften und Büchern aus der Bibliothek. 54 In der Schule würden die Kinder zu viel Zeit mit stillen Wiederholungen verbringen. »Wenn Layne zwei oder drei Divisionsaufgaben gelöst hat, beherrscht sie Divisionen. Ich werde sie daher nicht auffordern, siebzig Aufgaben zu lösen. Meiner Meinung nach sollte es den Menschen gestat- tet sein, das Leben zu erforschen. Und das ist nicht möglich, wenn ihnen immer irgendjemand sagt, was sie zu tun haben. Wer bestimmt, was sie lernen sollen? Das wüsste ich gern. Wenn man Kinder in ein vorgegebenes Sechsstundenprogramm in der Schule steckt, zerquetscht man sie. All die Begeisterung und der Mumm, den sie als kleine Kinder haben, werden ihnen ausgetrieben.« >) Wenn Holt von Schäden schrieb, handelte es sich häufig um intel- lektuelle und emotionale Schäden. Heute hingegen sind Kinder mit wesentlich stärkeren, körperlichen Gefahren konfrontiert, als es Holt sich je hätte vorstellen können. Gewalt in der Schule ist keine neue Erschei- nung; man denke nur an den bekannten Film Die Saat der Gewalt aus den 50er Jahren oder an den High-School-Direktor Joe Clark, der in den 80er Jahren in der Schule oft den Baseballschläger zur Disziplinierung einsetzte und dafür sogar vielfach öffentlich - z.B. von Präsident Ronald Reagan - gelobt wurde. Clarks Geschichte wurde sogar zu dem Film Joe Clark gibt nicht auf verarbeitet. Man denke nur an das Schulmassaker an der Colum- bine High School und dessen schreckliche Auswirkungen auf die heutige Zeit. Zweifellos werden auch über derartige Schreckensgeschichten Filme entstehen (über dieses Schulmassaker wurde bereits von Michael Moore der Film Bowling for Columbine gedreht). An der Gesamtsituation ist lediglich neu, dass Eltern heute vermehrt ihre Kinder aufgrund von Gewalt aus der Schule nehmen. In der Vergangenheit hitten die Eltern ihre Kinder in so einem Fall lediglich auf eine Privatschule geschickt, sofern sie es sich leisten konnten, oder ihrem Kind einfach gesagt: »Reiß dich zusammen. Die Welt ist grausam, und die Schule bereitet dich auf die wirkliche Welt vor.« Nun, da unsere Kinder bei einer Auseinanderset- zung in der Schule wesentlich mehr verlieren können als ihr Selbstver- trauen, erscheint mir diese Haltung sogar noch grausamer als je zuvor. Wenn wir unseren Kindern einfach sagen, dass sie »sich zusammenreißen« sollen und wir Belastigungen, Metalldetektoren, Leibesvisitation und Kon- trolle des Eigentums, ein hohes Maß an Überwachung, willkiirliche Dro- gentests und andere »Alltiglichkeiten« des Schullebens akzeptieren, erscheint mir dies als selbsterfiillende Prophezeiung jener Welt, die wir unseren Kindern weitergeben wollen. Homeschooling ist nicht fur alle 55 Kinder, die in der Schule mit Gewalt konfrontiert werden, die richtige Lösung, aber es ist eine Option, die alle in Erwägung ziehen können. Der Druck, dem unsere Kinder heute ausgesetzt sind, ist wesentlich höher als das, was wir in unserer Kindheit in der Schule erlebt haben, denn wir haben die Schule zu einem bedeutend wichtigeren Teil des All- tags unserer Kinder gemacht, während die Schule gleichzeitig ein schwie- rigeres Umfeld für die Kinder wurde, in dem sie aufwachsen und lernen sollen. Einigen Wissenschaftlern fiel auf, dass das spontane Spiel unserer Kinder in der Nachbarschaft und in der Familie verloren gegangen ist. Außerdem stieg das Ausmaß an Hausarbeiten, Zusatzkursen, von erwach- senen Trainern organisiertem Sport und an sonstigen außerschulischen Aktivitäten. Eltern entscheiden sich dafür, weil sie glauben, dass Kinder diese Aktivitäten benötigen, um als Erwachsene einen guten Job, ein Sti- pendium oder auch nur Zugang zum College zu bekommen. Dieser Druck besteht nicht nur in der amerikanischen Gesellschaft, sondern welt- weit im gesamten konventionellen Schulwesen. In der Londoner Times wurde vor kurzem ein Artikel über die Forschungsarbeit von Dr. Jacqui Cousins veröffentlicht. Dieser für die Vereinten Nationen tätige Berater für frühkindliche Entwicklung zeigte auf, dass bereits VierjJährige im Kin- dergarten verängstigt und gestresst sind angesichts der Erwartungen, die an ihre schulischen Leistungen gestellt werden.” Einige Vierjährige spra- chen ernsthaft darüber, dass sie keinen Job bekommen werden, wenn sie nicht hart genug arbeiteten. Ein Mädchen erklärte, dass es hart arbeiten müsse und nicht spielen könne, um »mich auf meine Key Stage One Tests vorzubereiten« (diesen Tests werden in Großbritannien Kinder im Alter von fünf und sechs Jahren unterzogen). In Japan hat der Zwang, in der Schule gute Leistungen zu erbringen, sogar zu mehreren in den Massenmedien veröffentlichten Selbstmorden von Kindern geführt, mit der Folge, dass sich einige Kinder mittlerweile weigern, zur Schule zu gehen. Zurzeit verweigern in Japan mehr als 65 000 Kinder den Schulbesuch, was zu einer Stigmatisierung ihrer Familien führt. Weil unabhängiges Homeschooling in japanischen Familien noch immer eine Seltenheit 1st und es nur wenige Möglichkeiten gibt, die Schule selbständig zu wählen, ist es nicht unüblich, dass »Schulverwei- gerer«, bei denen es sich meist um Kinder im mittleren Schulalter handelt, wegen ihrer »Krankheit« in psychiatrische Kliniken eingewiesen werden. In der Webausgabe der Kyodo News war zu lesen, dass im Jahr 2001 ein Rekord an Langzeitabwesenheitsfällen vom Schulunterricht in allen Schul- stufen erreicht wurde: 56 Der Sozialarbeiter Eizaburo Yamashita meint, dass die Schulen für die Kinder nicht attraktiv seien: »Mitte der 90er Jahre setzten Eltern große Hoffnungen in die Ausbildung. Sie erwarteten, dass gute schulische Leistungen später ein sta- biles Leben garantieren. Das setzte die Kinder unter Druck, führt zu Stress und dann zu Schulverweigerung.« Seiner Beobachtung nach verschwammen die Lebensziele, als Japans über- hitzte Ökonomieblase zusammenbrach. Auch heute noch weigerten sich Kin- der aufgrund fehlender Attraktivität, die Schule zu besuchen. Yamashita spricht sich dafür aus, auch in Japan Schülern die Möglichkeit einzuräumen, alternative Ausbildungsformen zu wählen, wie etwa Home- schooling.” Obwohl in den USA eine größere Auswahl an Ausbildungsmodellen zur Verfügung steht als in Japan, fordert der Druck, besser zu sein als die anderen, in der Schule auch von unserer Jugend seinen Tribut. Doriane Lambelet Coleman, die als Professorin an der Duke Law School arbeitet, beobachtete: Zwischen 1950 und 1990 ist die Selbstmordrate bei Kindern landesweit um 400 Prozent gestiegen. Und auch diese außergewöhnlich hohe Zahl hat sich nach Jüngsten Berichten seit 1990 noch verdoppelt ... Der Weltbank zufolge, welche die Gesamtzahl von Selbstmorden von Kin- dern in den 25 am stärksten industrialisierten Ländern aufzeichnet, entfallen etwa 50 Prozent all dieser Selbstmorde auf US-amerikanische Kinder." Seit Jahren weisen liberale Kritiker wie Theodore Sizer (The Children Are Watching) und konservative Kritiker wie Charles Silberman (Die Krise der Erziehung) auf das zutiefst unzivilisierte Verhalten hin, mit dem Schu- len ihren Schülern begegnen, ohne dass viel dafür getan worden wire, um die Schulgesellschaft zivilisierter zu machen. Indem Kinder im Wett- kampf um Zensuren und die interne Klassenrangordnung gegeneinander ausgespielt werden und diese Leistungen beständig höher gewertet werden als »weniger wichtige« Ausbildungsbereiche wie Sport, Kunst, Theater- spiel, außerschulische Aktivitäten, Freiwilligenarbeit, Arbeit für die Gemeinschaft oder in Vereinen, vermitteln wir unseren Kindern die klare Botschaft, was uns Erwachsenen tatsächlich wichtig ist und was wir als »sozial wertvoll« erachten. In den Medien hingegen heißt es, dass High- School-Schüler typischerweise unter Druck gesetzt würden, wenn es darum ginge, Sex zu haben oder Drogen zu konsumieren. Eine im Jahr 1999 an mehr als 1000 High-School-Schülern durchführte Shell-Studie - 57 wobei ein gemeinsam mit dem amerikanischen Bildungsministerium erar- beiteter Fragebogen verwendet wurde - ergab, dass sich die Schüler »vor allem unter Druck fühlen, gute Zensuren zu bekommen (44%) und einen College-Platz zu erhalten (33%), gefolgt von dem Druck, gesellschaftlich dazuzugehören (29%) ... wobei der Druck, gute Zensuren zu bekommen bei guten Schülern mit 48% annähernd gleich hoch war wie bei schlech- teren Schülern mit 46%<." Der gesellschaftliche Zwang, Drogen oder Alkohol zu konsumieren wurde von 19% der Schüler empfunden, und den sozialen Druck, sexuell aktiv zu sein, empfanden 13%. Das Schul- erlebnis selbst ist für unsere heutigen Kinder wesentlich intensiver als für uns damals, und nahezu alle aktuellen Schulreformen verstärken den Druck, gute Zensuren zu bekommen und einen College-Platz zu erringen, als hätte dies ausschließlich positive Auswirkungen auf unsere Kinder. Im Zuge der Shell-Studie zeigte sich, dass viele von den Teenagern, die mit diesen Zwängen zu kämpfen haben, trotzdem glücklich und belast- bar wirken, aber nicht allen Kindern gelingt es, mit diesen Belastungen richtig umzugehen, worauf die oben erwähnte steigende Selbstmordrate hinweist. Dieses Problem betrifft nicht nur das Schulsystem in Großstädten wie New York, London oder Tokio. Tom Maher, einer meiner Freunde, war über zwanzig Jahre als Lehrer an einer öffentlichen Schule in Massa- chusetts tätig. Er schickte mir diesen Bericht aus der Lokalzeitung über eine High-School-Untersuchung, die im Jahr 2000 in seiner Heimatstadt Wakefield, Massachusetts, durchgeführt wurde: Aus der Wakefield Youth Risk Behavior Survey (Untersuchung von Risikover- halten unter Jugendlichen in Wakefield) ... ging hervor, dass jeder 10. Schiiler, der in Wakefield die 9.-12. Schulstufe besucht, bereits konkret den Versuch unternommen hat, Selbstmord zu begehen.“ Umgekehrt stehen aber auch die Lehrer dieser Kinder unter starkem Druck. Als größte landesweite Lehrergewerkschaft hat die National Edu- cation Association Lehrern bereits eine Selbstmordversicherung angebo- ten. Wie die Associated Press berichtete, 1st die Gewerkschaft bereit, »den Familien von Gewerkschaftsmitgliedern, die durch ihren Job an der Schule umgekommen sind, eine Unterstützung in Höhe von 150000 Dollar zu zahlen.« Heute wird im Erziehungswesen so viel über Testergebnisse als objek- tives Kriterium für die Finanzierung von Schulen gesprochen und in die- sem Sinn auch gehandelt, dass wir vergessen haben, in welchem Maß wir 58 für das körperliche und emotionale Wohl unserer Kinder verantwortlich sind. Einen Ausgleich zwischen dem akademischen und emotionalen Leben unserer Kinder zu erzielen ist schwieriger, als unseren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen. Gerade in diesem Bereich können Schulen von Homeschoolern lernen, wie es ist, sich wohl zu fühlen, mit sich zufrieden zu sein und was wir dafür tun können; Respekt vor Menschen zu empfinden, die anders sind als wir; mit Menschen aus anderen Gesell- schaftsschichten und einem anderen Bildungsstand zusammenzuarbeiten oder ein guter Bürger zu werden. Wie will das Schulwesen all dies erreichen, wenn ein Schiiler gegen den anderen, eine Schule gegen die andere und ein Bezirk gegen den ande- ren 1m Wettkampf um die besten Zensuren ausgespielt wird? Es ist bemer- kenswert, dass wir heutzutage und in unserem heutigen Zeitalter durch die Schule, die wir besucht haben, nicht Gleichstellung erzielen, sondern im Gegenteil eine immer stärkere Separierung fördern. Eine Integration unterschiedlicher Personen in eine gesellschaftliche Einheit lässt sich am leichtesten erreichen durch Gruppenaktivititen, Teamwork, gemeinschaftliche Bemühungen und Projekte, Spiele, Gespra- che, ein gemeinsames Ziel, aber gewiss nicht, indem man die wirtschaft- lichen Sieger und Verlierer einer Gesellschaft auf der Grundlage jener Tests voneinander trennt, die sie in ihrer Jugend abgelegt haben, oder wegen des Wohnortes ihrer Eltern. Homeschooling zeigt, dass viele Eltern Grup- penaktivititen unterstützen und ins Leben rufen, wie etwa Theatergrup- pen, Gebets- und Meditationskreise, Frisbee-Vereine, Film- und Litera- turclubs (nur um einige zu nennen, die es in meiner unmittelbaren Um- gebung gibt), und dies nicht als auflerschulische Aktivität, sondern als integralen Bestandteil des Alltags ihrer Kinder. Viele Lehrer und Home- schooling-Eltern haben mir geschrieben, dass die Bedürfnisse der Kinder wenig mit den Vorgaben des schulischen Lehrplans zu tun haben. ¢¢ 59 1 2 Häufige Einwände gegen Homeschooling Insbesondere von Pädagogen, die meine Vorträge über Home- schooling hören, werden manche Einwände so häufig vorgebracht, dass ich hier darauf eingehen möchte. Gerade weil unser Land so groß ist und von so wenigen Men- schen bevölkert wird, die zudem unterschiedlichster Herkunft sind (diese Aussage habe ich erst kürzlich in Kanada gehört), benötigen wir dann nicht eine Art gesellschaftliches Bindemit- tel, was uns zusammenhält und uns ungeachtet unserer Unter- schiede das Gefühl der Einheit verleiht? Sind in diesem Fall Öffentliche Pflichtschulen nicht der einfachste und als Binde- mittel am besten geeignete Ort? Hinsichtlich der Notwendigkeit eines Bindemittels ist dieser Einwand vollkommen berechtigt, da wir es vor allem in großen, fassetten- reichen Ländern wie den USA und Kanada, aber auch in wesentlich kleineren, homogeneren Ländern benötigen, denn auch viele dieser Länder brechen unter dem Stress des modernen Lebens auseinan- der. Derzeit scheint der Hass auf »Feindesländer« in den USA das vor- rangige soziale Bindemittel zu sein. Wenn wir nicht durch einen der- artigen Hass kurzfristig zusammengeschweißt werden, betrachten viele von uns unsere Mitbürger - und sogar jene derselben Haut- farbe, Religion usw. - nur als unsere natürlichen Feinde und recht- mäßige Beute, die es niederzumachen gilt, wo immer wir können. | 61 Wir halten diese Betrachtungsweise unserer Mitmenschen sogar für eine Tugend, die wir »Wettbewerb« nennen. Dieser Ansatz mag halb- wegs gut funktioniert haben, als unser Land noch jung, nahezu unbe- siedelt und reich an natürlichen Rohstoffen war, aber nicht mehr heute. Für unser Überleben, geschweige denn unsere Gesundheit und unser Glück, benötigen wir ein bedeutend besseres soziales Bin- demittel. Es gibt Orte, an denen die Gemeinschaft zusammenkommt, und es gibt gemeinsame Aktivitäten, die uns helfen können, dieses soziale Bindemittel zu bilden. Aber das können nicht Schulen und Aktivitäten sein, die junge Menschen in Sieger und Verlierer aufteilen und die Verlierer darauf vorbereiten, ein ganzes Leben lang zu ver- lieren. Diese beiden Aufgaben lassen sich nicht gleichzeitig an ein und demselben Ort erfüllen. Durch gemeinsame Erfahrungen, bei denen sie sich gut fühlen, sind Menschen am besten - oder überhaupt nur dann - imstande, Barrieren zwischen Rassen, Gesellschaftsschichten, Gebräuchen und Glauben zu überwinden. Nur auf diese Weise steigt ihr Selbstbewus- stsein, so dass sie auch das Bewusstsein für die Einzigartigkeit, Würde und den Wert anderer entwickeln. Solange die Schulen jedoch ihre heutigen gesellschaftlichen Aufgaben erfüllen, werden sie nicht in der Lage sein, der Mehrheit der Kinder derartige Erfahrungen zu bieten. Die meisten schulischen Erfahrungen bewirken bei Kindern das Gegenteil. Sie empfinden sich als dumm, unfähig und schämen sich. Sobald sie ihr Selbstvertrauen verloren haben und sich selbst verabscheuen, suchen sie jemanden, auf den sie herabsehen können —- ärmere Kinder, Kinder anderer Rassen, Kinder, die schlechtere Zen- suren bekommen -, um sich ein wenig besser zu fühlen. Wenn Kinder schon in der Schule lernen, Kinder anderer gesell- schaftlicher Gruppierungen zu verachten, zu fürchten oder zu has- sen, könnte dieser Hass nicht noch geschürt werden, wenn sie in der Schule nicht auf diese träfen? In der Schule sähen sie diese anderen Gruppen zumindest als reale Menschen. Ohne Schule wären sie nur Abstraktionen, Phantome. Dies könnte durchaus zutreffen, aber nur auf jene wenigen Kinder, deren Welt außerhalb der Schule leer, müh- sam, entwürdigend und bedrohlich ist. Die meisten frei lernenden Kinder wachsen mit einem wesentlich stärkeren Gefühl für die eigene Würde und den eigenen Wert auf, so dass sie seltener dazu kom- men, andere zu verachten oder zu hassen. 62 Die wichtige Frage, wie man ein besseres Zusammengehorigkeits- gefühl mit andersartigen Menschen entwickeln kann, lässt sich mei- ner Meinung nach am besten mit einer Geschichte über John L. Sulli- van beantworten, den ehemaligen Boxweltmeister im Schwergewicht. Als dieser einmal mit einem Freund in einer New Yorker Straßen- bahn fuhr, stieg ein junger, stämmiger Betrunkener ein. Er torkelte durch den Waggon und stieß dabei andere Passagiere aus dem Weg. Als er an John vorüberkam, versetzte er auch ihm einen kräftigen Stoß mit der Schulter. John griff rasch nach einem Haltegriff, um nicht umzufallen, sagte aber nichts. Während der Betrunkene weitertor- kelte, fragte Johns Freund: »Willst du ihn damit einfach davonkom- men lassen?« John zuckte die Achseln und meinte: »Warum nicht?« »Aber du bist Schwergewichtsweltmeister«, brauste sein Freund auf, »du musst nicht so verdammt höflich sein.« Daraufhin antwortete John: »Als Schwergewichtsweltmeister kann ich es mir leisten.« Um das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb unserer Länder zu steigern, benötigen wir mehr Menschen, die zu dieser Toleranz willig und bereit sind und andersartigen Menschen nicht nur gleich- gültig gegenüberstehen, sondern sich die Mühe machen, sie zu verstehen und die Welt mit ihren Augen zu sehen. Gesellschaftliche Tugenden wie diese kann man niemandem einreden, einpredigen, eindiskutieren oder durch Bestechung und Drohung einprägen. Sie sind ein Mehrwert, ein Überfluss in den Menschen, die für sich selbst genug Liebe und Respekt haben, so dass auch noch genug für andere da ist. In öffentlichen Schulen bietet sich Kindern die Gelegenheit, viele andersartige Kinder zu treffen und kennenzulernen. Wie soll dies geschehen, wenn sie keine öffentliche Schule besuchen? Der erste Teil der Antwort auf diese Frage muss lauten, dass dies in öffentlichen Schulen nur selten tatsächlich geschieht. Abgesehen von den wenigen Zwergschulen haben außer ein paar Topsportlern nur wenige Schüler Kontakt mit Kindern, die anders sind als sie selbst, und dieser Kontakt wird von Schulstufe zu Schulstufe immer geringer. In den meisten großen Schulen werden die Kinder in Zweige separiert. [In Deutschland sind diese je nach Bundesland in Sonder-, Haupt-, Realschule oder Gymnasium unterteilt, manchmal räumlich-institu- tionell, manchmal nur innerhalb einer Gesamtschule. ] Schüler der 63 jeweiligen Zweige besuchen Kurse, die Schüler aus anderen Zweigen nicht absolvieren. Auf diese Weise treffen sich Schüler unterschiedli- cher Zweige nur selten in ein und demselben Klassenzimmer bzw. Kurs. Zahlreiche Studien haben jedoch aufgezeigt, dass sich diese Zweige auffällig mit dem Familieneinkommen und dem sozialen Sta- tus decken: Die reichsten und sozial hochrangigsten Kinder besuchen den höchstrangigen Zweig, die Kinder der nächsten Einkommens- klasse den nächsten bis zu den ärmsten Kindern im niedrigsten Zweig. Theoretisch werden die Kinder je nach ihren schulischen Fähig- keiten den einzelnen Zweigen zugewiesen. In der Praxis werden die Kinder fast schon bei Schuleintritt, jedenfalls noch lange bevor sie zeigen konnten, welche Fähigkeiten sie möglicherweise besitzen, den einzelnen Zweigen zugeordnet. Sobald ein Kind einem Zweig zuge- wiesen ist, gibt es kaum noch ein Entrinnen. Eine Lehrerin einer zwei- ten Schulstufe aus Chicago erzählte mir einmal, dass sie in ihrer letzt- rangigen Klasse, die aus armen Kindern nicht weißer Hautfarbe bestand, zwei bis drei Schüler habe, die außergewöhnliche schuli- sche Leistungen erbrächten. Da sie alles, was sie lernen sollten, schnell und gut lernten, gab sie Ihnen die Bestnote. Kurz nachdem sie ihre Zensuren eingereicht hatte, wurde sie zum Direktor gerufen und gefragt, warum sie einigen ihrer Schüler Einsen gegeben habe. Sie erklärte, dass die Kinder klug seien und ihre Aufgaben gut und voll- ständig erfüllt hätten. Der Direktor befahl ihr, die Zensuren der Schüler herabzusetzen. Denn wenn die Kinder zu Bestnoten imstande wären, hätte man sie nicht dem niedrigsten Zweig zugewiesen. Wie , diese Lehrerin herausfand, waren die Kinder allerdings direkt nach ihrem Schuleintritt dem niedrigsten Zweig zugeteilt worden. Über Klassen- und ethnische Konflikte in den Schulen, und vor allem in den höheren Klassen, wurde schon genug geschrieben, so dass ich dem nichts hinzufügen möchte. Selbst wenn mehrere Ethnien innerhalb einer Schule schon über einen längeren Zeitraum vereint werden, bricht diese Einheit üblicherweise in der dritten Schulstufe oder früher auseinander. Ab der fünften Schulstufe sind Kinder in ihrem Sozialleben nahezu vollständig nach ethnischen Gruppen aufgeteilt, die einander mit zunehmendem Alter der Kinder immer feindlicher gegenüberstehen. Selbst in Schulen, in denen nur eine Ethnie vertre- ten ist - seien es Weiße oder Farbige -, gibt es immer noch die Tren- nung nach sozialen Klassen, die einander verachten und untereinan- der Konflikte ausfechten. Nur wenige Freundschaften gehen über diese 64 Trennungslinien hinweg, und die steigende Gewalt in unseren Schulen entsteht ebenfalls fast nur aus Konflikten zwischen diesen Gruppen. Die Vorstellung, dass in den Schulen glückliche Gruppen von Kin- dern mit deutlich unterschiedlicher Herkunft zusammengemischt werden, stimmt somit kaum. Zurück bleibt die Frage, wie sich Kinder unterschiedlicher Herkunft kennenlernen, wenn sie nicht zur Schule gehen? Ich weiß es nicht. Solange die Anzahl von Kindern, die nicht zur Schule gehen, gering bleibt, wird dies schwierig zu bewerkstelli- gen sein. [Anm. d. dt. Hrsg.: In Deutschland gab es bis vor kurzem ein blühendes Leben von Sportvereinen, Chören, Musikschulen, Pfad- findern, Naturschutz-Organisationen, Landjugend, Freien Kunst- schulen und anderen Vereinen aller Art. Seit der schrittweisen Ein- führung von Ganztagsschulen ist diese Möglichkeit, dass Kinder und Jugendliche sich aufgrund gemeinsamer Interessen in freiwilligen nachmittäglichen Aktivitäten kennen lernen, zunehmend bedroht. Die Kinder haben schlicht keine Zeit mehr. ] Mit steigender Zahl von Kindern, die frei lernen, wird es auch mehr Orte geben, die sie besu- chen, und mehr Aktivitäten, denen sie nachgehen, die in keinerlei Zusammenhang mit der Schule stehen. Wir können jedoch darauf hoffen - und in gewissem Grad auch lenkend eingreifen, dass sich an diesen Orten Kinder unterschiedlicher Herkunft treffen. Außer- dem sehen sich Personen, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, im Allgemeinen als Teil einer erweiterten Familie. Sie betreiben Net- working, schreiben einander Briefe, besuchen einander, wenn dies möglich ist, organisieren Treffen usw. Ich hoffe, dass sich diese Ent- wicklung auch fortsetzt, wenn sich mehr farbige Familien und Fami- lien aus der Arbeiterklasse entschließen, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen, was gut möglich ist. Eltern, die diese Art von Zuneigung und Vertrauen zu ihren Kindern empfinden, fühlen sich meist auch anderen stark verbunden, die ebenso empfinden. Wie können Eltern mit stark eingeschränkten, bigotten Ansichten daran gehindert werden, diese an ihre Kinder weiterzugeben? In diesem Fall müssen wir zunächst die Frage beantworten, ob wir ein Recht dazu haben, dies zu verhindern, und selbst wenn, ob wir es überhaupt können? Bisher war ich der Auffassung, in einem freien Land bestünde Glaubensfreiheit, solange man die Gesetze befolgt. Der eigene 65 Glaube gehe die Regierung nichts an, geschweige denn, dass die Schulen bestimmen dürften, welche Ideen gut und welche schlecht seien. Haben wir dieses hohe Gut aufgegeben? Und wenn ja, wollen wir das wirklich? Angenommen, wir übertragen der Regierung durch die Schulpflicht die Macht, die guten Ansichten zu fördern und die schlechten auszumerzen. Wem übertragen wir dann die Macht zu entscheiden, welche Ansichten gut sind und welche schlecht? Der Legislative oder der staatlichen Schulaufsichtsbehörde? Jeder, der über diese Frage ernsthaft nachdenkt, wird zu der Überzeugung gelangen, dass niemand in der Regierung diese Macht besitzen darf. Daraus folgt, dass die Menschen nicht nur vollstän- dige Glaubensfreiheit haben müssen, sondern auch das Recht, ihre Ansichten an ihre Kinder weiterzugeben. Wir können nicht einigen dieses Recht zusprechen und anderen nicht. Aber was ist mit vorur- teilsbehafteten, bigotten und abergläubischen Menschen? Wir kön- nen doch diesen Menschen nicht erlauben, ihren Kindern die Ansicht zu vermitteln, dass die eine oder andere Rasse besser oder die Erde eine Scheibe sei! Doch was sollte die Alternative sein? Wenn wir das sagen, was viele von uns sich wünschen, dass es Eltern erlaubt sein soll, ihren Kindern alles zu sagen, was sie wollen, solange es nur der Wahrheit entspricht, kommen wir zu unserer Eingangsfrage zurück: Was ist Wahrheit? Wenn wir darin übereinstimmen, dass es weder in der Regierung noch sonst wo jemanden gibt, dem wir die Entschei- dung darüber anvertrauen wollen - zumindest glaube und hoffe ich, dass wir darin übereinstimmen -, dann folgt daraus, dass wir den Schulen nicht das Recht übertragen dürfen, allen Kindern zu erzählen, dass einige Ansichten der Wahrheit entsprechen und andere nicht. Da jede Schule durch Worte und Taten einige Ansich- ten vermitteln muss, werden jene Eltern, die diese in den staatlichen Schulen vermittelten Ansichten teilen, ihre Kinder gerne in diese Schulen schicken, während jene, die diese Ansichten nicht teilen, zumindest eine Wahlmöglichkeit haben sollten. Das ist im Grunde auch die Aussage des amerikanischen Obersten Gerichtshofes im Fall Pierce gegen Society of Sisters (siehe S. 253). Gerade der Umstand, dass diese Schulen handeln, als besäßen sie das ausdrückliche Recht, bestimmte Ansichten zu fördern und andere zurückzudrängen, ruft bei immer mehr Menschen leiden- schaftlichen Widerstand gegen die öffentlichen Schulen hervor. Eine relativ kleine Gruppe von Personen, die sich aus Ausbildungsbüro- 66 kraten auf nationaler und bundesstaatlicher Ebene zusammensetzt und größtenteils kontrolliert, was die Schulen sagen und tun, nutzen die Schule in zunehmendem Maß dafür, jene Ansichten zu verbreiten, die ihrer Meinung nach gut für die Kinder oder das Land sind. Wir haben jedoch nie eine formelle Entscheidung darüber getroffen oder einen wie immer gearteten politischen Prozess durchlaufen, der den Schulen diese Macht zugesteht, geschweige denn festgelegt, welche Ansichten die Schulen unserer Meinung nach verbreiten sollen. Im Gegenteil gibt es guten Grund anzunehmen, dass die Mehrheit der Menschen viele oder die meisten Ansichten heftig ablehnt, die heute von den Schulen verbreitet werden. Selbst wenn wir alle zustimmen, dass die Schulen versuchen sol- len, engstirnige und bigotte Ansichten auszumerzen, müssten wir uns immer noch fragen, ob dies auch funktioniert? Offensichtlich funk- tioniert es nicht. Mit Ausnahme einiger reicher Kinder besuchen nahezu alle Kinder in den USA seit Generationen öffentliche Schulen. Wenn die Schulen tatsächlich so erfolgreich bei der Bekämpfung von Vorurteilen sind, wie sie behaupten, dürfte es mittlerweile keine mehr geben. Die Realität sieht anders aus. Wenn wir unsere Kinder nicht zur Schule schicken, wie sollen sie dann lernen, sich in eine Massengesellschaft einzufügen? Wenn wir unsere Kinder nicht zur Schule schicken, wie kom- men sie dann mit Werten in Kontakt, die sich von den kommer- ziellen Werten der Massengesellschaft unterscheiden? Oft stellen mir Pädagogen in ein und derselben Versammlung inner- halb weniger Minuten diese beiden Fragen, die sich offensichtlich gegenseitig ausschließen. Möglicherweise sind Schulen tatsächlich imstande, Kinder auf die Massengesellschaft vorzubereiten. Dies bedeutet unter anderem, dass sie das glauben, was die meisten Men- schen glauben, und das mögen, was die meisten mögen. Vielleicht sind Schulen auch imstande, Kinder darin zu unterstützen, ihre eige- nen Werte zu finden, mit denen sie zumindest viele Werte der Mas- sengesellschaft zurückdrängen oder ihnen widerstehen können. Aber sie können gewiss nicht beides. Es gehört offenbar zu den Glaubensartikeln von Pädagogen, dass sie - und nur sie allein - den Jugendlichen eine Vision der höheren Werte vermitteln können. Bei Zusammenkünften sprechen sie oft, als 67 würden sie ihre gesamte Zeit und Energie dafür aufwenden, Kinder vor den korrumpierenden Werten der Massenmedien und der Fernseh- gesellschaft zu bewahren. Von wem, wenn nicht von uns, erfahren Kinder etwas über gute Bücher, über Shakespeare und über Kultur? Wir sind die Einzigen, die sich Gedanken darüber machen, was für sie gut ist. Alle anderen versuchen nur, sie auszubeuten. Tatsächlich legen die meisten Schulen wesentlich mehr Wert darauf, dass die Kinder die Werte der Massengesellschaft akzeptieren, als dass sie ihnen hel- fen, diesen zu widerstehen. Wenn Schulleute von Familien hören, die ihre Kinder zu Hause ausbilden, sagen sie meist: »Fürchten Sie nicht, dass Ihre Kinder als andersartige Außenseiter und Eigenbrötler auf- wachsen, die nicht imstande sind, sich in die Gesellschaft zu inte- grieren?« Sie setzen es als Selbstverständlichkeit voraus, dass wir nur dann in dieser Welt ein glückliches, sinnerfülltes und erfolgreiches Leben führen können, wenn wir im Mainstream schwimmen. Die schulischen Anstrengungen, Kindern eine höhere Kultur schmackhaft zu machen, funktionieren jedoch nur sehr selten, weil die Schulen selbst diese Werte offenbar gering schätzen. In meinem Vorwort zu Roland Betts’ Buch Acting Out - einem erschreckenden Bericht über die öffentlichen Schulen in New York - schrieb ich: ... Die Schulen in unseren Großstädten werden größtenteils von Kindern besucht, die der armen Schicht der nichtweißen Bevölkerung angehören. Ihr Anteil wird in Zukunft sogar noch weiter steigen. Sie sind die jüngsten Mitglieder und Opfer der kranken Subkultur einer kranken Gesellschaft, die von Gewalt besessen ist und welche die von den Medien verbreiteten Werte wie Dominanz, Luxus und Macht verehrt. Diese Kultur, oder um prä- zise Zu sein, diese Antikultur, hat ihren Mitgliedern und Opfern mehr Scha- den zugefügt und sie stärker zersplittert, degradiert und korrumpiert, als Jahrhunderte der Sklaverei und der brutalsten Repression es zustande gebracht haben. Tag für Tag dringt diese Antikultur in Form der Kinder in . die Schulen ein. Besäßen die Schulen eine echte, eigene menschliche Kul- tur, die sie selbst tatsächlich verstünden, an die sie glaubten, die sie wert- schätzten und lebten, wie es vor einigen Jahren in der First Street School der Fall war, könnten sie dieser Antikultur kräftig Widerstand leisten und vielleicht sogar einige Kinder für sich gewinnen. Aber da die Schulkultur nur eine farblose und mitunter etwas ängstliche und affektierte Version der Straßenkultur ist ... verändert sich gar nichts. Die Schulen sind nicht nur weit davon entfernt, Kinder dem Sog von Gier, Neid und Gewalt zu ent- reißen, sondern können die Kinder nicht einmal voreinander schützen. 68 Einer meiner Freunde ist Anfang dreißig, arbeitet als Journalist und ist Kindern gegenüber liberal und verständnisvoll eingestellt. Vor nicht allzu langer Zeit besuchte er mehrere High Schools in den wohl- habenden Vororten von Los Angeles, wo auch er selbst aufwuchs, um mit Schülern zu sprechen und herauszufinden, was sie am meis- ten interessierte. Neugierig fragte ich ihn nach dem Resultat. Nach kurzem Schweigen meinte er: »Wie es scheint, interessieren sie sich vor allem für Geld, Sex und Drogen.« Er war sichtlich ebenso unglück- lich, dies zu sagen, wie ich, dies zu hören. Wir hätten lieber heraus- gefunden, dass diese begünstigten jungen Menschen einen Beitrag für eine bessere Welt leisten wollten, wonach so viele vor fünfzehn Jahren noch gestrebt hatten. Allerdings sollte es uns nicht über- raschen, dass die Jugendlichen sich vor allem für das interessieren, was auch die meisten Erwachsenen am meisten interessiert. Zudem ist es nicht gerecht, den Schulen für das Interesse der Jugend an diesen Dingen die Schuld zuzuweisen, wie viele es tun. Von allen Seiten unter Beschuss geraten, sagen die Schulen rund- heraus: »Wir haben diese Werte nicht erfunden.« Das stimmt. Aller- dings können und müssen wir darauf hinweisen, dass die Schule in ihren unterschiedlich intensiven Bemühungen, diese Werte zu bekämpfen, nahezu vollständig gescheitert ist. Doch nun wieder zurück zu meiner Eingangsbemerkung: Die Schulen können von sich kaum behaupten, die Kinder einerseits zu lehren, diese in unserer kommerziellen Kultur vorherrschenden Werte zu akzeptieren und ihnen andererseits zu widerstehen. Wenn Kinder zu Hause unterrichtet werden, entgeht ihnen dann nicht das wertvolle Sozialleben der Schule? Wenn es keine anderen Gründe gäbe, um Kinder von Schulen fern- zuhalten, wäre das Sozialleben Grund genug. Mit Ausnahme einiger weniger Schulen herrschte in allen Schulen, in denen ich unterrich- tete, die ich besuchte oder von denen ich erfahren habe, ein von Kleinlichkeit, Dünkelhaftigkeit, Konkurrenz- und Statusstreben geprägtes Sozialleben, bei dem es vor allem um hochnäsige Gespräche darüber ging, wer welche Geburtstagsparty besucht, wel- che Weihnachtsgeschenke bekommen und wie viele Valentinskar- ten erhalten hatte oder wer mit wem sprechen würde und mit wem auf gar keinen Fall. Schon in der ersten Schulstufe unterteilt sich die 69 Klasse in Anführer (energievolle und - oft verdientermaßen - beliebte Kinder), ihre Anhänger und die Außenseiter, die demon- strativ von diesen Gruppen ausgeschlossen werden. Ich erinnere mich, dass mir meine Schwester erzählte, dass eines ihrer Kinder - das Mädchen war damals fünf Jahre alt - noch nie etwas wirklich Gemeines oder Unsinniges getan hätte, bis es in die Schule kam. Wobei es sich um eine liebenswerte Schule in einer beschaulichen Kleinstadt handelte. Der Schriftsteller, Dichter und ehemalige Professor in Antioch, Jud Jerome, erzählte, wie sein Sohn Topher in einer von einer Kom- mune geführten freien Schule mit dem sogenannten »Sozialleben« in Kontakt kam: ... Obwohl wir uns freuten, dass er (in der Schule) glücklich war und sich wohl fühlte, beobachteten wir betrübt, wie er in der Schule von einer eigenstän- digen Persönlichkeit zu einem Kind verfiel, das unter dem Einfluss seiner Klassenkameraden stand. Es erinnerte an das, was wir mit ihm im Kinder- garten erlebt hatten. Es gibt verschiedene Arten von kindischem Benehmen, das die meisten Menschen als natürlich akzeptieren, als müsse man es durchmachen und dürfe es den Kindern nicht vorenthalten: Dummheit, Maßlosigkeit, willkürliche Aufmüpfigkeit, Geheimniskrämerei, Grausamkeit gegenüber anderen Kindern, das Ausschließen anderer, die Sucht nach bestimmtem Spielzeug, Besitztümern oder sonstigem Krempel, Geldver- schwendung, gekaufte Unterhaltung, die Manipulation von Erwachsenen, damit sie verschiedene Dinge für die Kinder tun - all dies erscheint mir nicht notwendig und keineswegs »normal« (Anmerkung: abgesehen davon, dass es überall vorkommt), und ich verabscheue ein derartiges Verhalten ebenso sehr bei Kindern wie bei Erwachsenen. Und weil sich dieses Verhalten als Folge der Beeinflussung durch Gleichaltrige ergibt, glaube ich, dass es ausschließlich darauf zurückzuführen ist, dass Kinder in den Schulen zusam- mengepfercht werden und dort diese Verhaltensweisen entwickeln. Es erin- nerte an Gefangene, die unter dem Druck der Situation bestimmte Verhal- tensweisen entwickeln, um der Langeweile zu entgehen oder die Aufseher zu ärgern. Diese Verhaltensweisen scheinen umso schlimmer zu sein, je rei- cher die Familien sind, aus denen die Kinder stammen. Nach zwei Jahren Schulbesuch hätte sich Topher emotional wahrscheinlich um zwei Jahre zurückentwickelt. Selbstverständlich kann ich dies nicht mit Sicherheit sagen, und die Angst davor war auch nicht der Grund, warum wir ihn aus der Schule genommen haben. Aber nachdem wir gesehen haben, wie er sich durch den Schulbesuch verändert hatte, bedauern wir diesen Schritt nicht. 70 Einer unserer Leser schickte uns eine lebhafte Beschreibung eines offenbar typischen Schulerlebnisses: Meine Mutter erzählte mir, dass ich ihr nach meinem ersten Tag im Kin- dergarten versicherte, dass ich nicht mehr in die Schule gehen müsse, weil ich bereits alles wüsste. Das klingt nach Arroganz? Keineswegs. Immerhin wusste ich, wie man sich still verhält, wie man den Erzählungen der ande- ren Kinder zuhört und wie man singt. Während ich die Welt der Erwachse- nen kennenlernen wollte, beschränkte man mich auf eine Welt, die nach Meinung der Erwachsenen genau das ist, was sich Kinder wünschen. Meine großartige Begeisterung für die Vorschule ereilte ein früher Tod ... Als eine meiner ersten Lektionen lernte ich, wie man sich schämt. Als man mir in der ersten Schulstufe auftrug, ein Bild auszumalen, das eine Mutter mit Tochter bei der Küchenarbeit zeigte, kam mir die Idee, das gesamte Bild gelb anzumalen, so dass es sich von allen anderen Bildern unterscheiden möge. Als ich es der Lehrerin gab, erwartete ich, dass sie zufrieden sei, wenn nicht gar ehrlich begeistert. Stattdessen starrte sie mich eine Ewigkeit lang an - zumindest fühlte es sich so an, so dass ich mich zutiefst schämte und verachtete ... Damals war ich sechs Jahre alt. Da Spontaneität gefährlich war - es widersprach dem, was Lehrer von Kindern erwarteten -, wurde die Lüge zu einer wertvollen Überlebenstak- tik. In der ersten Schulstufe wurde die Klasse in den Raum des Kindergar- tens geschickt, um ohne Aufsicht eine Aufgabe zu erledigen. Ich nützte die Gelegenheit, um eine Plastikpuppe kopfüber in die Plastiktoilette eines möblierten Puppenhauses zu stecken. Niemand wusste, wer es getan hatte, aber alle fanden es spaßig - bis auf die Lehrerin. Sie lief vor Wut rot an (sie war Nonne, und Anfang der 60er Jahre zählten die katholischen Schulen für die Arbeiterklasse nicht zu den humansten Einrichtungen), so dass ich eine kräftige Tracht Prügel fürchtete. Schließlich fiel der Verdacht auf mich, doch ich log so erfolgreich - zumindest aus meiner Sicht -, dass ein anderer Junge für die Tat zur Verantwortung gezogen wurde. Ich wünschte, ich hätte gesagt: »Ja, ich habe es getan, na und?« Aber ich hatte Angst. Diese Leh- rerin, die gleichzeitig Schulleiterin war, war eine Autoritätsperson, wie sie im Buche stand. Auf jede Übertretung ihrer größtenteils ungeschriebenen Gesetze reagierte sie mit demselben verärgerten Ausspruch: »Fordert mich nicht heraus!« Sie fühlte sich stets herausgefordert, auch wenn wir es nie gewagt hätten, sie tatsächlich herauszufordern. Ich will nun zwei ihrer schwerwiegendsten »Herausforderungen« beschreiben: Die erste Untat bestand in einem Fehlverhalten, das die anwesende Lehrerin nicht bemerkte, die zufällig in das Klassenzimmer blickende 71 Schulleiterin jedoch schon. Während die Kinder der fünften bis achten Schulstufe (es war eine kleine Schule) im selben Raum ein Lied einstu- dierten, stürmte sie wütend herein, sprach entrüstet über Herausforde- rungen und maßregelte einen bestimmten Schüler heftig. Auch die zweite Untat betraf diesen Jungen. Diesmal machte er in die Hose. Vielleicht war er krank oder hatte ein seelisches Problem. [Anmer- kung des Autors: Vielleicht hatte man ihm auch nur die Erlaubnis verwei- gert, auf die Toilette zu gehen, was in der Schule häufig geschah.] Er tat es jedenfalls nicht regelmäßig. Damals war er etwa zwölf Jahre alt. Selbst- verständlich rief dieses Verhalten nach Bestrafung. Er wurde gezwungen, sich vor jeder Klasse der Schule aufzustellen, während die Lehrerin der Klasse sein Vergehen erklärte. Als er in unser Klassenzimmer kam, bezeichnete ihn die Schulleiterin als Stinker der Schule und erklärte uns dann den Grund dafür. Ich erinnere mich noch besonders an das schmerz- liche Lächeln auf seinem Gesicht. Angst und Erniedrigung kamen häufig vor. Auch wenn es nicht oft zu einer schweren Prügelstrafe kam, lebten wir in einem Umfeld, in dem dies jederzeit möglich gewesen wäre. Das wussten wir. Ich konnte zwar nicht sagen, was an der Schule falsch war, hatte jedoch das vage Gefühl, dass die Dinge nicht so liefen, wie sie sollten. Ich war kein edles Kind, das sich den tyrannischen Lehrern widersetzte. Im Gegenteil: Ich liebte das Spiel mit Angst und Erniedrigung und war darin ein wahrer Meister. »Wir können es kaum erwarten, dass jemand für unsere Erniedrigung bezahlt und uns so ausgeliefert ist, wie wir damals ausgeliefert waren« (aus John Holt: Freiheit ist mehr: Von den Grenzen schulischer Erziehung). Ich weiß nicht, wann es begann, aber in der achten Schulstufe terrorisierten einige von uns ein paar ängstliche Jungen aus unserer Schule. Wir stießen unser jeweiliges Opfer hin und her, verspotteten den Jungen, zogen ihm das Hemd aus, schubsten ihn herum, wrangen den Tafelschwamm über ihm aus, rissen ihn an den Haaren und jagten ihn quer über den Schulhof. Wenn ich allein war, hatte ich kein Problem damit, mit diesen Jungs befreundet zu sein. Aber wenn wir als Gruppe auftraten, begann die Quäle- rei. Weil wir immer als Gruppe handelten [hervorgehoben durch den Autor], fanden die Quälereien nie ein Ende. Vor allem zwei Jungen waren davon betroffen. Für sie war es das Beste, sich auf dem Schulhof erst gar nicht blicken zu lassen. Einer der beiden ging zum Mittagessen nach Hause und kehrte erst in der letzten Minute der Pause zurück. Wir dachten nicht wei- ter darüber nach, denn für uns waren es nur Dummejungenstreiche. In Wirklichkeit war es Sadismus, dem ich fast nicht widerstehen konnte. 72 Schließlich wendeten wir uns auch gegen die Mitglieder unserer eigenen Gruppe und übten unsere Fertigkeiten an einem auserwählten Opfer aus. Ich erinnere mich, dass ich einmal über die Erniedrigung eines anderen Jungen so heftig lachte, dass ich mit einem Muskelkater im Bauch nach Hause kam. Allerdings fühlte ich mich dabei leer und unglücklich. Trotzdem tat ich es am nächsten Tag wieder. Für mich endete es erst, als ich selbst zum Opfer wurde. Das war die reinste Hölle. Alle aus der Gruppe wandten ihre gesamte Zeit dafür auf, mich zu demütigen. Die einzelnen Handlungen waren unbedeutend: So war es sehr beliebt, einem unaufmerksamen Schüler auf den Kopf zu schlagen. Aber es geschah den ganzen Tag über auf unterschiedliche Weise. Nach den Weihnachtsferien wechselte einer meiner größten Folterknechte auf eine andere Schule. Für mich beruhigte sich die Lage dadurch ein wenig, aber nicht für die ängstlichen Jungen und die jüngeren Kinder der Schule. Mit den männlichen Schülern, die einige Jahre jünger waren als wir, kam es mehrmals beinahe zu schwer- wiegenden Gewaltakten. Ich weiß nicht mehr, wann diese sadistischen Taten begannen oder endeten. Ich weiß nur, dass ich weder vor den letzten beiden Jahren der Grundschule noch danach je wieder so handelte. Die Erfahrungen dieses Lesers sind gewiss nicht ungewöhnlich. Im Alter von neun Jahren besuchte ich eine öffentliche Grundschule, in der die meisten Jungen größer und älter waren als ich und vorwie- gend aus italienischen und polnischen Arbeiterfamilien stammten. Von den Mutigsten bis zu den am wenigsten Mutigen schlug mich einer nach dem anderen in der Pause, bis ich zu Boden stürzte, und/oder zu weinen begann. Kaum ein Junge, der mich schon einmal geschlagen hatte, wiederholte die Handlung. Sie schienen auch wenig Böses darin zu sehen; es war, als täten sie es, um mir den mir zustehenden Platz in der Klasse zuzuweisen. Schließlich hatten mich alle verprügelt bis auf einen Jungen namens Henry. Eines Tages bil- deten die größeren Jungen einen Kreis um uns und befahlen uns, miteinander zu kämpfen, um herauszufinden, wer der größere Schwächling der sechsten Schulstufe sei. Sowohl Henry als auch ich erklärten, dass wir nicht kämpfen wollten. Daraufhin meinten sie, wenn wir es nicht täten, würden sie alle uns verprügeln. Eine ganze Weile umkreisten Henry und ich einander und holten zu wilden Hie- ben aus. Nachdem eine Zeitlang nichts passiert war, traf ich mit einem meiner wilden Schwinger Henrys Nase, die zu bluten begann. 73 Sofort begann Henry zu weinen und ich mit ihm. Damit gaben sich die großen Jungs zufrieden; sie erklärten Henry offiziell zum größten Schwächling der Klasse. Ein Lehrer schreibt: Am Freitag las ich GWS und war wie üblich fasziniert. Mich interessierte vor allem der Aspekt »Sozialleben« in den Schulen und die Schäden, die dadurch entstehen. Heute Morgen fragte ich die Schüler meiner dritten Schulstufe: »Findet ihr, dass die Kinder in unserer Schule nett und freund- lich miteinander umgehen?« Von 22 Kindern erklärten nur zwei, dass sie etwas wie Freundlichkeit gesehen hätten, während die übrigen meinten, dass die meisten Kinder gemein seien, einander mit Schimpfworten überhäuften, kränkten usw. Ehrlich gesagt war ich erstaunt. Ich hatte bislang das Gefühl gehabt, dass unsere Schule ein ausgesprochen freundlicher Ort sei ... Wenn ich Gesprächspartnern erkläre, dass das Sozialleben in den meisten Schulen und Klassenzimmern von Kleinlichkeit, Dünkelhaf- tigkeit, Wettbewerbs- und Statusstreben geprägt ist, erstaunt mich jedes Mal wieder ihre Antwort: Von mehreren hundert Menschen, mit denen ich bereits darüber diskutiert habe, hat mir bisher kein einzi- ger gesagt, das Sozialleben innerhalb der Schule sei angenehm, großzügig, hilfsbereit, demokratisch, freundlich, liebevoll oder gut für die Kinder. Kein Einziger, ohne Ausnahme. Wenn ich das Sozialleben in den Schulen verdamme, sagen alle übereinstimmend: »Aber genau damit werden die Kinder auch im richtigen Leben konfrontiert.« Die »Peergroups«, in die wir unsere Kinder hineinzwängen, wir- ken sich auf vielfältige und machtvolle Weise schädlich aus. Hin und wieder sehe ich in der U-Bahn oder an anderen öffentlichen Plätzen Jugendliche im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren, manchmal auch gerade einmal zehn Jahre alt, die Zigaretten rauchen. Es ist jedoch nicht nur ein komischer und Mitleid erregender Anblick, sondern auch eine echte Qual. Der Rauch schmeckt grauenvoll. Kinder haben emp- findliche Geschmacksknospen, so dass ihnen der Rauch noch abscheulicher vorkommen muss als erwachsenen Nichtrauchern, was schon einiges aussagt. Außerdem kämpfen sie dagegen an, sich nicht zu verschlucken und nicht zu husten. Mitunter müssen sie sogar ver- suchen, die aufsteigende Übelkeit zu überwinden. Warum tun sie es dann? Weil »alle anderen« es tun oder bald tun werden und sie ihnen 74 voraus sein wollen, oder zumindest nicht zurückstehen. Der Wunsch zu rauchen oder das Gefühl, rauchen zu müssen - ob man will oder nicht -, ist einer der vielen Nebenwirkungen jenes großartigen »Sozi- allebens« in den Schulen, von dem immer die Rede ist. Mir tun all die Kinder leid, die glauben, rauchen zu müssen, und noch mehr tun mir jene nichtrauchenden Eltern leid, die verzweifelt versuchen, ihre Kinder davon abzuhalten. Wenn die Kinder lange genug in der Peergroup waren, sich dieser unterworfen haben und süchtig danach sind - wir könnten diese Kinder auch als »Peergroup- Junkies« bezeichnen - dann werden sie rauchen und auch alles andere tun, was die Peergroup tut. Falls sie deswegen Schwierigkeiten mit ihren Eltern bekommen, lügen sie einfach und tun es hinter ihrem Rücken. Der Beweis ist eindeutig. Während in anderen Altersklassen die Zahl der Raucher zurückgeht, rauchen von Jahr zu Jahr mehr Kin- der, vor allem Mädchen, und sie fangen immer früher damit an. Dasselbe gilt für Alkohol. Wir hören immer häufiger von Alkohol- exzessen unter Jugendlichen. In den letzten Jahren versuchten einige Bundesstaaten, diesem Problem entgegenzuwirken, indem sie das Mindestalter für Alkoholkonsum heraufsetzten. Anscheinend ohne Erfolg, denn das Problem verschärft sich zusehends. Ein Nachrich- tenbericht ist mir im Gedächtnis geblieben. Letzten Sommer starben in der Nähe von Boston vier High-School-Mädchen im Alter von sech- zehn bis siebzehn Jahren bei einem nächtlichen Autounfall, während ein weiteres Mädchen schwer verletzt wurde. Am Abend hatten sie ihr kleines Auto mit Bier und verschiedenen anderen alkoholischen Getränken vollgepackt, um den Abend herumfahrend und trinkend zu verbringen. Zum Zeitpunkt des Unfalls waren alle betrunken. Ein Aus- spruch der einzigen Überlebenden von ihrem Krankenhausbett aus wurde später in einer Zeitung zitiert: »Ich hatte nicht das Gefühl, dass wir etwas Falsches tun; alle Kids tun das hier.« Selbstverständlich glauben Kinder, die nahezu ihre gesamte Zeit in Gruppen von Gleichaltrigen verbringen, von der ernsthaften Arbeit und den Sorgen der Gesellschaft ausgeschlossen sind und außer zu Aufsichtspersonen beinahe keinen Kontakt zu Erwachsenen haben, dass das, was »all die anderen Kids« tun, richtig, das Beste und das Einzige ist, was man überhaupt tun kann. Wie können wir verhindern, dass Kinder von »unqualifizierten« Lehrern unterrichtet werden? 75 Zunächst müssen wir einmal den Begriff »qualifiziert« definieren. Wir würden uns bei der Frage, wer ein guter Maler ist, kaum einigen kön- nen, wenn wir nicht darin übereinstimmten, was gute Malerei ist. Die oben gestellte Frage geht davon aus, dass Eltern, die eine ganz klare Vorstellung von gutem Unterricht haben, auch imstande sind, ein fun- diertes Urteil darüber abzugeben, was einen guten Lehrer ausmacht und wer ein solcher ist. Tatsächlich gibt es unter Eltern aber keine Einigung darüber, was unter gutem Unterrichten zu verstehen ist. Von den meisten Eltern werden Lehrer als »qualifiziert«, bezeichnet, wenn sie erfolgreich ein Lehramtstudium absolviert haben. Diese Eltern gehen davon aus, dass man eine Vielzahl mysteriöser Fähigkeiten benötigt, um Kinder zu unterrichten, und dass diese Fähigkeiten nur in einer Lehrerbildungsanstalt zu erwerben sind. Doch diese Annahme trifft nicht zu. Menschen geben bereits seit Millionen von Jahren ihr Wissen an ihre Kinder weiter. Dabei haben sie einige überaus komplizierte, gebil- dete Gesellschaften hervorgebracht. Im Lauf dieser Zeit gab es nur wenige Lehrer im heutigen Sinne, also Menschen, die sich aus- schließlich der Wissensweitergabe widmeten. Und bis in die jüngste Vergangenheit gab es niemanden, der speziell dazu ausgebildet gewesen wäre. Vernünftigerweise war es den Menschen immer schon klar, dass sie erst selbst etwas wissen müssten, ehe sie es weitergeben konnten. Doch erst seit kurzem sind die Menschen der außergewöhnlichen Ansicht, dass die Weitergabe von Wissen vorher erlernt werden müsse. Dass zum Unterrichten tatsächlich echte Fähigkeiten erforderlich sind, ist längst bekannt. Dies sind jedoch keine mysteriösen Fähig- keiten, sondern ein gesunder Menschenverstand, um mit anderen Menschen umzugehen. Und wenn wir nicht falsch unterrichtet wer- den, lernen wir einfach durch unser Leben. In allen Gesellschaften wussten die Menschen immer schon, dass einige Mitmenschen im Erforschen und Erkunden besser sind als andere, weil sie bessere Fragen stellen. Über lange Zeit begriffen jene Personen, die besonders gut ihr Wissen weiterzugeben vermochten, bestimmte Dinge: (1) dass man erst wissen muss, was der andere bereits weiß, ehe man ihm etwas beibringen kann; (2) dass es besser ist, einem anderen etwas Zu zeigen, als es ihm bloß zu sagen, und dass es überhaupt das Beste ist, Ihn eine Sache selbst ausführen zu lassen; (3) dass man nicht auf einmal zuviel sagen oder zeigen soll, weil der Mensch neue Ideen 76 nur langsam erfasst und er sich mit dem neuen Wissen oder den neuen Fähigkeiten sicher fühlen muss, ehe er für den nächsten Schritt bereit ist; (4) dass man dem anderen so viel Zeit zugestehen muss, wie er benötigt, um das Neue aufzunehmen; (5) dass man nicht durch Fragen testen soll, wie viel der andere verstanden hat, sondern dass man ihm durch seine eigenen Fragen Gelegenheit gibt Zu zeigen, wie viel er verstanden hat; (6) dass man weder ungeduldig noch wütend werden darf, wenn der andere etwas nicht verstanden hat; (7) dass Angst den Lernprozess hemmt usw. Dies ist gewiss nichts, worüber man drei Jahre lang dozieren müsste. Tatsächlich spricht man in Lehrerbildungsanstalten auch nicht über diese Dinge. Dem Unterrichten selbst widmet man dort im oben genannten Sinne wenig Aufmerksamkeit. Stattdessen wird die meiste Zeit dafür verwandt, die Studenten darauf vorzubereiten, dass sie in einer außergewöhnlichen Schulwelt - einer Art Parallelgesellschaft zur Gesellschaft der Erwachsenen - arbeiten werden. Sie sollen ler- nen, die Sprache der Schule zu sprechen (winzige Ideen werden mit großen Worten aufgeblasen), wie man all die Dinge tut, die Schulen von ihren Lehrern erwarten, endlose Formulare und Dokumente aus- zufüllen und endlose Beurteilungen über die Schüler zu verfassen. Vor allem jedoch vermittelt man den zukünftigen Lehrern den Ein- druck, dass ihr Wissen überaus wichtig sei und sie als Einzige darü- ber verfügen. Für die Annahme, dass diplomierte Lehrer besser unterrichten als undiplomierte - bzw. dass Menschen ohne Lehramtsdiplom über- haupt nicht unterrichten können - gibt es nicht den geringsten Beweis; fur das Gegenteil finden sich jedoch jede Menge Beweise. So beschaf- tigen die elitarsten, anspruchsvollsten und erfolgreichsten Privat- schulen in den USA wenige bis uberhaupt keine klassisch ausgebil- deten Lehrer. Wie kommt es, dass die reichsten und machtigsten Personen im Land, die fur ihre Kinder jede ihnen beliebige Schule wählen können, sich regelmäßig dazu entschließen, sie von Menschen unterrichten zu lassen, die weder Ausbildung noch Diplom besitzen? Es ist wohl eines der größten Privilegien der Oberschicht, die eigenen Kinder nicht von ausgebildeten Lehrern unterrichten zu lassen. Als das Bezirksgericht von Kentucky den Bildungsausschuss des Bundesstaates aufforderte, Beweise dafur vorzulegen, dass ausgebil- dete Lehrer besser seien als unausgebildete, war der Ausschuss nicht imstande (mit den Worten des Gerichts) »auch nur den geringsten 77 Beweis« dafür zu erbringen. Dasselbe ist kürzlich an einem Gericht in Michigan passiert. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass den Bil- dungsausschüssen anderer Bundesstaaten dieser Beweis gelingt. Im Staat Alaska leben hunderte und vielleicht sogar tausende von Familien in Landwirtschaften, die viele Kilometer von der nächs- ten Stadt, oder gar der nächsten Straße entfernt liegen. Nur mit dem Flugzeug gelangt man zu ihren Häusern. Da der Staat diesen Fami- lien keine eigenen Schulen zur Verfügung stellen kann und es unmog- lich ist, die Kinder zu den existierenden Schulen zu befördern, hat er vernünftigerweise eine eigene Fernschule errichtet, die diesen Fami- lien das Schulmaterial zusendet, mit dem die Kinder dann zu Hause lernen. Niemand scheint sich darüber Sorgen zu machen, ob diese Familien »qualifiziert« sind, und niemand hat je einen Beweis dafür vorgelegt, dass jene Kinder, die in Alaska zu Hause unterrichtet wer- den, geringere schulische Leistungen erbringen als Kinder, die in die- sem oder einem anderen Staat die Schule besuchen. Vermutlich ist das Calvert Institute aus Baltimore (Maryland) die führende Fernschule für Kinder und Jugendliche. Obwohl sie schon seit langem existiert, waren die meisten Schulbezirke bereit (ich weiß von keinen Ausnahmen), ein Schuljahr im Calvert-Programm einem Schuljahr an einer beliebigen anderen Schule gleichzusetzen. Das Calvert Institute wirbt sogar bei seinen Kunden mit der Zusicherung, dass die nach der Calvert-Methode unterrichteten Kinder nicht hin- ter den landesüblichen Durchschnitt zurückfallen. Zum Großteil han- delt es sich dabei um amerikanische Familien, die in Übersee leben - z.B. Missionare, Militärangehörige und Diplomaten, sowie Perso- nen, die in den Auslandsbüros amerikanischer Firmen arbeiten. Ver- mutlich waren nur sehr wenige dieser Eltern geprüfte Lehrer. [Anm. des dt. Hrsg.: Dasselbe gilt für die Deutsche Fernschule, die schon seit vielen Jahren vom Auswärtigen Amt für deutsche Kinder im Aus- land empfohlen wird. Allerdings wird ihr, im Gegensatz zu Fernschu- len in den USA, die Zulassung für Kinder in Deutschland verweigert.] Vor Jahren las ich, dass mehrere Schulen in den Armenvierteln von Großstädten den Versuch gestartet hatten, dass die Schüler der fünften Schulstufe denen der ersten Schulstufe das Lesen bei- brachten. Sie fanden zum einen heraus, dass diese Erstklassler schneller lesen lernten, als jene, die von geprüften Lehrern unter- richtet wurden, und zum anderen, dass die Schüler der fünften Schul- stufe, von denen viele einst selbst schlechte Leser waren und nun die 78 Erstklässler unterrichteten, ihre eigenen Lesefähigkeiten dadurch deutlich verbesserten. Diese Schulen führten das Experiment offen- bar aus Verzweiflung durch, und es ist leicht zu verstehen, warum es nicht flächendeckend wiederholt wurde. Selbst an jenen Schulen, die paraprofessionelle Erwachsene im Klassenzimmer zulassen, wie etwa Lehrer ohne Diplom, bestehen die Stammlehrer darauf, dass diese »Hilfslehrer« nicht unterrichten dürfen. In armen Ländern hat man hingegen im Zuge von Massenalphabetisierungsprogrammen festgestellt, dass nahezu jeder, der selbst lesen kann, einen anderen diesbezüglich unterrichten kann. In meinen eigenen Klassen und in anderen Klassen, die ich seit- dem beobachtet habe, konnte ich erkennen, dass viele Kinder eine besondere Begabung entwickeln, einander zu unterrichten, wenn es ihnen gestattet ist, miteinander zu sprechen und einander bei den Schulaufgaben zu helfen. Dafür gibt es viele Gründe. Obwohl ich mich intensiv bemühte, ihnen zu versichern, dass es keine Schande sei, etwas nicht zu wissen, gestanden sie einander ihre Unwissenheit leichter ein, in der irrigen Annahme, sie wüssten sehr wenig und ich nahezu alles. Außerdem mussten sie nicht fürchten, von ihren Klas- senkameraden schlechte Zensuren zu bekommen. Ich hatte ihnen zwar gesagt, dass ich von Zensurengebung nichts halte, was sie mir auch abnahmen. Gleichzeitig verstanden sie ebenso gut wie ich, dass dies wenig mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Sowohl die Schule als auch ihre Eltern verlangten Zensuren, und ich musste sie Ihnen geben. Einige von ihnen, die mich wirklich mochten, fürchteten viel- leicht auch, dass sie mich enttäuschen könnten, wenn sie nicht das lernten, was ich ihnen mit so viel Mühe beizubringen versuchte. Das traf zu. Denn auch wenn ich versuchte, nicht enttäuscht zu sein, oder es mir zumindest nicht anmerken zu lassen, gelang es mir eigent- lich nie wirklich. Sie wollten mir eine Freude machen und wussten, wann Ihnen dies nicht gelungen war. Wenn sie voneinander lernten, mussten sie sich über all dies keine Sorgen machen. Ein Kind, das einem anderen etwas beibringt, ist nicht enttäuscht, wenn dieses das eine oder andere nicht versteht oder lernt, denn immerhin ist Unterrichten nicht seine Hauptaufgabe und es fragt sich auch nicht, ob es als Lehrer gut oder schlecht ist. Vielleicht sagt es einmal verärgert: »Ach komm schon, Dummkopf, pass doch auf, was ist los mit dir?« Weil Kinder jedoch sowieso dazu neigen, direkt und unverblümt miteinander umzugehen, stört das 79 den Lernenden vermutlich gar nicht. Und wenn es ihn stört, kann er es sagen. Dann wird das andere Kind entweder taktvoller sein, weil es zu Recht die Freundschaft höher schätzt als seinen Erfolg als Leh- rer, oder das lernende Kind wird einen anderen Helfer wählen. Das ist ein weiterer wichtiger Grund, warum Kinder gut darin sind, ein- ander zu unterrichten. Sowohl das lernende als auch das lehrende Kind weiß, dass diese Lehrer-Schüler-Beziehung nur vorübergehend ist und zudem wesentlich weniger wichtig als ihre Freundschaft, in der sie einander gleichberechtigt begegnen. Diese vorübergehende Beziehung wird nur so lange anhalten, solange beide damit zufrie- den sind. Das lehrende Kind muss das andere nicht unterrichten, und das lernende Kind muss nicht vom anderen lernen. Weil beide freiwillig eine selbst gewählte Beziehung eingegangen sind, sind sie wahrlich gleichgestellte Partner. Ich darf nochmals betonen, dass diese vorübergehende Lehrer- Schüler-Beziehung nur funktioniert, weil die andauernde Freund- schaft wesentlich wichtiger ist. In der Medizin gibt es die alte Regel (die nicht immer eingehalten wird): »Achte zunächst darauf, keinen Schaden anzurichten.« Anders ausgedrückt: Man soll bei der Behand- lung von Patienten sicherstellen, ihnen kein Leid zuzufügen. Diese Regel hat auch für das Unterrichten Gültigkeit. In unserem Unter- richtseifer müssen wir zunächst darauf achten, dass wir diejenigen, die wir unterrichten, nicht verängstigen, kränken, beleidigen oder erniedrigen. Tiertrainer verstehen dies nur allzu gut. Immerhin ist es die erste Regel in ihrem Lehrbuch. Nur von den Lehrern menschli- cher Schüler begreifen viele nicht, wie wichtig dies ist, und weisen diese Regel sogar heftig zurück. Auch dafür gibt es einen Grund. Denn auch wenn sie die Regel nicht dem Wortlaut nach begreifen, verstehen sie doch in ihren Her- zen, dass jene Eltern, die ihre Kinder selbst unterrichten, dies ver- mutlich um vieles besser machen als jeder andere Lehrer. Solche Eltern fügen den Kindern nicht absichtlich Schaden zu. Wenn sie mer- ken, dass sie ihrem Kind schaden, hören sie damit auf, egal wie gut ihre Gründe dafür waren. Sie nehmen jedes Signal von Schmerz oder Verzweiflung wahr, das ihnen das Kind sendet. Diese unterscheiden sich natürlich von Schmerzsignalen. Statt »Au!« sagen sie »Das ver- stehe ich nicht«. Ich habe viele Jahre als Lehrer im Klassenzimmer gebraucht, diese Signale zu deuten, und noch wesentlich länger, um herauszufinden, wodurch ich die Kinder in Verzweiflung brachte. 80 Eltern werden nicht davon abgelenkt, eine Klasse führen zu müssen, sie kennen ihre Kinder besser - sowohl ihre gesprochene Sprache als auch ihre stumme Sprache, und die Kinder bedeuten ihnen mehr. Wie ich schon an anderer Stelle sagte, können sie zudem verschie- dene Methoden ausprobieren, um zu sehen, was funktioniert, und alles, was nicht funktioniert, einfach wieder sein lassen. Da sie das Lernerlebnis steuern, können sie auch selbst mehr daraus lernen. Das heißt nicht, dass alle Familien, die den Versuch unterneh- men, ihre Kinder selbst zu unterrichten, dies auch gut machen. Eini- gen gelingt es vielleicht nicht. Doch diese Familien erleben Home- schooling vermutlich als so unangenehm, dass sie es nur allzu gerne aufgeben - allen voran die Kinder. Eine Mutter, die einfach aus Angst vor den Schulen ihren Kindern jede Menge üblicher Schulaufgaben auftrug, teilte mir die Reaktion ihrer Kinder mit: »Ach, Mama, wenn wir schon den ganzen Tag lang diesen Schulkram machen müssen, gehen wir lieber gleich zur Schule.« Ganz richtig. Wenn Kinder ohnehin den ganzen Tag damit verbringen müssen, die Ängste der Erwachse- nen zu befrieden, sollten sie dies lieber in der Schule tun, denn dort müssen sie nur ein Dreißigstel der Ängste der Lehrer kompensieren, während sie es zu Hause allein mit ihren Eltern zu tun haben. Es ist ziemlich leicht aufzuzählen, welche Eltern ihre Kinder selbst unterrichten sollten. Zunächst sollten diese Eltern ihre Kinder mögen, ihre Gesellschaft, ihre körperliche Anwesenheit, ihre Ener- gie, ihre Dummheiten und ihre Leidenschaften genießen. Sie sollten ihre Gespräche und Fragen genießen und ebenso Freude daran haben, diese Fragen zu beantworten. Sie sollten ihre Kinder als Freunde betrachten, als wirklich enge Freunde, und sie sollten glück- lich sein, sie nahe um sich zu haben, und sie vermissen, wenn sie nicht da sind. Sie müssen ihnen als Person vertrauen, ihre zer- brechliche Würde respektieren, sie mit Höflichkeit behandeln und sie ernst nehmen. Sie sollten im eigenen Herzen ein wenig von der Ver- wunderung, Neugier und Begeisterung der Kinder über die Welt fühlen. Und sie sollten genug Selbstvertrauen besitzen, Experten gegenüber skeptisch sein, bereit sein, anders zu sein als die Mehr- heit der Menschen und die Verantwortung für die Ausbildung ihrer Kinder übernehmen wollen. Das ist in etwa alles, was Eltern brau- chen. Vielleicht verfügt nur eine Minderheit der Eltern über diese Eigenschaften. Auf jeden Fall wird es Unterschiede geben: Die einen haben mehr davon, die anderen weniger. Viele werden jedoch ihre 81 Fähigkeiten ausbauen, je besser sie ihre Kinder kennenlernen; die meisten Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichtet haben, erzählen, dass sie ihre Kinder seitdem mehr mögen, nicht weniger. Auf jeden Fall handelt es sich hierbei um Fähigkeiten, die man in der Schule [Anm. d. dt. Hrsg.: und auch nicht im Studium] weder unterrichten noch lernen kann, geschweige denn mit einem Test messen oder mit einem Dokument beweisen. Gibt es keine schulischen Anforderungen? Sollten Eltern nicht über ein Mindestwissen verfügen? Können auch Personen ihre Kinder unterrichten, die selbst keine Schule besucht haben? Auch solche, die selbst weder lesen noch schreiben können? Ich glaube, auch dann ist es möglich. Vor nicht allzu langer Zeit erzählte mir eine Frau nach einer Versammlung, dass sie ein Diplom vom Radcliffe Institute besäße und an der Universität von Harvard promoviert habe, dass aber von allen Lehrern, die sie je gehabt habe, ihre Mutter ihre hilfreichste, einfluss- reichste und wichtigste Lehrerin gewesen sei. Diese Mutter war als Immigrantin in die USA gekommen und hatte auch in ihrem Heimat- land nie lesen und schreiben gelernt. In meiner Zeit als Berater für ein Erwachsenen-Alphabetisierungsprogramm hörte ich von einer Frau mittleren Alters, der es über Jahre gelang, vor ihrem Ehemann und ihren Kindern geheim zu halten, dass sie weder lesen noch schreiben konnte, und dies, obwohl ihr Mann selbst einen College-Abschluss besaß und sie ihren Kindern regelmäßig bei den Hausaufgaben half. Jahrelang erzählte ich ihre Geschichte, um aufzuzeigen, wie gewieft Menschen bestimmte Fertigkeiten vortäuschen können. Und erst vor kurzem erkannte ich, dass die Kinder ihre Mutter nicht jahrelang um Hilfe bei den Hausaufgaben gebeten hätten, wenn ihre Hilfe nicht wir- kungsvoll gewesen wäre. Kurz gesagt war sie nicht nur eine gute Schwindlerin, sondern auch eine ausgezeichnete Lehrerin. Ich erwarte nicht, dass mich viele Eltern, die selbst Analphabeten sind, fragen werden, ob sie ihre Kinder aus der Schule nehmen sollen, um sie zu Hause zu unterrichten. Aber für den Fall, dass dies doch einmal geschieht, werde ich sagen: »Die Tatsache, dass Sie selbst noch nicht Lesen und Schreiben gelernt haben, bedeutet nicht, dass Sie Ihre Kindern nicht besser unterstützen können, die Welt um sie herum kennenzulernen, als dies in den Schulen geschieht. Um ihnen jedoch helfen zu können, müssen Sie zunächst selbst lesen und schreiben lernen. Es ist leichter, wenn Sie es wirklich wollen, und wenn Sie nicht mehr daran denken müssen, dass Sie es nicht können. 82 Wenn eines Ihrer Kinder bereits lesen und schreiben kann, soll es Ihnen dabei helfen. Wenn nicht, sollten Sie es gemeinsam lernen. Aber es ist wichtig, dass Sie es lernen. Denn wenn Sie es nicht tun und die Schule das herausfindet, werden Sie um nichts in der Welt von der Schulbehörde oder einem Gericht die Erlaubnis bekommen, Ihre Kin- der zu Hause zu unterrichten. Das ist der erste Punkt. Und der zweite Punkt betrifft Ihre Kinder. Wenn Sie weder lesen noch schreiben kön- nen, glauben Ihre Kinder möglicherweise, dass Lesen und Schreiben unnütz und uninteressant sind, oder dass es sehr schwierig ist, diese Fähigkeiten zu erlernen. Beides stimmt nicht. Deshalb wird es eine Ihrer ersten Aufgaben sein, selbst Lesen und Schreiben zu lernen.« Wie soll ich mein Kind täglich sechs Stunden lang unterrichten? Wer unterrichtet Ihr Kind jetzt täglich sechs Stunden lang? Als Kind ging ich auf die »besten« Schulen, von denen einige öffentlich, die meisten aber privat waren. Ich war ein guter Schüler von jener Art, mit der Lehrer gerne sprechen. Und dennoch war es eine Seltenheit in meiner Schullaufbahn, wenn ich einmal fünfzehn Minuten Unterricht bekam. Damit meine ich ein interessiertes, inten- sives Gespräch mit einem Erwachsenen über ein Thema, das ich inter- essant, rätselhaft oder wichtig fand. Der Durchschnitt - auf meine gesamte Schulzeit bezogen - dürfte vermutlich eher bei fünfzehn Minuten pro Woche gelegen haben. Bei den meisten Kindern liegt er noch deutlich darunter. Viele arme Kinder, solche der nicht weißen Bevölkerung oder sonst wie ungewöhnliche, erhalten in ihrem gesam- ten Schulleben keinen solchen Unterricht. Wenn Lehrer mit ihnen spre- chen, dann nur, um ihnen einen Befehl zu erteilen, sie zu korrigieren, zu warnen, zu bedrohen oder ihnen für etwas die Schuld zuzuweisen. Außerdem brauchen, wollen und ertragen Kinder auch keinen sechsstündigen Unterricht pro Tag, selbst wenn die Eltern dazu bereit wären. Um ihnen zu helfen, die Welt kennenzulernen, benötigt man nicht so viel Erwachsenen-Input. Das meiste von dem, was Kinder brauchen, haben sie von den Eltern bereits seit der Geburt bekom- men. Wie ich schon einmal betont habe, benötigen die Kinder Gele- genheiten, um hin und wieder ein ehrliches und ernsthaftes Gespräch zu führen, ohne Eile; oder um manchmal zu scherzen, zu spielen, Unsinn zu treiben oder Zärtlichkeit, Mitgefühl und Trost zu bekommen. Den Großteil der Zeit benötigen sie, um mit Ihnen Ihr 83 Leben zu teilen oder sich zumindest nicht davon ausgeschlossen zu fühlen. Kurz gesagt, um einige jener Orte zu besuchen und um Dinge zu sehen, die Sie interessieren, um einige Ihrer Freunde kennenzu- lernen, um herauszufinden, was Sie als Kind gerne getan haben und wie es war, als sie noch nicht geboren waren. Sie lieben es, wenn Sie ihre Fragen beantworten oder ihnen zumindest zuhören und Auf- merksamkeit schenken - und wenn Sie die Antwort nicht wissen, dann einfach sagen: »Ich weiß es nicht.« Ihre Kinder müssen immer mehr Menschen kennenlernen, deren Hauptaufgabe nicht darin _ besteht, sich um Kinder zu kümmern. Sie brauchen auch ein paar Freunde in ihrem Alter, aber nicht Dutzende; zwei oder drei, oder höchstens ein halbes Dutzend, denn mehr echte Freunde kann ein Kind gar nicht gleichzeitig haben. Vor allem aber benötigen sie viel Pri- vatsphäre, Alleinsein, Ruhe und Zeit, in der nichts zu tun ist. Schulen bieten den Kindern nichts davon, und selbst wenn sie sich radikal änderten, könnten sie ihnen die meisten dieser Dinge nicht bieten. Durchschnittliche Eltern, die Verwandtschaft, der Freun- deskreis, die Nachbarschaft oder die Gemeinde hingegen können all diese Dinge bieten, vielleicht nicht mehr so gut wie früher, aber immer noch gut genug. Erwachsene brauchen keinen Universitätsabschluss oder sonstiges Diplom, um ihren Kindern zu helfen, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Wie lernen Kinder all das, was sie wissen müssen? Zu diesem Thema schrieb ein Vater: ... Als er noch klein war, brachten ihm meine Frau, ein paar Freunde und ich alles bei, was er wissen wollte, und wenn wir einmal etwas nicht wuss- ten, was häufig der Fall war, umso besser, denn dann lernten wir gemein- sam. Ein Beispiel: Als er sieben war, sah er das Periodensystem der Ele- mente und wollte alles über Atome, Chemie und Physik lernen. Weil ich vergessen hatte, wie man eine Gleichung berechnet, kaufte ich ein Colle- gebuch über das Thema, eine Geschichte über die Entdeckung der Ele- mente und einige Atommodelle. Einen Monat lang hoben wir zu einem Lern-Höhenflug ab, bei dem wir beide Naturwissenschaften auf College- Niveau erlernten. Auch wenn er nie wieder auf das Thema zurückgekom- men ist, erinnert er sich bis heute an jede Kleinigkeit, weil er es in einem Augenblick seiner Entwicklung und Fantasie erfahren hatte, der für ihn wichtig war. 84 Selbstverständlich weiß ein Kind nicht, was es in zehn Jahren wissen muss (wer tut das schon?), aber es weiß besser als jeder andere, was es jetzt und hier wissen will, wofür sein Geist bereit ist und wonach es sich sehnt. Wenn wir ihm helfen, das zu lernen, oder es ihm auch nur gestatten, wird es sich an dieses Wissen erinnern, es verwenden und darauf aufbauen. Wenn wir ein Kind dazu drängen, das zu lernen, was wir für wichtiger halten, wird es das Meiste von dem, was es gelernt hat, schon bald wieder vergessen. Dass es dadurch für lange Zeit seinen Hunger auf das Lernen verliert, ist wohl das Schlimmste daran. Andere Eltern haben mir ähnliche Fragen gestellt, und einem Elternpaar schrieb ich: ... auf Ihre Frage, wie Eltern ein Kind in Chemie unterrichten sollen, scheint es mehrere Antworten zu geben, die von anderen Eltern hier und dort schon umgesetzt wurden: (1) Die Eltern wählen ein Fachbuch, Informati- onsmaterial usw. und lernen den Stoff gemeinsam mit dem Kind. (2) Die Eltern besorgen für das Kind das Lernmaterial, wie oben beschrieben, und das Kind lernt allein. (3) Die Eltern oder das Kind finden jemanden, der sich mit diesem Thema auskennt, vielleicht einen Freund, einen Nachbarn oder auch einen Lehrer an einer Schule oder einem College, und das Kind lernt von dieser Person. Was die Ausstattung betrifft, sagten Sie, dass Ihre High School ein besonders aufwändiges Chemielabor besäße. Ich wette jedoch, dass nur wenige Schüler jemals mehr als einen kleinen Teil des Lehrmaterials im Labor verwendet haben. Ich kenne Kinder, die sich für Chemie interessie- ren und dafür im Keller die meisten Übungen mit einer Ausrüstung durch- führen, die nach heutigen Preisen weniger als 200 Dollar und vielleicht sogar nur 100 Dollar kostet ... Dasselbe gilt für Physik. Was Biologie betrifft, so ist es mit Ausnahme der Stadtzentren keineswegs schwierig, Pflanzen und Tiere zu finden, um sie zu beobachten und zu klassifizieren, sofern Kinder dies wollen. Ich behaupte nicht, dass das alles kein Problem sei, aber wo ein Wille ist, da ist bekanntlich auch ein Weg. Sie fragen: »Erwarten Sie, dass Eltern Reagenzgläser, Chemikalien, Instrumente usw. kaufen, die nur ein oder zwei Jahre verwendet werden, wenn das Kind später einmal Künstler oder Musiker wird?« Nun, warum nicht? Eltern kaufen auch Fahrräder, Sportausrüstungen und Musikin- strumente, ohne zu wissen, ob ihre Kinder später Profisportler, Musiker usw. werden. Diese Ausrüstung verliert nicht an Wert (außer sie geht 85 kaputt) und sie kann somit für einen beträchtlichen Anteil ihres Kaufprei- ses weiterverkauft werden. Und im Lauf der Zeit, wenn immer mehr Eltern ihre Kinder zu Hause unterrichten, wird es leichter werden, diese Mate- rialien von anderen Eltern zu bekommen, die sie nicht mehr brauchen, oder einen Tausch oder Ähnliches zu organisieren. Ich sehe in keinem Alter die Notwendigkeit für »institutionelle« Ausbil- dung. In Michigan lebt ein Mann namens Ovshinsky, der die Festkörper- physik auf den Kopf stellte, indem er eine Theorie entwickelte, der zufolge nichtkristalline Stoffe für Zwecke verwendet werden könnten, für die nach herkömmlicher Theorie nur kristalline Stoffe in Frage kommen. Jahrelang taten orthodoxe Physiker Ovshinskys Ideen als Unsinn ab. Doch als es ihm gelang, sie in Laborexperimenten eindeutig nachzuweisen, mussten sie schließlich eingestehen, dass er Recht hatte. Ovshinsky hat nie die High School abgeschlossen. Vermutlich gibt es mehrere solcher Fälle, und ohne die Schulpflicht gäbe es vermutlich noch bedeutend mehr. Es ist natürlich ein Dilemma, dass wir zuerst alle Kinder verpflichten, so viel Zeit in der Schule zu verbringen, und dann behaupten, dass man alles nur in der Schule erlernen kann. Woher wissen wir das? Wo haben Menschen die Chance, all diese Dinge anderswo zu lernen? Eine der wichtigsten Funktionen der sogenannten höheren Bildungs- anstalten besteht nicht darin, Menschen Wissen zu vermitteln, sondern den Zugang zu bestimmtem Wissen und bestimmter Arbeit zu begrenzen. Rechtsuniversitäten sind vorrangig nicht dazu da, Rechtsanwälte auszu- bilden, sondern das Angebot an Rechtsanwälten gering zu halten. So gut wie alles, was heute von Universitätsabsolventen getan wird, wurde vor nicht allzu langer Zeit noch von Personen ohne Universitätsabschluss und vielfach sogar ohne Collegeabschluss getan. Ich hoffe, dass Sie nicht an Ihren Fähigkeiten zweifeln, dass Sie Ihre Kinder bei allem unterstützen können, was diese lernen wollen, und dass Sie auch nicht daran zweifeln, dass Ihre Kinder vieles auch ohne Ihre Hilfe erlernen können. Eine Mutter stellte mir brieflich einige besonders herausfordernde Fragen, die ich folgendermaßen beantwortete: Ich will nicht, dass meine Kinder eine Lebensauffassung bekommen, die durch meinen »mütterlichen Blickwinkel« ver- zerrt ist. Dies ist meine größte Sorge ... 86 Antwort: Wenn Sie damit meinen, dass Sie fürchten, die Lebensauf- fassung Ihrer Kinder zu bestimmen, so könnten Sie dies gar nicht, auch wenn Sie es wollten. Selbstverständlich beeinflussen Sie Ihre Kinder und zählen auch zu den wichtigsten Einflussfaktoren, aber Sie sind beileibe nicht der einzige und auch nicht der einzig wichtige. Wie Ihre Kinder später einmal die Welt sehen werden, hängt von vie- len Dingen ab, von denen Ihnen vermutlich viele nicht gefallen wer- den, und von denen die meisten außerhalb Ihres Einflussbereiches liegen. Andererseits lässt es sich nicht vermeiden, dass Sie die Lebensauffassung Ihrer Kinder doch in bestimmtem Maß beeinflus- sen, selbst wenn Sie es verhindern wollten. Ich frage mich auch, ob ich die Gründlichkeit, Durchhalte- kraft, Geduld und Begeisterung für all die unterschiedlichen Interessen aufbringen kann, die meine Kinder zweifellos haben werden. Antwort: Nun, wer bringt in der Schule all dies auf? Ich war ein guter Schüler und besuchte die »besten« Schulen, und dennoch habe ich wenige Erwachsene getroffen, die sich auch nur im Geringsten um meine Interessen kümmerten. Davon abgesehen erwarten Sie womöglich zu viel von sich. Was Ihre Kinder lernen, lernen Sie nicht nur von Ihnen, sondern von sich aus und durch ihre Auseinander- setzung mit der Welt, die sie umgibt, und die selbstverständlich Sie mit einschließt. Sie müssen nicht alles wissen, was Ihre Kinder wis- sen wollen, und sich nicht für dieselben Dinge interessieren, für die sich Ihre Kinder interessieren. Und was die Geduld anbelangt, so könnte es anfangs daran mangeln; wie so viele Eltern, die ihre Kin- der zu Hause unterrichten, wollen vielleicht auch Sie zunächst zu viel erreichen, erlernen und kontrollieren. Aber wie die anderen werden auch Sie aus Ihren Erfahrungen lernen - und vor allem werden Sie lernen, Ihren Kindern zu vertrauen. Die meisten Unschooler leben anscheinend auf Farmen, wo sie ihr eigenes Gemüse ziehen (was ich auch gerne tun würde), oder führen im städtischen Bereich ein außergewöhnliches Leben, wobei der Vater stark in die Ausbildung der Kinder ein- gebunden ist. Wie steht es mit Kindern, die in Vororten in modern ausgestatteten Häusern aufwachsen, und deren Väter 87 10 bis 12 Stunden täglich außer Haus verbringen? Welcher Unterschied ergibt sich daraus? Funktioniert Unschooling unter diesen Bedingungen ebenso gut? Antwort: Gut genug. Sie und Ihre Kinder werden gemeinsam heraus- finden, welche Unterschiede sich daraus ergeben, und dann so gut wie möglich damit umgehen. Einst hieß es, die Vororte wären der beste Ort, um Kinder großzuziehen; nach heutiger Auffassung heißt es, sie seien der schlechteste Ort. In der Stadt, auf dem Land und in einem Vorort gibt es mehr als genug, was junge Menschen interes- siert und genug Nahrung bietet für gedankliche Auseinandersetzung und Taten. Sie müssen Ihren Kindern nicht alle Möglichkeiten bieten können. Und selbst wenn Sie es könnten, hätten die Kinder nicht genug Zeit, um alle zu nutzen. Was die Beteiligung des Vaters betrifft, so ist sie gewiss hilfreich, aber nicht entscheidend. Einige der erfolg- reichsten Unschooler, von denen wir wissen, wuchsen bei allein erzie- henden Müttern auf. Was, wenn die Kinder zur Schule gehen wollen? Antwort: Das ist eine schwierige Frage, auf die es mehrere gute Ant- worten gibt, von denen sich aber einige widersprechen. Eltern könn- ten argumentieren, dass sie jedes Recht haben, ihre Kinder von der Schule fernzuhalten, selbst wenn diese zur Schule gehen wollen, sobald sie befürchten, dass die Schule ihren Kindern schwere blei- bende Schäden zufügt. Ebenso wie Sie das Recht haben, ihnen zu verbieten, auf einer Atommülldeponie zu spielen. Einige bringen auch tatsächlich dieses Argument vor, das vermutlich bei kleineren Kin- dern schwerer wiegt, weil man von ihnen noch nicht erwarten kann, dass sie verstehen, in welcher Weise ihnen die Schule schaden könnte. Wenn ältere Kinder mehrmals entschlossen und aus guten Gründen erklären, dass sie wirklich gerne zur Schule gingen, neige ich dazu, sie gehen zu lassen. Ab welchem Alter und welchen Grün- den? Ich habe keine Ahnung. Aber ein schlechter Grund Ihrer Kinder ware: »Ich habe gehört, dass man zum Mittagessen in der Schule Kakao bekommt.« Kommt es häufiger zu Anzeigen, die zu gerichtlichen Sorge- rechtseinschränkungen führen? 88 Antwort: In mehreren Fällen haben Gerichte auf Veranlassung von Schulen - auf schändliche Weise - versucht, Unschooling-Eltern ihre Kinder wegzunehmen. Ich glaube, dass es juristische Argumente und andere Strategien gibt, die es einem Gericht fast unmöglich machen, etwas Derartiges zu tun. Und wenn es tatsächlich zum Schlimmsten kommen sollte und das Gericht sagt: »Stecken Sie die Kinder wieder in die Schule, sonst nehmen wir sie Ihnen weg«, dann können Sie sie immer noch in die Schule schicken, während Sie Ihre nächsten Schritte planen. Das kann eine Übersiedlung in einen anderen Bun- desstaat sein oder in einen anderen Schul- oder Gerichtsbezirk. Ich will nicht das Gefühl haben, meine Kinder übermäßig zu beschützen oder Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Antwort: Warum nicht? Es ist Ihr gutes Recht und Ihre Aufgabe als Elternteil, Ihre Kinder zu schützen und Sie vor Schwierigkeiten zu bewahren, zumindest soweit Sie dies können. Obwohl weltweit viele Kinder hungern oder fehlernährt werden, werden Sie doch nicht Ihre eigenen Kinder hungern lassen, nur damit sie erfahren, wie das ist. Sie würden auch nicht zulassen, dass Ihre Kinder auf einer stark befahrenen Straße spielen. Ihre Aufgabe ist es, Ihren Kindern so weit wie möglich dabei zu helfen, ihr menschliches Potenzial zu ent- decken. Zu diesem Zweck füllen Sie ihr Leben so weit wie möglich mit guten Dingen an und versuchen, Schlechtes fernzuhalten. Wenn Sie Schulen für etwas Schlechtes halten - wie Sie es offensichtlich tun —- dann ist klar, was Sie tun sollten. Ich schätze es, wie sie lernen, mit Herausforderungen und Pro- blemen umzugehen ... Antwort: Davon wird es jede Menge geben. Vermutlich war es nie ein- fach, aufzuwachsen, aber in einer so angsterfüllten, verwirrenden Welt wie der unseren ist es besonders schwierig. Es ist schon eine gewaltige Herausforderung, sich selbst kennenzulernen, sich ein lebenswertes Leben zu schaffen und eine erfüllende Arbeit zu finden, auch ohne den Zeitverlust durch die falschen, wertlosen Herausfor- derungen der Schule, wie etwa dem Lehrer zu gefallen, Problemen aus dem Weg zu gehen, in die Clique zu passen, beliebt zu sein und all das zu tun, was die anderen tun. 89 Werden die Kinder Gelegenheit haben, Dinge zu tun, von denen sie glauben, dass sie sie nicht tun wollen, und lernen, ihre Abneigung davor zu überwinden? Antwort: Ich weiß nicht genau, wie diese Frage gemeint ist. Aber wenn sie darauf abzielt, ob Kinder, die nicht zur Schule gehen, je erfahren werden, wie es ist, widrige und anspruchsvolle Dinge zu tun, um ein selbstgesetztes Ziel zu erreichen, dann lautet meine Antwort: Ja. Das Leben ist voll von derartigen Anforderungen. Allerdings ist es etwas anderes, wenn man etwas tun muss - und in den Schulen handelt es sich dabei meist um etwas Unsinniges, Langweiliges -, nur weil es einem aufgetragen wird und man bestraft wird, wenn man es nicht tut. Dabei ist es einerlei, ob sich ein Kind dem widersetzt oder sich dem Druck beugt, denn beides schadet ihm. Wenn es sich jedoch mit den natürlichen Schwierigkeiten einer selbst gewählten oder unver- meidlichen Aufgabe abmüht, bildet dies den Charakter. Sich lediglich einem übergeordneten Zwang zu beugen, zerstört den Charakter. 73 Diesen wichtigen Fragen könnte man im Hinblick auf unsere heutige Arbeitswelt ein bedeutendes Thema hinzufügen: Können auch Familien Homeschooling betreiben, in denen beide Elternteile berufstätig sind? Meine Frau und ich sind beide berufstätig, und dennoch haben wir im Lauf der Jahre herausgefunden, dass sich unsere Arbeitszeiten an das Homeschooling anpassen lassen. Bis vor kurzem arbeitete ich üblicher- weise von 9 Uhr bis 17 Uhr entweder im Büro oder zu Hause, und Day arbeitete an den Nachmittagen und Abenden; diese Regelung passte sowohl für Days Arbeit als Beleuchterin am Theater als auch für meine tägliche Arbeitszeit. Jetzt unterrichtet Day tagsüber in einer öffentlichen Schule, während ich zu Hause arbeite und einen größeren Anteil an den Fahrdiensten und Hilfestellungen für die Mädchen übernehme. Als unsere Kinder noch sehr klein waren und Day und ich gemein- sam bei Holt Associates arbeiteten, verbrachten die Kinder viel Zeit bei uns im Büro, vor allem, wenn auch andere Kinder dort waren, mit denen sie spielen konnten. Als Kleinkind liebte unsere heute sechzehnjährige älteste Tochter Lauren das Büro. Nach »Mom« und »Dad« war »Mail« ihr nächstes Wort, was nicht überrascht, weil wir bei der Arbeit oft genug 90 über »Mails« sprachen! Heute sind unsere Töchter mit ganz anderen, eige- nen Aktivititen beschäftigt, und neben diesen Aktivitäten und der Zeit, die sie mit Freunden, Nachbarn und Verwandten verbringen, haben sie nicht mehr so viel Zeit, uns bei der Arbeit zu begleiten. Als unsere Kinder älter wurden, bemerkten wir als eine der ersten Veränderungen, dass sie in steigendem Maß mit eigenen Aktivitäten beschäftigt waren. Die Notwendigkeit, dass jemand ständig auf sie »aufpasste«, ging zurück, während es wichtiger wurde, Terminpläne abzu- gleichen. Wenn Lauren zum Beispiel ihre Gymnastikstunde besucht oder mit der Homeschooling-Theatergruppe probt, bedeutet das nicht, dass meine Frau oder ich auch anwesend sein müssen. Wir sind nicht mehr die einzigen, die sich mit dem Homeschooling unserer Kinder befassen, und das bringt nicht nur für uns als Eltern Vorteile, sondern auch für unsere Kinder. Sie besuchen nicht die Gymnastikstunde oder die Theaterprobe, um während unserer Arbeitszeit betreut zu sein, sondern weil diese Art von abwechslungsreichem Leben für uns der Inbegriff von Homeschoo- ling ist. Eltern können die Entwicklung eines Kindes sanft fördern, von der Abhängigkeit der eigenen Betreuung hin zur Unabhängigkeit als junge Erwachsene; ältere Kinder können leichter allein ihrer Wege gehen, indem sie entweder allein zu Hause sind, in die Bibliothek gehen oder mit anderen Erwachsenen zusammenarbeiten. Betrachten Sie Home- schooling nicht als etwas, wofür Ihre Kinder den ganzen Tag zu Hause sein müssen oder ständige elterliche Betreuung benötigen. Denn Home- schooling umfasst auf natürliche Weise eine Vielzahl bereits beschriebe- ner Aktivitäten. Einige Doppelverdiener-Familien arbeiten bewusst zu unterschiedli- chen Zeiten, oder sie teilen thre Arbeit so ein, dass ein Partner zu Hause arbeitet. Das Buch The Four-Thirds Solution: Solving the Childcare Cri- sis in America Today von Stanley Greenspan zeigt auf, wie zwei berufs- tätige Eltern jeweils zu zwei Dritteln ihrer Arbeit nachgehen, um mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Es ist erstaunlich, welche Kreati- vität und Findigkeit Eltern an den Tag legen, die Homeschooling betrei- ben wollen, und dies betrifft die gesamte Bandbreite von Müttern, von der Sozialhilfeempfängerin bis zur erfolgreichen Führungskraft: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Um einen ersten Überblick über die vielfältigen Möglichkeiten des Homeschooling zu gewinnen, rate ich Ihnen, einige der Bücher zu lesen, die im Anhang empfohlen werden. Aber um ein echtes Gefühl dafür zu bekommen, was Homeschooling für Ihre Familie bedeuten könnte, rate | 91 ich Ihnen dringend, eine Homeschooling-Konferenz zu besuchen oder an einem Gruppentreffen teilzunehmen. Möglicherweise müssen Sie meh- rere Versuche starten, ehe Sie genau das finden, was Sie für Ihr Home- schooling brauchen. Aber das Ergebnis ist die Mühe wert. Auf diese Weise erhalten Sie nicht nur die neuesten Informationen zu Homeschooling- Themen und -Veranstaltungen in Ihrer Region, sondern treffen auch Gleichgesinnte und mögliche zukünftige Freunde Ihrer Kinder. Eine weitere Frage, die mir häufig gestellt wird: Können auch Familien Homeschooling betreiben, deren Kinder besonderer Förderung bedürfen? Familien, deren Kinder besonderer Förderung bedürfen, können nicht nur Homeschooling machen, sondern sie werden vermutlich auch fest- stellen, dass ihre Kinder dadurch aufblühen. Homeschooling beinhaltet viel Einzelbeachtung; es bietet viel Zeit, um Aufgaben zu erfüllen, die andere Kinder schneller erledigen können, und es ermöglicht, verschie- dene Therapien und Medikationen auszuprobieren, falls die derzeitige Behandlung des Kindes nicht anschlägt. Einige Schulen fordern für diese Eltern möglicherweise eine Spezialausbildung für die Betreuung eines Kin- des mit besonderem Förderbedarf - ein Einwand, der meist unangebracht ist. Eine Mutter, der ich half, ihr förderbedürftiges Kind aus einem aner- kannten Schulprogramm herauszulésen, war selbst eine für Forderunter- richt ausgebildete Lehrerin, und dennoch sagte man ihr, dass sie ihrer Tochter nicht die Betreuung geben könne, die sie brauche! Diese Mutter hat ihre Tochter dennoch selbst unterrichtet, und beide empfinden ihr Leben als sehr bereichert, seit sie so eng zusammenarbeiten. Hier einer der häufigsten Gründe, warum sich Familien mit Kindern mit besonderem Förderbedarf für freies Lernen entscheiden: Sie sind erschöpft von den wiederholten Versuchen, jene Hilfeleistungen und Auf- merksamkeit fur thr Kind zu bekommen, die es braucht, und entsch- ließen sich, während der Wartezeit auf die typischen unbefriedigenden Antworten, selbst mit ihrem Kind zu arbeiten. Wendy Renish betreibt Homeschooling mit ihrer Tochter, die an Autismus und einer tief grei- fenden Entwicklungsstörung leidet. Sie schrieb an Growing Without Schooling: Durch all die Probleme, die wir hatten, um in der Schule die richtigen Hilfen fiir sie zu bekommen, und die Zeit, die wir aufwenden mussten, um sie für die 92 Schule vorzubereiten, ihr bei den Hausaufgaben und sozialen Dingen zu hel- fen, fehlte uns die Zeit für die Einzelarbeit mit ihr, die sie in Wirklichkeit viel mehr brauchte. Derrick Simpson, ein alleinerziehender Vater aus Illinois, der einen behin- derten Jungen aus Äthiopien adoptierte, schreibt: Jahrelang habe ich dafür gekämpft, dass er eine Sprachtherapie bekommt. Die Behörden verweigerten thm die Therapie, weil sie glaubten, dass er kein Sprech- problem habe ... Mein Sohn hatte das Gefühl, die Schule wolle thn nicht unterrichten. Dabei wollte er so gerne zur Schule gehen, weil es in Athiopien ein Privileg war, zur Schule zu gehen, und er es so sah ... Er hasste diese Situation. Und obwohl ich es vielleicht geschafft hätte, die richtige Therapie für thn durchzusetzen, wenn ich nur weitermachte, wollte ich nach dreieinhalb Jahren Kampf einfach nicht mehr länger warten ... Als ich eines Abends mit Fasika an seinen Hausaufgaben arbeitete, erkannte ich, dass er den gesamten Tag in der Schule damit verbracht hatte, sich in einer Reihe anzustellen, zu warten, dann im Klassenzimmer zu warten, dort darauf zu warten, dass die anderen fertig wurden, nur um sich wieder in einer Reihe anzustellen. Gleichzeitig verbrachten wir Abend für Abend mehrere Stunden damit, seine Hausaufgaben zu erledigen. In diesem Augenblick sagte ich mir: »Ich werde ihn einfach selbst unterrichten«. Sobald Eltern mit dem Schulsystem an diesen Wendepunkt angelangt sind, kann Homeschooling befreiend, aber auch beängstigend wirken. Mitunter entschließen sich Eltern nicht für Homeschooling, weil sie es für eine gut durchdachte Lösung halten, sondern aus Verzweiflung und unter enormem Druck, um die Lage ihres Kindes zu verbessern. Zum Glück verbessert sich die Unterstützung für diese Familien und auch das Ver- ständnis einiger Mediziner, dass Eltern sehr wohl imstande sind, ihre behinderten Kinder in breiterem Rahmen selbst zu betreuen, als bisher all- gemein angenommen wurde. Wendy Renish schreibt: Wir trafen Dr. Stanely Greenspan, einen Psychiater aus Bethesda (Maryland) und Autor des Buches The Challenging Child. Er 1st weltweit einer der führen- den Spezialisten auf dem Gebiet der Kindesentwicklung und glaubt, dass sich das autistische Verhalten eines Kindes durch Arbeit verändern lässt. Er hat ein Programm entwickelt unter dem Titel »floor time«, das unserer bisherigen Vor- gehensweise sehr dhnelte. Seiner Ansicht nach spielen Eltern eine Hauptrolle in der Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Ja, für manche Dinge 93 braucht man Mediziner - Rosie braucht Hilfe bei ihren Allergien, ihrer Hörschwäche und für eine spezielle Beschäftigungstherapie. Wenn es jedoch um das Verhalten geht, erfordern diese intensiven Einzelprogramme so viel Zeit, dass die Eltern den Großteil der Arbeit übernehmen müssen. ... In vielfacher Weise war es eine Befreiung, sie nicht mehr zur Schule zu schicken. Wir müssen uns morgens nicht mehr darum kümmern, ihr das Haar zu kämmen oder die Schuhe anzuziehen, und wir haben jetzt eine geschützte Umgebung, in der wir mit ihr arbeiten und uns auf die Bereiche konzentrieren können, in denen sie tatsächlich Hilfe braucht. Sie 1st ein Kind, das sich bis zum Alter von zehn Jahren nicht erkannte, wenn sie sich im Spiegel sah. Sie erkannte zwar Teile des Körpers wieder, aber sie begriff sich selbst nicht als Per- son. Während ihrer Kindheit versäumte sie so vieles, so viele Erlebnisse, an denen sie zwar körperlich, aber nicht emotional teilnahm. Jetzt können wir uns auf ihre Ebene begeben und die Lücken auffüllen. ... Auch im Hinblick auf ihre akademische Ausbildung macht Rosie zu Hause Fortschritte. Ihr Sprachvermögen hat sich verbessert, weil sie nun langsa- mer sprechen und denken darf ... Wir wenden Techniken an, die ihr bei ihren auditiven und visuellen Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen helfen, und sie lernt, alles, was in einem Kapitel passiert, zu visualisieren [wenn sie ein Buch liest]. Wir spielen Sätze nach oder nehmen sie in unseren Kunstkurs mit. Dadurch verbessert sie sich ungemein. Selbstverständlich ist Homeschooling für uns schwieriger als für viele andere Familien ... Es wäre mir eine große Hilfe, Kontakt zu anderen Erwach- senen aus der Umgebung zu haben, oder Zugang zu Bibliotheken, Tanzstun- den und anderen Aktivitäten, von denen Rosie profitieren könnte und die mir eine Atempause gönnten. Aus diesem Grund wollen wir auch in die Nähe einer Stadt ziehen. Für Rosie eignet sich am besten eine Ausbildung mit Ein- zelunterricht am Vormittag, wo sie jene intensive Einzelbetreuung bekommt, die sie benötigt. Für den Nachmittag sehen wir uns nach Gruppenaktivitäten um, die thre Kommunikation mit Gleichaltrigen fördern, was sie ebenfalls braucht. 6 94 3 Die Freilerner-Politik In einem Brief an Ivan Illich [siehe Anhang A] schrieb John Holt im Jahr 1972: In unserer Arbeit fiir die Veränderungen, die wir uns wünschen, für eine wahr- lich gesellige Gesellschaft und eine Technologie, die nicht zum Selbstmord führt, kommen Ihnen und mir möglicherweise unterschiedliche Funktionen zu. Während Sie eher ein Prophet sind, bin ich eher ein Taktiker ... Die restlichen Jahre seines Lebens verbrachte Holt damit, Mittel und Wege zu finden, um diese Veränderungen herbeizuführen. In seinem Buch Ent- schulung der Gesellschaft schrieb Ivan Illich, dass wir eine Finanzierung der Schulen seitens der Regierung verhindern miissen, um die Schulen zu destabilisieren. Ebenso wie wir die Kirche vom Staat getrennt haben, sol- len wir nun die Verfassung ändern, um das Bildungsestablishment zu stiir- zen. Illich erklärt: Im modernen Amerika werden wir nicht mehr gleich geboren, sondern miissen durch die Alma Mater gleich gemacht werden. Holt stimmte inhaltlich mit Illich überein, bezweifelte jedoch, dass die Mehrheit der Bevölkerung einer Abschaffung der staatlichen Finanzie- rung fiir Schulen zustimmen wiirde. Deshalb suchte er nach anderen Wegen, um sein Ziel zu erreichen, die Menschen zu befähigen, ihre Kin- der ohne Schule aufwachsen zu lassen. Mit der Gründung seiner Zeit- schrift Growing Without Schooling im Jahr 1977 legte Holt auch den Grundstein fur seine Position als hervorragender Taktiker, der Familien zeigt, wie sie von schulischer Ausbildung zum »Unschooling« gelangen, einem von ihm erfundenen Begriff, der das Wort »Deschooling« ersetzte, da dieses seiner Meinung nach »mehr Verwirrung als Verständnis schafft. Auch »Unschooling« erwies sich nicht als eindeutiger Begriff, 1st jedoch 95 ein guter Versuch - wie schon zuvor angemerkt -, um die von Holt geför- derten Ausbildungsmodelle zu beschreiben: Es umfasst das Lernen und Unterrichten in einer Form, die nicht der Schulausbildung gleicht und die nicht zwangsläufig zu Hause erfolgen muss. Anfang der 80er Jahre hatte sich der Begriff »Homeschooling« etabliert, den auch Holt schließlich abwechselnd mit »Unschooling« (diesen Begriff verwendet er in all seinen Büchern) gebrauchte. Die meisten Homeschooler, ebenso wie die allge- meine Offentlichkeit, gehen jedoch davon aus, dass Kinder nichts lernen, solange man sie nicht speziell unterrichtet. Die Offentlichkeit zweifelt in keiner Weise an der Notwendigkeit einer Ausbildung; ihre Sorge betrifft lediglich die Ausbildungsmethoden und die Bildungsinhalte, sowie die öffentliche und private Finanzierung. Hier zeigen sich die deutlichsten Unterschiede zwischen »Unschooling« und »Homeschooling«. In Deutschland hat sich neben dem englischen Lehnwort »>Homeschooling« fur die Familien, in denen das Lernen mehr informell und ohne Unter- richt 1m engeren Sinn erfolgt, der Begriff »Freilerner« eingebürgert. Ich verwende nun das Wort »Bildung« [engl.: education], wie es Holt in seinem Buch Instead of Education verwendet: ... etwas, das Menschen fiir andere zu ihrem eigenen Besten tun, indem sie sie formen und versuchen, ihnen all das beizubringen, was sie ihrer Meinung nach wissen sollen. Indem ich beschreibe, wie Familien ohne jene von Pflichtschulen ange- botene Bildung leben und lernen, versuche ich nicht, den Nachweis zu erbringen, dass Schulen gänzlich abgeschafft werden sollten. Ebenso wenig wie Illich, als er sein Buch Entschulung der Gesellschaft schrieb. Homeschooler konnen sehr wohl Klassenzimmer, traditionelle Lehrme- thoden und sogar Lehrbücher und überholte Lehrpläne verwenden - in einigen US-Bundesstaaten nehmen Homeschooler sogar am öffentlichen Schulunterricht teil - aber sie tun dies aus eigenem Antrieb und unter selbstgewählten Bedingungen. Freilerner bestimmen selbst, was, wann, warum, wie und von wem sie lernen wollen. Dadurch haben sie eine voll- kommen andere Beziehung zu ihrer Schulausbildung als Schüler, die bloß aufgrund ihres Alters in einer bestimmten Klasse sitzen. Vieles kann schulartige Arrangements für die eigene Ausbildung wünschenswert machen, und interessante Lehrer werden willige Schüler immer anziehen, egal wo oder wie sie lehren. Ich stelle mich lediglich gegen das Konzept, dass Bildung dem Lernwilligen in vorgegebenen Dosen verabreicht wer- den soll. Diese Kampfansage ist heute besonders wichtig, weil wir jetzt 96 Gesetze und eine Bildungspolitik erschaffen, die den Zeitraum des Pflicht- unterrichts sogar noch ausweitet, eine zukünftige Anstellung direkt mit schulischen Tests und Zeugnissen verknüpft und unsere Kultur durch eine Liste von Lerninhalten standardisiert. Unschooling oder Freilernen und Homeschooling sind in der Praxis eng miteinander verwoben, wobei Holt in diesem gesamten Kapitel das Konzept des Freilernens als politi- sche, hoch spezifizierte Methode verwendet. ¢¢ In diesem Kapitel möchte ich mich mit einigen sogenannten politi- schen Einwände gegen Freilernen befassen: (1) Freilernen können nur reiche/oder auf andere Weise privilegierte Personen betreiben; (2) Personen, die selbst Freilernen betreiben, machen es den armen Kindern, die in der Schule bleiben, nur schwerer; (3) Schulen sind bereits definitionsgemäfß und von ihrer Philosophie her auf Gleich- berechtigung ausgerichtet und sind - werden in Zukunft, oder werden in Zukunft dazu gemacht - eine hilfreiche Einrichtung für arme Kin- der; (4) Eltern, die mit ihren Kindern Freilernen betreiben, ignorieren die Notwendigkeit für eine soziale und ausbildungsbezogene Verän- derung im großen Stil, sie kümmern sich nicht darum oder sind ein- fach zu selbstsüchtig, um sich daran zu beteiligen. FREILERNEN UND SOZIALE VERÄNDERUNG Als wir begannen, Eltern zu raten, ihre Kinder aus der Schule zu neh- men, und die Zeitschrift Growing Without Schooling ins Leben riefen, setzten wir nur die einfache Theorie über sozialen Wandel um, die besagt, dass wichtige und dauerhafte gesellschaftliche Veränderun- gen immer langsam erfolgen. Denn diese Veränderungen greifen nur dann, wenn die Menschen nicht nur ihre politischen Ansichten, poli- tischen Interessensvertretungen oder Regierungsformen ändern, sondern tatsächlich ihr eigenes Leben. Echter sozialer Wandel ist ein Prozess, der über eine meist sehr lange Zeitspanne erfolgt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte denken und handeln 99 Prozent der Gesellschaft in bestimmter Weise, während nur ein Pro- zent deutlich anders denkt und handelt. Im Laufe der Zeit werden aus diesem einen Prozent erst zwei, dann fünf, dann 10, 20, 30 Pro- zent, bis sie schließlich die herrschende Mehrheit darstellen. Damit hat sozialer Wandel stattgefunden. Wann ereignete sich dieser 97 soziale Wandel? Wann hat er begonnen? Darauf gibt es keine klare Antwort. Man kann nur sagen, dass jeder gesellschaftliche Wandel damit beginnt, dass zunächst eine einzige Person über gesell- schaftlichen Wandel nachdenkt. Wir, die daran glauben, dass Kinder die Welt von sich aus erkun- den wollen, es sehr gut können und wir darauf vertrauen können, dass dazu kaum Zwang, Anleitung oder Beeinflussung durch Erwach- sene nötig sind, stellen heute möglicherweise nicht mehr als ein Pro- zent der Bevölkerung dar, wenn überhaupt.” Zu meinen Lebzeiten werden wir auch kaum die Mehrheit erzielen. Das stört mich auch nicht weiter, solange diese Minderheit beständig wächst. Und meine Arbeit besteht darin, dieses Wachstum zu fördern. Wenn wir die Mehrheit unserer Gesellschaft (oder der Welt) im Hinblick auf Kin- der und Ausbildung als Bewegung in die Richtung X betrachten, und unsere kleine Minderheit als Bewegung in die Richtung Y, so will ich all jenen helfen, die sich in Richtung Y bewegen wollen, damit sie sich auch tatsächlich in Richtung Y bewegen. Es hat keinen Sinn, unablässig zu der großen Mehrheit auf dem Weg in Richtung X hin- überzurufen: »Hey, ihr, hört auf, dreht um, ihr geht in die falsche Rich- tung!« Die Menschen ändern nicht ihre Ansichten und noch weniger ihr Leben, nur weil jemand mit einem klugen Argument vorbeikommt und ihnen zeigt, dass sie auf dem falschen Weg sind. Wenn wir echte, tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft herbeiführen wollen, sind diese Belehrungen und Dispute größtenteils Zeitverschwendung. Im Bereich Bildung traf dies sicher zu. Wie schon gesagt habe ich gemeinsam mit vielen anderen jahrelang mit den Vertretern des Mainstreams über Bildung diskutiert, und dies sowohl mit Pädago- gen, als auch der breiten Öffentlichkeit. Im Grunde waren alle diese Diskussionen erfolglos. Nur sehr wenige Schulen leiteten die von uns vorgeschlagenen Veränderungen ein. Und von diesen wenigen wan- delten sich nur einige wenige langfristig, während es in den meisten heute schlimmer aussieht denn je. Unsere Gespräche haben jedoch offenbar einer kleinen Gruppe von Menschen geholfen, ihre Arbeit und ihr Leben radikal umzustellen, sich von der im Mainstream mar- schierenden Armee zu trennen und ihre eigene Richtung einzu- schlagen. Aber sind Veränderungen in so kleinem persönlichen Rahmen bereits politisch, bringen sie bereits eine Veränderung der Gesell- schaft in ihrer Gesamtheit mit sich, bzw. sind sie dazu imstande, den 98 Impuls dafür zu setzen? Das hängt von vielen Faktoren ab. Können auch andere Menschen, die weder reich, mächtig noch sonst wie besonders sind, tun, was diese Menschen tun, wenn sie es wollen, ohne dadurch unangemessene Risiken einzugehen oder Opfer zu bringen? Sprechen jene, die bereits ihr Leben verändern, auch mit anderen darüber, was sie tun und wie? Mögen private Handlungen noch so radikal und befriedigend sein, sie werden erst dann zu einer politischen Bewegung, wenn sie auch bekannt werden. Von Einzelpersonen oder Kleingruppen durchgeführte Aktionen sind also erst dann politisch, wenn sie die Kraft besitzen, sich zu ver- vielfältigen. Als ich Eltern aufforderte, eigene Schulen zu gründen, wenn ihnen die lokalen Schulen nicht gefielen, wirkte dies wie eine politische Tat, weil es aussah, als könnte jeder, der dies wollte, das- selbe tun. Aber wenn wir unter »Schule« einen bestimmten Lernraum verstehen, der für nichts anderes verwendet wird und mit hauptamt- lich bezahlten Lehrern ausgestattet wird, dann kostet selbst die klein- ste Schule mehr Geld, als die meisten Menschen besitzen oder auf- bringen können. Während ich dies schreibe, musste eine der besten kleinen Alternativschulen dieser Region nach zehn Jahren guter Arbeit die Tore schließen, weil sie das für den Betrieb nötige Geld nicht mehr aufbringen konnte. Derartige Schulen haben nicht die Macht, sich zu vervielfältigen - Homeschooling hingegen hat sie. Zweifellos benötigt man auch eine besondere innere Einstellung und entsprechendes Engagement, um die eigenen Kinder zu unterrichten. Diese Fähigkei- ten besitzen viele Menschen oder können sie mit etwas Hilfe erwerben. Auch diese Fähigkeiten können sich vervielfältigen. Selbst wenn sich viele Freilerner nicht so sehen, sind sie im wahrsten Sinne des Wortes Anführer. Dies muss nicht unbedingt jemand sein, dem eine große Menschenmenge folgt. Anführer sind Menschen, die ihren eige- nen Weg gehen, ohne sich darum zu kümmern oder sich auch nur umzusehen, ob ihnen jemand folgt. »Führungsqualität« ist nicht die Fähigkeit, Gefolgsleute anzuziehen, sondern die Fähigkeit, andere so weit zu bestärken, dass sie allein zurechtkommen. Dazu gehören Mut, Ausdauer, Geduld, Humor, Flexibilität, Einfallsreichtum, Ent- schlossenheit, ein guter Realitätssinn und die Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Das ist das Gegenteil von »Charisma«, von dem wir so oft hören. Charismatische Anführer regen uns an zu sagen: »Ach, wenn ich das doch auch könnte, wenn ich doch auch so sein könnte.« Echte Anfüh- 99 rer regen uns an zu sagen: »Wenn die so etwas tun können, dann kann ich das verdammt noch mal auch!« Sie machen die Menschen nicht zu Gefolgsleuten, sondern zu neuen Anführern. Die Home- schooling-Bewegung ist voll von solchen »normalen« Menschen, die Dinge tun, die sie sich nie zugetraut hätten, sich beispielsweise mit Gesetzestexten auseinandersetzen, Expertenmeinungen in Frage stellen, sich gegen arrogante Behörden behaupten, sich und ihre Überzeugungen auch in der Presse, im Fernsehen und sogar vor Gericht verteidigen. Andere normale Menschen, die sie dabei sehen, gelangen wiederum zu der Ansicht, dass sie dasselbe schaffen, und tun es dann auch. Deshalb ist der Begriff Homeschooling-»Bewegung« möglicher- weise irreführend. Die meisten Menschen verstehen unter Bewegung eine Armee aus einigen wenigen Generälen und vielen einfachen Sol- daten. In der Homeschooling-Bewegung ist jeder selbst ein General. EIN WENIG IRONISCH ... Neulich schickte uns jemand einen Zeitungsbericht über einen Vater, der durch eigene Nachforschung in Erfahrung gebracht hatte, dass an einem durchschnittlichen Schultag mehr als die Hälfte der Schüler, welche die Örtliche Junior High School seines Sohnes besuchten, den Unterricht schwänzten. Dies war ein bedeutend höhe- rer Anteil, als aus den offiziellen Zahlen hervorging. Weil dieser Vater der Ansicht war, dass dieser Umstand in vielfacher Hinsicht die Qua- lität der Schulbildung seines Sohnes beinträchtige, forderte er die Schulbehörde auf, etwas gegen dieses massive Fernbleiben vom Unterricht zu unternehmen. Die Schulbehörde führte ihn daraufhin auf einen Irrweg durch sämtliche Etagen der Schulbürokratie. Mehr als ein Jahr lang versuchte er, jemanden innerhalb des Schulsystems zu finden, der etwas gegen das Schuleschwänzen unternahm. Es wäre schon ein erster Schritt gewesen, wenn jemand seine Schät- zung über das Fernbleiben vom Unterricht bestätigt hätte. Aber er erreichte gar nichts. In seiner Verzweiflung ging er schließlich mit sei- ner Geschichte an die Presse. Ob er je eine zufriedenstellende Lösung gefunden hat, weiß ich nicht. Für mich ist es jedoch entscheidend, dass dieser Vater trotz eines einjährigen persönlichen Einsatzes nicht imstande war, die 100 Schulbehörde zu bewegen, etwas gegen das massive Schule- schwänzen an der Schule seines Sohnes zu unternehmen. Nehmen wir an, er hätte schließlich empört gesagt: »Ich habe es satt, euch zu bitten, eure Schulen in Form zu bringen; ich nehme meinen Jungen aus der Schule und unterrichte ihn zu Hause selbst.« Innerhalb weni- ger Tage hätte ihm die Schule die Polizei nach Hause geschickt. » Allgemein ist in den letzten Jahren in einigen Städten die Zahl der Schulschwänzer gesunken, während sie in anderen Städten noch gestiegen ist. Die Ironie bleibt uns also weiter erhalten. Zum Beispiel wurde eine Homeschooling-Familie beim Sozialamt wegen Vernachlässigung der Ernährungs- und Ausbildungspflicht angezeigt, weil der Informant bemerkt hatte, dass sich die Familie vegetarisch ernährte und Home- schooling betrieb; die Untersuchung des Sozialamtes sprach die Familie von diesen Vorwürfen frei. Zum Glück sind derartige Fälle nicht an der Tagesordnung, wenn sie auch immer wieder auftreten. Das wirft die Frage auf, warum man bei Homeschooling-Familien so schnell nachhakt: »Warum waren diese Kin- der nicht in der Schule?« und »Welche Nahrung nehmen sie zu sich?«, während in öffentlichen Schulen wesentlich mehr Kinder von Hunger und Schulschwinzen betroffen sind. Die sichtbarsten Bemühungen der Regierung zur Eindimmung des Schuleschwinzens bestehen in einem weiteren Eingriff in das Familienleben, indem Strafen angedroht werden: In einigen Bundesstaaten werden die Eltern für das Schuleschwänzen ihrer Kinder verantwortlich gemacht und zu Geldstrafen verurteilt. Im September 2001 schrieb das amerikanische Justizministerium, dass Schulen die Jugendgerichte mit einer wesentlich höheren Zahl an Fällen von unerlaubtem Fernbleiben vom Unterricht bemühen als je zuvor: »1998 betrug der Anteil an unerlaubtem Fernbleiben 26 Prozent aller formell behandelten Straffälle. Dies entspricht einem Anstieg dieser Fälle an den Jugendgerichten um 85 Prozent seit 1989 (von 22 200 Fällen im Jahr 1989 auf 41000 Fälle im Jahr 1998). Um diese Steigerung abzu- fangen, führte Arizona laut Aussage des Justizministeriums eine Ergän- zung zur Verfassung des Bundesstaates ein, die »die Durchsetzung der geltenden Anwesenheitsstatuten der Pflichtschulen stärkt, indem Bußgel- der für Eltern eingeführt wurden«. Die verstärkte Verfolgung von unerlaubtem Fernbleiben vom Unter- richt kann auch Homeschooling-Familien betreffen. So hat es im letzten Jahrzehnt einige Fälle gegeben, bei denen die Behörden nach Schul- 101 schwänzern suchten und Homeschooler entdeckten, die sich ohne Beglei- tung außerhalb ihres Zuhauses aufhielten. Deshalb benötigen Home- schooler heute in einigen wenigen Schulbezirken der USA eigene Aus- weise, die es ihnen gestatten, sich während der Schulstunden in der Öffentlichkeit aufzuhalten. Ohne Ausweis müssen sie von einem Eltern- teil begleitet werden. Dieser Eingriff in die persönliche Freiheit wird von Schulbehörden und Politikern als unabwendbare Begleiterscheinung im Kampf gegen unerlaubtes Fernbleiben vom Unterricht gerechtfertigt. Falls man auch in Ihrer Heimatstadt eine Ausgangssperre verhängt, um gegen das Problem des Schuleschwänzens anzukämpfen, sollten Sie sich nicht mit dieser einfachen Rechtfertigung zufriedengeben. Einige Homeschoo- ler haben sich erfolgreich gegen derartige Regelungen gewehrt, sobald sie eingebracht wurden. Die Verfolgung von Schulschwänzern und eine Ausgangssperre schei- nen seitens der Schulbehörden vernünftige Maßnahmen gegen das Schul- schwänzen zu sein, die durch große Zustimmung in der Öffentlichkeit vermutlich auch weite Verbreitung finden. Eine derartige Vorschlag- hammerpolitik trifft jedoch häufig auch unschuldige Personen - meist unbeabsichtigt, aber deshalb nicht weniger schmerzlich - wie der Fall der Homeschooler zeigt. Während wir mit der Peitsche in der Hand in der Ausbildung durchzugreifen versuchen, scheinen wir vergessen zu haben, wie das Zuckerbrot aussieht. Zum Beispiel spricht die Jugendabteilung des Justizministertums ausdrücklich von der Schule als »Zuckerbrot«, wenn sie sich auf ihr Konzept von »Zuckerbrot und Peitsche« im Kampf gegen das Schulschwänzen bezieht. Diese Argumentation erschwert es, überhaupt über Alternativen zur Schule nachzudenken, geschweige denn über Entscheidungen zum Schulschwänzen und das öffentliche Bil- dungswesen. Soziale und persönliche Gründe dafür, dass viele Kinder und ihre Familien die Schule möglicherweise nicht als Zuckerbrot betrach- ten, werden von jenen Juristen, welche die Schule schlichtweg als Zucker- brot bezeichnen, erst gar nicht behandelt. Wie dieser Vater aus Philadelphia musste auch ich feststellen, dass es schwerer ist als man denkt, belegbare Zahlen über das unerlaubte Fern- bleiben vom Unterricht zu finden. So gibt es zum Beispiel keine bun- desweiten Aufzeichnungen darüber, und auch die Schulen selbst geben die genauen Zahlen nur schleppend bekannt. Zeitungsberichte aus loka- len und bundesstaatlichen Quellen bieten uns dennoch einen Überblick über das Ausmaß des Problems des Schulschwänzens. Die Detroit Free Press berichtete am 02. April 2000: 102 Die Zahl der Schulschwänzer zu senken, zählt zu den »Eckpfeilern« der Schul- reformbemühungen von Detroit ... Die Beamten der Stadt wenden etablierte Gesetze gegen unerlaubtes Fernbleiben vom Unterricht an, die nie zuvor getes- tet wurden. Die Schüler mit den meisten Eintragungen wegen Fernbleibens vom Unterricht werden gemeinsam mit ihren Familien vor Gericht gebracht, um die hohe Rate an Schulschwänzern zu senken, unter der die Stadt leidet: Fast 40 Prozent der 167400 Schüler des Bezirks sind betroffen. Auf der Website parentingteens.com werden die nachstehenden Zahlen veröffentlicht, die von seriösen nationalen Ausbildungsinstituten gemäß dem Gesetz zur Bekämpfung von Verbrechen und Aufruhr gesammelt wurden: In Pittsburgh bleiben täglich etwa 3500 Schüler - das sind 12 Prozent aller Schüler - dem Unterricht fern. Etwa 70 Prozent dieses Fernbleibens erfolgt unentschuldigt ... In Philadelphia bleiben täglich etwa 2500 Schüler unentschuldigt dem Unterricht fern ... In Milwaukee bleiben pro Schultag etwa 4000 Schüler unentschuldigt dem Unterricht fern ... Bei Jugendlichen bis zum Alter von 16 Jahren verwischen konventio- nelle Schulreformprogramme wie die Ganzjahresschule und die steigende Zahl von Doppeleinschreibungen, wobei High-School-Schüler auch Col- lege-Kurse besuchen dürfen, die Grenzen zwischen Schulschwänzern und Nichtschwänzern, wenn sie während der Unterrichtszeit außerhalb der Schule angetroffen werden. Anstatt die Schulschwänzer zurückzu- gewinnen, versuchen die Schulen, diese Jugendlichen zurückzuzwingen, wobei sie gleichzeitig thre Familien der öffentlichen Schande preisge- ben. Wenn wir uns verstärkt darauf konzentrierten, mehr Geld und Auf- merksamkeit für Alternativen zum gängigen Schulwesen aufzuwenden, anstatt Menschen dafür zu strafen, dass sie nicht zur Schule gehen, könnten wir vielleicht erfahren, welche Möglichkeiten und Bedürfnisse diese Kinder und ihre Familien tatsächlich haben und welche wir anspre- chen sollten. Homeschooling liefert uns einige Hinweise dafür, wie diese Alterna- tiven schon heute aussehen können. Eine Geschichte, die 1994 in GWS veröffentlicht wurde, ist mir in Erinnerung geblieben. Hier schreibt Kathryn Miller Ridiman aus Kentucky: Zu Hause wurde ich geschlagen und gedemütigt - oder bestenfalls ignoriert ... 103 In der Schule war ich durch meinen starken Appalachen-Akzent und meine ländliche Herkunft eine Außenseiterin ... Mein wahres Leben, in dem ich kom- petent und gebildet war und akzeptiert wurde, spielte sich weit abseits von Schule und Familie ab. Kathryn Ridiman beschreibt schließlich, wie sie im Alter von fünfzehn Jahren Leiterin eines Reitstalls in einem Vorort wurde. In ihrer Antwort schrieb GWS5-Herausgeberin Susannah Sheffer: Natürlich brauchen Kinder mit einem schwierigen Familienhintergrund eine Art Zuflucht, einen Ort, an dem sie sich »kompetent, gebildet und akzeptiert« fühlen. Auch wenn viele nie einen derartigen Zufluchtsort finden, wünsche ich ihnen einen solchen. Ich glaube gerne, dass fiir einige Kinder die Schule zum Zufluchtsort wird, oder zumindest zu einem Ort, den sie threm Zuhause vor- ziehen. Ich glaube jedoch nicht, dass sich die Schulen selbst vorrangig als Zufluchtsort sehen. Wenn sie als Zufluchtsort fir Kinder mit Problemen gedacht wären, wo diese sich kompetenter und akzeptierter fühlen können als zu Hause, wären Schulen nicht so konzipiert, wie sie es heute sind, d. h. mit Tests, Zensuren und wenig Gelegenheit fiir echte Arbeit usw. Wenn wir begrei- fen, wie viel Positives Kathryn durch ihre Arbeit im Reitstall erfahren hat, kon- nen wir erkennen, wie wenige dieser Elemente, die sich im Reitstall fanden, auch in der Schule vorhanden waren. Aber selbst wenn Schulen für einige Kinder tatsächlich Zufluchtsorte sind, sind sie fur viele andere Kinder nur ein weiterer Ort, an dem sie sich gedemiitigt, unbeachtet, dumm, inkompetent und von allen echten Anliegen abgeschnitten fühlen. Die fiir mich zentrale Frage hierbei lautet: Wie können wir Kindern abseits von Schule und Zuhause andere Zugänge erschließen, die eine Alternative für thre unbefriedigende Situation zu Hause und in der Schule sind?” Das Kind zu zwingen, in dieselbe Situation zurückzukehren, aus der es geflohen ist, 1st für Schule und Kind gleichermaßen eine Niederlage; kön- nen wir ihnen nicht stattdessen helfen, etwas zu finden, was sie in der Schule nicht bekommen? Selbstverständlich ist das eine schwierige und aufwändige Aufgabe, aber dasselbe gilt auch für verstärkte Überwachung jedes anderen Kindes im schulpflichtigen Alter.€¢ 104 WEM HELFEN SCHULEN? Lehrer und Erzieher glauben aufrichtig und halten leidenschaftlich daran fest, dass Schulen dazu ins Leben gerufen wurden, um be- nachteiligten Kindern eine bessere Chance auf gesellschaftlichen Aufstieg zu bieten. Wir sollten begreifen, warum das heute und ver- mutlich auch in Zukunft so selten der Fall ist. In einem Land mit so wenigen Reichen und Mächtigen und so vielen Armen und Schwachen wollen die Reichen natürlich so gut wie möglich sicherstellen, dass ihre Kinder nicht zu den Armen zählen werden. Diese Möglichkeit ist einer der wichtigsten Vorteile von Reich- tum. Um dies zu erreichen, kann man Wissen - und damit Zugang zu Macht, Privilegien und Besitz - so stark wie möglich einschränken, indem man es teuer und somit unerreichbar macht. Das ist eine der Aufgaben, die Schulen übernehmen, und zwar in jedem Land der Welt und ungeachtet ihrer jeweiligen Ideologie und Ökonomie. Viele Menschen, die heute in den USA in der rasch wachsenden Solarenergiebranche arbeiten, besitzen keinen entsprechenden College-Abschluss. Der Großteil der Arbeit und der wichtigsten Aufgaben wird von Kleinunternehmen, »Garagenerfindern«, Hobby- ingenieuren und Amateuren geleistet. Jeder kann an das bekannte Wissen gelangen und sich der Arbeit anschließen. An den Colleges und Universitäten beginnt man im Fachbereich Solarenergie damit, Zensuren zu vergeben, so dass von heute an erst in zehn Jahren viele, die in diesem Fachbereich arbeiten, über diese Diplome ver- fügen werden (wenn auch immer noch nicht alle). Sobald genug Absolventen vorhanden sind, werden sich die Colleges und Uni- | versitaten, welche die Diplome vergeben, darum bemuhen, dass ent- sprechende Gesetze verabschiedet und Vereinbarungen getroffen werden, die besagen, dass wichtige Aufgaben im Bereich der Solar- energie nur noch von derart diplomierten Fachleuten ausgeführt wer- den durfen. Sie werden also versuchen, ein weiteres Betatigungsfeld fur menschliche Erfindungen und Aktionen in einen »Beruf« umzu- wandeln, in ein legalisiertes Monopol, das nur jene ausuben durfen, die eine teure Ausbildung durchlaufen haben. Dies ist neben anderen Tatigkeitsbereichen auch in der Justiz passiert. Abraham Lincoln hat - wie so viele andere - die Gesetze nicht an einer juristischen Fakultat gelernt, sondern durch das Selbst- studium von Gesetzestexten. Bis vor kurzem sprach man nicht davon, 105 Jura »zu studieren«, sondern davon, das Gesetz »zu lesen«. (In Eng- land bezeichnet man das Studium der Rechtswissenschaften immer noch als »Lesen des Gesetzes«.) Armen Jungen (und seltener Mädchen) stand es frei, Rechtsanwalt zu werden, indem sie das Gesetz lasen und danach in einer Rechtsanwaltskanzlei arbeiteten, WO sie zunächst einfache Aufgaben erfüllten. Je mehr sie gelernt hat- ten, desto mehr Verantwortung übertrug man ihnen, bis sie vielleicht sogar eines Tages eine eigene Kanzlei eröffneten. Zweifellos waren die Söhne reicher Familien immer noch deutlich im Vorteil. Aber die Armen hatten zumindest einen Zugang, wenn auch nicht mehr. In vielen Bundesstaaten, wenn nicht in den meisten, kann man heute nicht als Anwalt arbeiten oder auch nur die Anwaltsprüfungen able- gen, wenn man nicht an einer juristischen Fakultät studiert hat - und es gibt mehr Menschen, die Rechtswissenschaften studieren wollen, als Studienplätze verfügbar sind. Abgesehen davon bekommen nahezu ausnahmslos Absolventen »guter« juristischer Fakultäten die sogenannten »guten« Fälle, wobei die meisten dieser Absolventen zunächst auf sogenannte »gute« - sprich teure - Colleges gingen. Mitunter gelingt es auch einigen jun- gen Leuten aus »einfachen Verhältnissen«, diesen Hindernislauf zu bewältigen, so dass wir uns in dem Glauben wiegen, es herrsche Chancengleichheit. Doch das entspricht nicht der Realität. Berufli- cher Erfolg ist heute mehr denn je von der gesellschaftlichen Stel- lung der Herkunftsfamilie abhängig. [Anm. d. dt. Hrsg.: Insbesondere in Deutschland.] Bis vor nicht allzu langer Zeit waren jedoch in den USA zahlreiche Berufe, für die heute ein Diplom oder Ähnliches erfor- derlich ist, auch ohne eine derartige formale Qualifikation zugäng- lich. Wie und wo erwarb man damals sein Wissen? Man lernte, wie Lincoln, indem man Bücher las, seine Augen und Ohren öffnete, Fra- gen stellte und mit oder für Personen arbeitete, die mehr wussten. Schulen behaupten gerne von sich, dass sie Wissen schaffen | und verbreiten. Sie kamen der Wahrheit naher, wenn sie zugaben, dass sie Wissen sammeln und horten und wenn möglich den Markt beherrschen, um ihr Wissen zu Hochstpreisen zu verkaufen. Nur aus diesem Grund wollen sie alle in dem Glauben lassen, dass man nur in der Schule Wertvolles lernen könne. Aber dieses Denken festigt nur die Klassenstruktur der Gesellschaft und schließt die Armen weiterhin von beruflichem und damit gesellschaftlichem Erfolg aus. 106 Zu den vielen Nebeneffekten von Reichtum und Macht in jeder Gesellschaft zählt die Fähigkeit zu bestimmen, welche Art von Wis- sen - und dabei handelt es sich selbstverständlich um das eigene Wissen - bedeutend wichtiger ist als jedes andere. Daraus leitet sich ab, dass jene, die dieses Wissen besitzen - also Reiche, Mächtige und ihre Freunde - selbst wesentlich wichtiger und verdienstvoller erscheinen als Menschen, die etwas anderes wissen. Damit ist es nur allzu verständlich, warum in jeder Gesellschaft die durch Reich- tum oder hohe Regierungspositionen mächtigsten Persönlichkeiten gerne behaupten, dass jegliches Wissen, das die meisten Menschen in Ihrem Alltagsleben und ihrer Arbeit aufschnappen, weniger wert ist, als jenes Wissen, das man an besonderen Orten erwerben kann, und vor allem an solchen, deren Zugang sie kontrollieren. EIN MANN, DEN DAS LEBEN LEHRTE In seinem Buch Travels Around America berichtet Harrison Salisbury von seinen Bemühungen, dem Weg nach Westen zu folgen, den einige seiner Vorfahren genommen hatten. Er beschreibt einen von ihnen folgendermaßen: Er [Hiram Salisbury] war ein Mann seiner Zeit [1815] ... Ich suche in dem Tagebuch nach Hinweisen und rekonstruiere den postrevolutionären Ame- rikaner. Dazu stelle ich eine Liste seiner Fähigkeiten auf, indem ich ein Blatt nach dem anderen fülle. Er beherrschte jede Arbeit in der Landwirt- schaft. Er melkte Kühe und half bei der Geburt von Kälbern. Er verarztete sein Pferd. Er pflügte, pflanzte, bestellte das Feld, machte Heu, pflückte Äpfel, veredelte Obstbäume, schnitt Weizen mit der Sense, band Hafer- garben und drosch Getreide mit dem Dreschflegel auf dem Lehmboden. Er häckselte Mais und lagerte sein Gemüse für den Winter ein. Er stellte Apfelwein her und baute Obstpressen. Er machte Käse und fabrizierte Käsezangen. Er schlachtete Schweine und schor Schafe. Er machte But- ter und salzte sie ein. Er stellte Seife und Kerzen her, deckte Scheunen mit Stroh und baute Räucherkammern. Er schlachtete Ochsen und kon- struierte Ochsenschlitten. Er bekämpfte Waldbrände und steckte Land ab. Er reparierte den Kranhaken von Smith’s Mühle und schmiedete eine Hal- terung für seinen eigenen Kamin, um daran den Kessel aufzuhängen. Er sammelte Eisen auf dem Land und schmolz es ein. Er reparierte die Schuhe seiner Kinder und seine eigenen. Er baute Rollbetten, Ochsen- 107 karren, Schlitten, Wagen, Wagenräder und Radspeichen. Er schnitt Baum- stämme zu Brettern und schlug Robinien, um daraus Zaunpfähle herzu- stellen. Er errichtete den Rahmen für Häuser und fabrizierte Balken, die sowohl verzapft als auch genagelt werden konnten. Mit Hilfe von sechs Männern stellte er Gerüste auf und baute Häuser. Er baute einen hüb- schen Kirschkasten mit einer Lade für seinen Cousin, reparierte Uhren und ging angeln. Er stellte selbst Metermaße her und verkaufte sie für einen Dollar pro Stück. Er reparierte Fensterstöcke, Schlösser und Kom- passe. Er schlug Holz, inspizierte den Wald, machte Aufzeichnungen und schnitzte Schindeln. Er beaufsichtigte die Aufzeichnungen der Stadt und prüfte die Bücher der Friendship Lodge, der ältesten provinziellen Frei- maurerloge des Landes (die immer noch existiert). Er stellte Pflüge her, schnitzte Gewehrkolben und baute Webstühle. Er setzte Grabsteine und fabrizierte Wagennaben. Er führte einen Buchladen und konnte innerhalb eines halben Tages einen ausgezeichneten Sarg zimmern. Er war Mitglied der Generalversammlung des Staates, Armenaufseher, Immobilienschät- zer und Mitglied des Stadtrates. Er stellte tausende von Fassreifen her, sowie Zinnarmaturen. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren war er Steuereinnehmer der Stadt ... Ich habe nicht alle Fähigkeiten von Hiram angeführt, aber es soll genü- gen. Meiner Ansicht nach war er kein ungewöhnlicher Mann. Würde man mich in Hirams Welt versetzen, würde ich nicht lange überleben. Würde man hingegen Hiram in unsere Welt versetzen, hätte er wohl ein paar klei- nere Schwierigkeiten mit dem Computer, aber er würde sich schneller damit auskennen, als ich eine Hafergarbe binden könnte. Ich bin geneigt, Harrison Salisbury zuzustimmen, dass Hiram zu sei- ner Zeit vermutlich kein ungewöhnlicher Mann war, in unserer Zeit jedoch höchst ungewöhnlich: Mit einem breiteren Wissensschatz und mehr Fähigkeiten war er intelligenter, erfindungsreicher, anpas- sungsfähiger, kreativer und kompetenter als die meisten Zeitgenos- sen, unabhängig von Ort und Ausbildung. Die eigentliche Frage, die ich hier stellen und beantworten will, lautet: Wie hat Hiram all diese Fähigkeiten erlernt? Eines steht fest. Er hat sie sich weder in der Schule noch bei Workshops angeeignet. Höchstwahrscheinlich lernte er all dies, von dem vieles außeror- dentliche Fertigkeiten erforderte, indem er dabei war, wenn andere Menschen es taten. Aber diese Menschen machten die Arbeiten nicht, um Hiram etwas beizubringen. Niemand baute eine Scheune, 108 nur damit Hiram sehen konnte, wie man eine Scheune baut. Sie bau- ten die Scheune, weil sie sie brauchten. Und niemand sagte zu ihm: »Hiram, während wir die Scheune bauen, bist du herzlich eingeladen vorbeizukommen, um zu lernen, wie man so etwas tut.« Sie sagten: »Hiram, ich baue eine Scheune und brauche deine Hilfe.« Er war dort, um zu helfen, nicht um zu lernen - und während er half, lernte er. Nahezu ein Jahrhundert später sprach John Dewey über »Lear- ning by Doing«. Ihm zufolge sollen Jugendliche, die zum Beispiel ler- nen wollen zu töpfern, nicht darüber lesen, sondern selbst Tontöpfe herstellen. Darüber braucht man nicht zu diskutieren. Aber in der Schule zu töpfern, nur um dieses Handwerk zu erlernen, ist nicht annähernd so sinnvoll, wie Tontöpfe herzustellen (und dabei zu lernen), weil jemand sie braucht. Es gibt keinen besseren Anreiz, um zu lernen, wie man eine Aufgabe gut erfüllt, und sie auch tatsächlich zu erfüllen, als das Wissen, dass die Arbeit getan werden muss und dass sie jemandem wirklich nützen wird. In seinem Essay »Intellekt« spricht Emerson wortgewandt über den Wert des Wissens gewöhnlicher Menschen: Jeder Geist hat seine eigene Methode. Ein wahrhaftiger Mensch lernt nie- mals nach Schulregeln. Was du auf natürliche Weise angesammelt hast, überrascht und erfreut, wenn es hervorgeholt wird. Denn wir können das Geheimnis des anderen nicht überwachen. Und darum sind die Unter- schiede der Menschen, was ihre natürliche Begabung betrifft, im Vergleich zu ihrem allgemeinen Wohlstand auch unbedeutend. Glaubst du etwa, der Dienstmann und der Koch haben keine Geschichte, keine Erfahrungen, keine Wunder, die sie dir mitteilen könnten? Jeder weiß so viel wie der Gelehrte. Die Mauern des rohen Gemüts sind über und über mit Tat- sachen, mit Gedanken bekritzelt. Eines Tages kommen sie mit einer Laterne, und dann lesen sie die Inschriften.« FREILERNEN UND DIE ARBEITERKLASSE Auf die Frage, wer Freilernen betreiben kann, schrieb mir eine Mut- ter und Lehrerin einen sehr interessanten Brief. Hier einige ihrer Aus- sagen (kursiv) und meine Kommentare: Nur Vertreter der weißen Ober- und Mittelschicht dürfen darauf hoffen, ihre Kinder problemlos aus der Schule nehmen zu können. 109 Das ist nicht unbedingt richtig und in Wirklichkeit auch nicht der Fall. Einige Familien, deren Kinder heute nicht die Schule besuchen, gehören keineswegs der Mittelklasse an. Mehrere Mütter leben von Sozialleistungen. Erst vor etwa einer Woche sprach ich mit einer Frau, die Jahrelang in San Francisco bezahlten Unterricht für Eltern von Kindern anbot, die nicht zur Schule gehen. Sie sagte, dass 70 Prozentihrer Klienten der Arbeiterklasse angehörten. Ich weiß nicht, ob diese Eltern ihre Kinder mit Einwilligung der Behörden aus der Schule genommen hatten, oder ob sie ihre Kinder einfach vor der Schule versteckten. Sie erzählte, dass allem Anschein nach jeder Busfahrer in der Stadt seine Kinder aus der Schule genommen habe. Auf meine Frage, warum sie ihre Kinder herausgenommen hätten, meinte sie, dass die Schulen die Kinder nicht beim Lernen unter- stützten und sogar behaupteten, die Kinder wären nicht fähig zu ler- nen. Einige Familien weigerten sich, dies zu akzeptieren, und began- nen, ihre Kinder zu Hause selbst zu unterrichten oder unterrichten Zu lassen. Der Arbeiterklasse angehörende und besonders farbige Eltern, die ihre Kinder aus der Schule nehmen, müssen damit rechnen, von den Behörden mit allen Mitteln verfolgt zu werden. Zunächst wurden bislang auch einige wenige weiße Familien der Mittelklasse von den Behörden mit allen Mitteln verfolgt. Wenn Schulen jemanden verfolgen wollen, verfolgen sie jeden. Außerdem bereitet es ihnen vermutlich mehr Sorge, wenn sie Kinder der Mit- telklasse verlieren als arme Kinder. Wenn ich mit Schulbehörden über Unschooling spreche, höre ich oft Klagen darüber, dass bald nur noch arme Kinder die Schulen besuchen werden. Fest steht, dass die Behörden niemandem Schwierigkeiten berei- ten, solange sie nicht wissen, dass die Kinder nicht zur Schule gehen. In Großstädten ist diese Methode vermutlich leichter umzusetzen als anderswo. Wie wir wissen, bleibt in allen Großstädten Tag für Tag ein hoher Prozentsatz der Schüler unentschuldigt dem Unterricht fern. Wenn es für Kinder so einfach ist, auf den Straßen herumzuhängen, sollte es noch einfacher sein, zu Hause (oder anderswo) etwas Inter- essantes und Wertvolles zu tun. Ich leugne nicht, dass im Fall einer offenen Auseinandersetzung mit den Behörden arme Familien - und vor allem nicht-weiße Familien es schwerer haben als weiße Mittelklassefamilien. Das steht fest. 110 Zumeist ist es jedoch möglich, eine derartige offene Auseinander- setzung zu vermeiden. Arme Kinder benötigen ein High-School-Diplom dringender als Mit- telklasse-Kinder - ohne einen derartigen Schulabschluss fällt es ihnen bedeutend schwerer, einen Job zu bekommen. Ich weiß nicht, wie sehr ein High-School-Diplom armen Kindern tatsächlich hilft. Sie werden in jedem Fall schwierige Zeiten durch- zustehen haben. Aber nehmen wir einmal an, dass arme Kinder tatsächlich dringend ein High-School-Diplom benötigen. Wichtig hier- bei ist, dass man auch ein High-School-Diplom erwerben kann, wenn man nicht die High School besucht, indem man einen High-School- Fernkurs belegt oder eine gleichwertige Prüfung ablegt. Außerdem können Kinder, die mehrere Jahre keine Schule besuchten, wieder an die Schule zurückkehren, wenn sie einen Abschluss machen möch- ten. Wie die Erfahrung zeigt, sind diese Schuleinsteiger den Schülern, welche die Schule durchgehend besucht haben, meist weit voraus. [Anm. d. dt. Hrsg.: Auch in Deutschland können Schulabschlüsse ohne Schulbesuch erworben werden. Dafür gibt es die sogenannte Schulfremdenprüfungen, zu denen man sich - je nach Bundesland unter bestimmten Bedingungen anmelden kann. Auch bieten Volks- hochschulen und einige Fernschulen die Vorbereitung auf diese Schulfremdenprüfungen an.] Eltern aus der Arbeiterklasse besitzen weniger Vertrauen in ihre Fähigkeiten, ihre Kinder zu unterrichten (denn wenn sie so klug wären, warum sind sie dann nicht reich?), so dass sie tatsächlich weni- ger befähigt sind, ihre Kinder zu unterrichten. Das mag stimmen, aber in dieser Hinsicht sind die Unterschiede zwischen Mittelklassefamilien und Arbeiterfamilien nicht sehr groß. Auch Eltern mit Universitätsabschlüssen haben mir gegenüber schon oft erklärt, dass sie nicht genug wüssten, um ihre Kinder zu unter- richten. In jeder Gesellschaftsschicht halten sich nur wenige Perso- nen für fähig, ihre Kinder zu unterrichten und dabei diese Aufgabe besser zu erfüllen, als es die Schulen tun. Unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit werden wir mit diesen beginnen müssen und hoffen, dass andere ihrem Beispiel folgen. 111 9? Seit John diese Kommentare geschrieben hat, haben wir einige über- raschende Geschichten über arme Familien und solche mit geringem Ein- kommen gehört, die erfolgreich Homeschooling betreiben. Aus einer Stu- die über Homeschooler, die 1992 im Staat Washington durchgeführt wurde, ergaben sich interessante Antworten auf die Frage, welche Wir- kung Homeschooling auf die Eltern hat. Eine Frau antwortete mit dieser Geschichte, wie sie und ihre Kinder gemeinsam lernten: Vorab will ich erwähnen, dass mir meine mathematischen Fähigkeiten (oder besser gesagt, mein Mangel an mathematischen Fähigkeiten) immer schon pein- lich waren. Beim Einkaufen flehte ich innerlich, dass mich die Kassiererin nicht betrügen möge, weil ich es nicht bemerkt hätte. Wenn wir Karten spielten, war es für mich eine Herausforderung, möglichst gleichgültig zu wirken, wenn ich einem anderen Mitspieler die Aufgabe übertrug, meinen Spielstand zu notieren. Ich machte mir Sorgen, ob ich imstande sein würde, meine Kinder zu unter- richten, und wo ich Hilfe bekommen könnte für den Fall, dass ich nicht mit- halten könnte. Heute sind meine Mädchen in der vierten und fünften Schul- stufe, und ich habe es soweit gut geschafft. Meine eigenen Fähigkeiten haben sich ebenfalls sprunghaft verbessert. Weil ich von vorne begann, weiß ich heute, wie und warum ich als Kind [in Mathematik] schlecht war. Heute liebe ich Mathematik! Ich berechne mein Wechselgeld schneller, als es die Kassiererin mit ihrer Kasse kann. Und gelegentlich kann ich sie sogar auf einen Fehler hinwei- sen. Auf diese Weise wurde Homeschooling auch für mich zum Segen. Beth V. ist eine jener Mütter, die an GWS schrieb. Sie unterrichtete damals schon seit fünf Jahren ihre drei Kinder. Ihr früheres Leben ist wohl kaum die Norm für eine Homeschooling-Mutter. Beth wuchs ohne Mutter auf, wurde im Alter zwischen fünf und vierzehn Jahren sexuell missbraucht und wurde bereits mit dreizehn Jahren drogensüchtig. Ihr Ehemann stammte aus einer verarmten Alkoholikerfamilie, in der es eben- falls Missbrauch gab. Er verließ die Schule im Alter von sechzehn Jahren und wurde wenige Jahre später zum Junkie. Irgendwie gelang es Beth, ihren High-School-Abschluss zu machen. Ihren zukünftigen Mann lernte sie dann in einer Anlaufstelle fiir Drogenabhängige kennen. Der Kampf gegen die Drogen fiel beiden schwer, vor allem jedoch ihrem Ehemann, aber schließlich gelang es ihnen, sich von den Drogen zu befreien und eine eigene Familie zu gründen. Beide sind heute - und schon seit Jahren - clean. Während sich die Eltern bemühten, thr Leben in Ordnung zu bringen, bekam ihr ältester Sohn Vinnie Schwierigkeiten in der Schule. Beth schreibt: 112 Als eine liebe Freundin von mir mit Hilfe der Learning Community, einem Satellitenprogramm in Maryland, Homeschooling betrieb, begann ich, mich über dieses faszinierende Thema zu informieren. Zur selben Zeit, als ich mich mit Homeschooling auseinandersetzte, schafften mein Mann und ich die wich- tigen Veränderungen in unserem Leben, die ich bereits beschrieben habe. Ich wusste, dass Vinnies früheres Umfeld viel mit seinem Perfektionismus und sei- nem geringen Selbstwertgefühl zu tun hatte. Daraufhin rief ich Manfred Smith von der Learning Community an und besprach mit ihm die Möglichkeiten des Homeschoolings für Vinnie. Meine größten Sorgen waren der Drogenkonsum meines Mannes, unser total kaputtes Leben und die Frage, ob Vinnie über- haupt davon profitieren könnte, wenn er mit seinen verkorksten Eltern zu Hause wäre. Manfred antwortete, dass ein Kind, das ein derartiges Leben führte, außerhalb der Schule besser zurecht käme, weil die Schule oft bereits beste- hende Probleme verstärke. Selbstverständlich hatte ich Manfred gesagt, dass wir es uns zum Ziel gesetzt hatten, eine ordentliche Familie zu werden, die offen dafür ist, neue Fähigkeiten zu erlernen, damit wir auch selbst bessere Eltern werden. Dies war sehr wichtig, und hätte ich es nicht klargestellt, hätte uns Manfred vermutlich nicht zum Homeschooling ermutigt. Dieses zwang mich, die Art von Mutter zu werden, die man für Home- schooling sein muss. Solange meine Kinder zur Schule gingen, konnte ich tun, was ich wollte, und somit auch Drogen nehmen. Zumindest sah ich es so. Jetzt aber wusste ich, wenn ich mich fir Homeschooling entscheide, waren die Gesundheit und Sicherheit meiner Kinder das Wichtigste. Und dafür musste ich mein ganzes Leben ändern ... Homeschooling war für mich der Anstoß, auch mein eigenes Leben zu ändern, und jetzt ist es das, was mich auf Kurs halt, damit ich die Art von Mutter bin, die ich sein will. 1975 schrieb John Holt in seinem Buch Freiheit 1st mehr, dass Armut »nicht von armen Menschen mit ungentigender Ausbildung verursacht wird und somit auch nicht durch mehr Ausbildung verringert oder abge- schafft werden kann«. Holt erklärt später: »Wenn man das Einkommen eines Armen erhöht, indem man ihm etwa einen Job gibt oder thm ein Einkommen garantiert, verbessern sich seine materiellen Lebensumstände erst, wenn man ihm auch die Dinge zugänglich macht, die er braucht, und dies zu Preisen, die er sich leisten kann. Es gibt genügend Hinweise darauf, dass eine profit- und marktorientierte Wirtschaft dazu nicht imstande ist ...« 113 Auch siebenundzwanzig Jahre später haben diese Worte ihre Gültig- keit nicht verloren. Zum Beispiel ist seit 1975 der aufgewendete Geldbe- trag in der öffentlichen und privaten Ausbildung beständig gestiegen, ebenso wie die Zahl der Diplome, dennoch steigt auch die Zahl der Armen langsam weiter an. Außerdem sinkt das Niveau der Schulen in den sozialen Brennpunkten der Großstädte, die vor allem von armen Kin- dern besucht werden, während die Kosten für die Ausbildung eskalieren. Eine Studie, die im Jahr 2001 von der Lumina Foundation for Education durchgeführt wurde, ergab, »dass es nur in fünf Bundesstaaten öffentliche 4-Jahres-Colleges gibt, die sich Studenten mit geringem Einkommen ohne finanzielle Hilfe leisten können«. Zahllose statistische und historische Beweise zeigen auf, dass sich Schuldiplome nicht unbedingt in soziale Mobilität und wirtschaftliche Gleichheit umsetzen lassen. Afroamerikaner und Frauen mit einem Bache- lor-Diplom, einem Mastertitel, einem Doktortitel oder einem anderen Fachdiplom kämpfen immer noch darum, in Bezahlung und Anerkennung ihren gleichermaßen ausgebildeten weißen bzw. männlichen Altersgenos- sen gleichgestellt zu werden, und das sogar an unseren hochgeschätzten Universitäten. Im New England Journal of Medicine wurde berichtete, dass Babys von farbigen Collegeabsolventen eine doppelt so hohe Sterblich- keitsrate aufwiesen wie die Kinder von gleich ausgebildeten Weißen; dies zeigt, dass man durch eine bessere Ausbildung nicht automatisch auch seine sozialen und gesundheitlichen Lebensumstände verbessert. Um der Armut zu entfliehen und Arbeit zu finden, muss man wesent- lich mehr tun, als nur eine gute schulische Leistung zu erbringen. Aller- dings 1st dies kaum zu glauben angesichts der massiven Werbung über den wirtschaftlichen Wert des Schulbesuchs, mit der wir bombardiert werden. Begriffe wie ethische Entwicklung o.ä. spielen kaum eine Rolle, dagegen ein besser bezahlter Job um so mehr. Dieses Argument verliert jedoch an Wirksamkeit, je mehr Zeit verstreicht und je mehr Menschen einen College-Abschluss erreichen. Während ich dies nun zu Beginn des Jahres 2002 schreibe, befinden wir uns inmitten einer Rezession, die College- Absolventen härter trifft als High-School-Absolventen. Im Jahr 2001 stieg in Massachusetts die Arbeitslosigkeit der College-Absolventen um 114 Prozent, im Vergleich zu einer Steigerung der Arbeitslosigkeit von High- School-Absolventen um 51 Prozent.” Lingere Ausbildung verliert zuneh- mend an Wirkung gegen die Armut. Und auch ein in vier Jahren erwor- benes teures Diplom wird in den nächsten Jahren kein Garantieschein | mehr für einen guten Job sein. 114 FREILERNEN UND ALLEINERZIEHENDE ELTERN Als Holt die ursprüngliche Version des vorigen Kapitels schrieb, zitierte er zwei Briefe von alleinerziehenden Müttern und fügte eine lange Ant- wort an eine »feministische alleinerziehende Mutter« bei, wie sich die Briefschreiberin selbst bezeichnete. Diese Mutter bat um Tipps, wie sie mit ihrer sechsjährigen Tochter Homeschooling betreiben solle, während sie gleichzeitig studierte und an einer juristischen Fakultät unterrichtete. John schlug vor, sie solle das Kind auf mehr Selbständigkeit vorbereiten oder ein älteres Kind zur Unterstützung anwerben. Anstatt Holts auf Mut- maßungen beruhende Antwort wiederzugeben, möchte ich lieber allein- erziehende Homeschooling-Eltern zu Wort kommen zu lassen, die ihre Arrangements beschreiben. Typischerweise entscheiden sich alleinstehende Homeschooling- Eltern für Jobs, bei denen sie die Kinder mit zu ihre Arbeitsstätte nehmen können, oder sie arbeiten zu Hause. Zum Beispiel entschloss sich Derrick Simpson, den Jungen Fasika als alleinerziehender Vater zu adoptieren und mit thm Homeschooling zu betreiben. Simpson musste einige bewusste Entscheidungen treffen, um dieses Arrangement mit seinem Arbeitsalltag zu vereinbaren: Ich entwerfe Computersysteme fiir das Gesundheitswesen ... Ich arbeite von zu Hause aus und habe mein Leben so eingerichtet, weil ich als alleinstehen- der Vater nicht ein Kind adoptieren wollte, um es dann in einer Tagesstitte unterzubringen. Deshalb arbeite ich mit meinen Klienten per Telefon oder E- Mail. Wenn ich etwa einmal pro Woche ins Krankenhaus gehen muss, um mich mit jemandem persönlich zu treffen, begleitet mich Fasika. Er hat sich auch schon mit einigen Kindern im Krankenhaus angefreundet. Er genießt es, ihnen am Computer zu helfen, und es tut thm gut, wenn er helfen kann. Alleinstehende Eltern stützen sich oft auf ältere Kinder, Babysitter, Ver- wandte oder enge Freunde, die ihre kleinen Kinder beaufsichtigen, wenn sie aus beruflichen Gründen abwesend sein müssen. Viele Eltern haben die Erfahrung gemacht, dass sie ihren Kindern bereits im Alter von acht bis zehn Jahren helfen können, so selbständig und selbstsicher zu werden, dass sie diese, wenn nötig, fur einige Stunden allein lassen können. Home- schooler im Teenageralter sind sogar noch selbständiger und häufig außer Haus aktiv, bei ehrenamtlichen Tätigkeiten in Musikgruppen oder Verei- nen, bei denen kaum noch elterliche Betreuung nötig 1st. 115 Für einen alleinstehenden Elternteil bedeutet Homeschooling jedoch mehr, als nur die Betreuung und Lernaktivitäten der Kinder zu organi- sieren. Diane McNeill aus Wisconsin schreibt: Für mich ist meine eigene Isolierung ein Problem. Es fällt mir schwer, von der Zeit, die ich mit meinen Kindern verbringe, etwas abzuzweigen und diese Zeit für mich zu verwenden. Alleinstehende Eltern leben ständig mit dem Schuld- gefühl, die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht rund um die Uhr erfüllen zu können. Wir haben niemanden, mit dem wir diese Aufgabe teilen können. Aber wenn ich nicht ausreichend fiir mich sorge, kann ich mich auch nicht richtig um die Kinder kimmern. Ich habe gelernt, den Kindern zu sagen: »Ich tue dies jetzt für mich«. So bin ich einem Chor beigetreten und sage mitunter: »Heute schafte ich dies oder das nicht mehr, denn ich habe Probe«. Sie haben auch nichts dagegen, und ihre Reaktion zeigt mir deutlich, dass sie sich freuen, dass ich auch etwas für mich tue. Sie wollen nicht mit ansehen, wie sich ihre Eltern abrackern und sagen: »Ich habe euch alles gegeben, aber für mich bekomme ich gar nichts.« In Wirklichkeit fällt es ihnen viel schwerer, mit einem Elternteil zu leben, der so fühlt. Deshalb ist es fiir uns alle besser, wenn auch ich einige Dinge habe, die ich fir mich tue. Christine Willard, deren Mann starb, als ihre Tochter drei Jahre alt war, schrieb über die Isolation und die finanziellen Sorgen, unter denen sie als alleinstehende Mutter litt, und wie sie sich erfolgreich davon befreite: Als Mutter-Tochter-Gespann sind wir die absolute Kleinstfamilie, so dass es mit- unter etwas klaustrophob wird. Wir stecken immer zusammen. Andererseits haben wir dadurch aber auch lernen müssen, miteinander auszukommen. Pro- bleme können nicht ungelöst bleiben, weil wir nur einander haben und deshalb immer wieder einen gemeinsamen Nenner finden müssen ... Jetzt, wo meine Tochter älter wird, entwickelt sie auch zu anderen Erwach- senen eigene Beziehungen. Sie hat immer schon Pferde geliebt. Nach unserem Umzug fanden wir eine Ranch, auf der sie Reitstunden bekommen kann. Weil sie auch sonst gerne auf der Ranch ist, haben wir allmählich jeden kennenge- lernt, der dort ein Pferd hält oder Reitstunden nimmt. Sie hat sich auch mit einem Pferdebetreuer angefreundet und hilft thm beim Füttern der Tiere. Als eines Tages eine vernachlassigte alte Stute ein Heim suchte, und wir ohnehin ein Pony brauchten, nahmen wir sie bei uns auf. Für uns ist es ein wundervolles Erlebnis, ein Pferd zu haben. Es hat unserem Leben einen Schwerpunkt gegeben, der außerhalb von uns beiden liegt, und da- rüber hinaus haben wir viele Freunde, die dieses Hobby mit uns teilen. 66 116 4 Das Leben mit Kindern KINDER, IHR WESEN UND IHRE BEDÜRFNISSE Viele Menschen, die Kinder mögen und ihre Gesellschaft genießen, vertreten anscheinend immer noch die überkommene Ansicht, dass die Sozialisierung unserer Kinder mit der Zerstörung eines bedeu- tenden Teils ihrer Persönlichkeit einhergehen muss. Dieser Gedanke erscheint mir nicht nur falsch, sondern auch schädlich. Es stimmt einfach nicht, dass jede Fähigkeit eine Art unterdrücktes Laster ist, oder dass der zivilisierte Mensch nichts anderes als ein gezähmter Wilder ist. Wie Abraham Maslow zu sagen pflegte, erklären sich die menschlichen Tugenden nur, indem »sie sich wegerklären«. Derartige Erklärungen passen nicht zu unseren Alltagserfahrungen. Ein berühmter Psychiater wurde lange mit der Aussage zitiert, das Kind sei ein Psychopath. Ich teile in diesem Fall die Meinung einer guten Bekannten, die nach der Geburt ihres siebten Kindes sagte: »Babys sind nette Menschen.« Paul Goodman schrieb einst über das »wilde Babyvolk«. Ein herz- licher und passender Ausdruck. Kinder erscheinen mir oft wie talen- tierte Barbaren, die nur allzu gerne zivilisiert werden wollen. Viele liberale Schulen und einige wohlmeinende Eltern leiden unter der Vorstellung, dass in ihren Kindern etwas Wildes, Wertvolles steckt, dass sie so lange wie möglich gegen Angriffe aus der realen Welt schützen müssen. Sobald wir uns von dieser Vorstellung befreien, wird unser Leben mit Kindern bedeutend einfacher, und gleichzeitig werden auch die Kinder selbst glücklicher. Während ich dies schreibe, 117 verbringe ich viel Zeit mit Babys, die bei mir den überwältigenden Eindruck hinterlassen, sich nichts inniger zu wünschen als dazuzu- gehören, am Leben teilzunehmen und das Richtige zu tun - das heißt, genau das zu tun, was wir tun. Wenn ihnen dies nicht immer gelingt, dann nur aus Mangel an Erfahrung, oder weil sie von ihren Gefühlen überwältigt werden. Seltsamerweise sind die reaktionäre und die romantisch liberale Ansicht über Kinder wie zwei Seiten einer Medaille. Die Hardliner erklären, dass wir alles Übel aus den Kindern herausprügeln müssen, um sie auf die Welt vorzubereiten. Die romantischen Kinderfreunde erklären, dass wir bei der Vorbereitung auf diese Welt das Gute im Kind größtenteils zerstören. Während die eine Gruppe behauptet, Kin- der seien fehlerhafte Miniaturausgaben von Erwachsenen, behauptet die andere Gruppe, dass Erwachsene überdimensionierte fehlerhafte Kinder seien. Beides ist falsch. Aber es gibt tatsächlich Mittel und Wege, wie man Kindern helfen kann, sich zu entwickeln und ihre besten Fähigkeiten zu behalten und weiterzuentwickeln. Wie uns das | gelingen kann, darüber sprechen wir in diesem Kapitel. Wir konnen viel durch das Buch Auf der Suche nach dem verlo- renen Gluck von Jean Liedloff lernen, das zu den wichtigsten Büchern zählt, die ich je gelesen habe. Sie (ebenso wie zahlreiche andere - Frédérick Leboyer, Ashley Montagu, John Bowlby usw.) erklart und zeigt, dass Babys im Hinblick auf Gesundheit, Glücksgefühl, Intelli- genz, Unabhangigkeit, Eigenstandigkeit, Mut und Bereitschaft zur Zusammenarbeit dann am besten aufwachsen, wenn sie in ein »Kon- tinuum« menschlich-biologischer Erfahrung hineingeboren und darin erzogen werden - also wenn sie von »primitiven« Müttern geboren und aufgezogen werden, wie dies vermutlich im Verlauf der vielen Millionen Jahre menschlicher Existenz geschah. Wahrend des ersten Lebensjahres etwa, bis sie die Krabbel- und Forschungsphase errei- chen, haben es Babys immer schon genossen und gebraucht, stan- dig in physischem Kontakt zu ihren Müttern (oder einer anderen ver- trauten Person) zu stehen, und sich durch diesen Kontakt gut zu ent- wickeln. Bis auf die letzten tausend Jahre sind Babys immer so aufge- wachsen. Und jedes Neugeborene, das nichts von Geschichte weiß, aber alles Uber seine eigene animalische Natur, erwartet, wünscht und braucht diesen Kontakt, und es leidet schrecklich darunter, wenn es ihn nicht bekommt. 118 Hier nur einer von vielen außerordentlich lebhaften und einfühl- samen Abschnitten, in denen Liedloff die erste Zeit eines Babys im Kreis der Yequana-Indianer im Amazonasbecken beschreibt, bei denen sie einige Zeit lebte: Von Geburt an werden Kontinuum-Babys überallhin mitgenommen. Bevor noch die Nabelschnur abfällt, ist das Leben des Babys schon voller Aktion. Meist schläft das Baby, aber auch während es schläft, gewöhnt es sich an die Stimmen seines Volkes, den Klang ihrer Aktivitäten, die Stöße, ruck- artigen Bewegungen und das plötzliche Anhalten, was alles ohne Vorwar- nung geschieht. Es gewöhnt sich daran, an verschiedenen Stellen seines Körpers gehoben und gedrückt zu werden, wenn seine Trägerin es hin und her schiebt, um besser arbeiten zu können oder eine angenehmere Posi- tion zu erzielen. Und es gewöhnt sich an den Rhythmus von Tag und Nacht, die verschiedenartigen Gewebe und Temperaturen auf seiner Haut und das sichere und richtige Gefühl, dicht an einen lebendigen Körper gehal- ten zu werden. Das Ergebnis dieser Behandlung ist keineswegs ein ängstliches, klammerndes, weinerliches und unselbstständiges Kleinkind, wie die meisten modernen Menschen vermutlich erwarten, sondern das genaue Gegenteil. Liedloff schreibt: Wenn all der Schutz und die Anreize, die das Baby auf dem Arm erfährt, in vollem Umfang genossen wurden, kann das Baby vorwärts schauen, nach außen, in die Welt jenseits der Mutter ... Das Bedürfnis nach stän- digem Kontakt lässt rasch nach, sobald seine Erfahrungsquote erfüllt ist. Und ein Baby, ein Kleinkind oder ein Kind wird nur dann eine weitere Stär- kung benötigen, wenn es in Stress-Situationen gerät, mit denen es mit sei- nen gegenwärtigen Kräften nicht fertig wird. Derartige Augenblicke wer- den immer seltener, und die Eigenständigkeit wächst mit solchem Tempo, solcher Tiefe und Intensität, dass jeder in ungläubiges Erstaunen versetzt wird, der nur zivilisierte Kinder kennt, denen diese ständige Körperkontakt- ; erfahrung fehlt. Wie Liedloff zeigt, bemerken Kinder, die so aufgezogen werden, sehr rasch, was die Menschen um sie herum tun, und wollen sich ihnen anschließen und an ihren Aktivitäten teilnehmen, so schnell und so weit es ihre Kräfte gestatten. Niemand muss etwas tun, um die Kin- der zu »sozialisieren« oder sie dazu zu bewegen, am Leben der Gruppe teilzunehmen. Sie sind als soziales Wesen geboren, das ist 119 ihre Natur. So zählt es auch zu den eigentümlichsten und schädlichs- ten Ansichten, welche die »zivilisierten« Menschen je hervorgebracht haben, dass Kinder als schlechte Kinder geboren werden und durch Drohung und Strafe dazu bewegt werden müssen, das zu tun, was all die Menschen in ihrer Umgebung tun. Keine Kontinuum-Kultur geht davon aus, dass Kinder von Natur aus schlecht sind, sich daneben benehmen, Schwierigkeiten machen, Hilfe verweigern, Dinge zer- stören oder anderen Schmerzen zufügen. In Kulturen mit einer solch langen Tradition sind diese (uns) vertrauten Formen kindlichen Ver- haltens praktisch unbekannt. Vor einigen Jahren untersuchte in China eine Gruppe amerika- nischer Erziehungswissenschaftler das Erziehung- und Schulwesen sowie das Verhalten chinesischer Kinder. Interessiert befragten sie ihre dortigen Kollegen, was sie denn täten, wenn ihre Kinder einen Wutanfall bekämen, einander schlügen, ärgerten, Dinge zerstörten, andere verletzten usw. Die Chinesen reagierten völlig verständnis- los. Die Amerikaner hätten ebenso gut fragen können: »Was tut ihr, wenn eure Kinder hundert Meter hoch springen?« Den Chinesen blieb nichts übrig, als immer wieder zu wiederholen: »Die Kinder tun so etwas nicht.« Schließlich zogen die amerikanischen Besucher ebenso verständnislos ab. Ihnen kam nie der Gedanke, dass chinesische Kinder wohl deshalb nicht so schlimm sind wie offensichtlich viele unserer Kinder, weil niemand es von ihnen erwartet. Weil sie klein, unwissend, unerfahren und voller Gefühle sind, verlassen sie wohl hin und wieder den Weg guten Benehmens, aber um sie wieder auf diesen zurückzubringen, genügt es, geduldig darauf hinzuweisen, dass sie vom Weg abgekommen sind, und dies tun wir hier nicht. Niemand in China geht davon aus, dass sie vorsätzlich etwas falsch machen wollen, und dass diese Absicht nur nach einem langen, har- ten Kampf gebrochen werden kann, um sie mit Zwang dazu zu brin- gen, das Richtige zu tun. Die Problemkinder unserer wohlhabenden westlichen Welt sind eben ein Produkt unserer Kultur, so wie unsere Autos. Was wir Psy- chologie nennen - unser angebliches Wissen über das »menschliche Wesen« - ist und kann lediglich das Studium der seltsamen Verhal- tensweisen ernstlich sozial benachteiligter Menschen sein, die sich so weit von den Maßstäben humanbiologischer Langzeiterfahrung entfernt haben, dass man diese Menschen (also uns) ohne Über- treibung als entstellt bezeichnen kann. Liedloffs Beschreibung der 120 »MoOdernen«, »medizinischen« und »wissenschaftlichen« Geburt und der Zeit danach, wie ein Baby sie erleben muss, können einem die Tränen in die Augen treiben, Albträume verursachen oder beides. Es ist ein Wunder, dass es uns nach diesen Erfahrungen nicht noch schlechter geht. Ich wünschte, Frau Liedloff hätte zu Beginn ihres Buches das gesagt, was sie am Ende sagt: dass einige und sogar viele der schäd- lichsten Auswirkungen dieses schweren frühzeitigen Entzuges (an Nähe und Kontakt) größtenteils ausgeglichen oder geheilt werden können, wenn diese Bedürfnisse eines menschliches Wesens im späteren Leben reichlich erfüllt werden, und zwar auf die von ihr vor- geschlagene Art und Weise. Dies ist besonders wichtig, weil viele ein- fühlsame, liebevolle Mütter und Väter, die ihre Kinder auf die moderne, zivilisierte Weise geboren und aufgezogen haben, nach der Lektüre dieses Buches erkennen, was sie ihren Kindern unwissent- lich vorenthalten haben, und möglicherweise von Schuld und Trauer ubermannt werden. Mit viel Güte, Zärtlichkeit, Geduld und Wohlwol- len können wir viele dieser frühen Versäumnisse wiedergutmachen. Ich kann gar nicht mit Worten ausdrücken, für wie wichtig ich dieses Buch halte. Während des Großteils der vergangenen fünf- undzwanzig Jahre war es mir immer deutlicher bewusst geworden, dass unsere weltweite wissenschaftliche und industrialisierte Zivili- sation, trotz all ihres offensichtlichen Reichtums und ihrer Macht, jeden Tag der vollständigen Vernichtung näher rückt. Was läuft schief? Was können wir tun? Viele Menschen haben nützliche Ant- worten aufgezeigt. Aber erst in den letzten beiden Jahren ist mir klar geworden, dass eine der Hauptursachen unserer Probleme darin besteht, wie wir unsere Kinder - und vor allem unsere Babys - behandeln. Ebenso bin ich davon überzeugt, dass kein Programm für einen sozialen und politischen Wandel auch nur die geringste Chance auf Erfolg hat, solange wir nicht beginnen, die Art und Weise zu verändern, wie wir unsere Kinder gebären und aufziehen. Ich hoffe, dass viele das Buch Auf der Suche nach dem verlore- nen Glück lesen werden, vor allem Mütter und Väter von kleinen Kin- dern und Babys, werdende und künftige Eltern, Teenager, Babysitter, ältere Geschwister von Babys, aber ebenso Ärzte, Krankenschwe- stern, Psychologen usw. Kurz gesagt jeder, der mit Babys oder Klein- kindern Kontakt hat, haben könnte oder mit ihnen sonst wie zu tun hat. Immerhin verändert sich die Menschheit mit jeder neuen Gene- 121 ration, und eine oder zwei Generationen gesunder glücklicher Babys könnten schon das Ruder unserer Welt herumreißen. FREUNDLICH GEBOREN Aus einem Brief einer alten Freundin und Grundschullehrerin: Ich habe es so sehr genossen, deine Kindergartengruppe zu besuchen. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich je so rasch und so eng Freundschaft mit einem Kind geschlossen habe wie mit Molly. Unser Gespräch war sehr ernst, wie man es eigentlich nur von einem wesentlich älteren Kind erwar- ten würde. Vor allem berührte es mich, wie sehr sie sich um mich küm- merte. Ich habe es dir nicht erzählt, aber einmal habe ich mich neben einen Tisch gekauert, an dem einige Kinder arbeiteten. Als ich nach lan- ger Zeit aufstand, war ich ein wenig steif, so wie immer, und brauchte ein paar Sekunden, um meine Knie und meinen Rücken zu strecken. Molly und einige der anderen Kinder fragten mich, was ich tue, und ich erklärte, dass Menschen meines Alters oft ein wenig steif werden, wenn sie sich lange hinhocken. Mehr als eine Stunde später, als ich wieder neben ein paar Kindern in die Hocke ging, sagte Molly zu mir: »Aber bleib nicht zu lange in der Hocke.« Überrascht fragte ich: »Warum nicht?« »Weil du sonst steif wirst.« Ich hatte den Vorfall von vorhin schon völlig vergessen. Wie ich dir schon erzählte, war sie auch sehr besorgt, als sie die Verletzung auf meinem Kopf sah, wo ich mich etwa eine Woche zuvor in Maine gestoßen hatte. Sie wollte sofort wissen, wie das passiert sei und ob es schmerze. Das ist wesentlich mehr Mitgefühl, als ich von einer so kleinen Person erwartet hätte. J Alle Bücher von John Holt enthalten Ideen und Ratschläge für Erwachsene in Hinblick auf das Zusammenleben und Lernen mit Kin- dern. Oftmals sind diese Ratschläge jedoch sehr subtil und unkonventio- nell verpackt. Zum Beispiel ist es nicht dasselbe, ob Holt aus seiner Beob- achtung heraus sagt, dass Kinder »freundlich geboren« werden, oder ob sie ohne Notwendigkeit einer moralischen Erziehung geboren werden, weil sie von Natur aus gut sind. In unserem Büro hörte ich oft, wie John ärger- lich über Leute sprach, die seiner Meinung nach ins Gefängnis gehörten, weil sie einfach »böse Katzen« seien (wie John derartige Personen bezeich- nete), und über Kinder, die auf ziemlich hässliche Weise vorsätzlich böse seien. Er betrachtete nicht alle Menschen als von Natur aus gut, aber auch 122 nicht als von Natur aus bose. Er wollte nur, dass wir erkennen, dass es in Kindern die Neigung zu Freundlichkeit gibt, auf die sie reagieren, und dass es für uns alle leichter sein kann, mit Kindern zu leben und zu ler- nen, wenn wir mit dieser Neigung arbeiteten, anstatt sie zu ignorieren, zu ersticken oder zu verdrehen. Die Chance, dass gutes Benehmen, ein guter Charakter und gute Moralvorstellungen in einer freundlichen Atmosphäre Wurzeln schlagen, sind wesentlich größer, als wenn wir von unseren Kin- dern das Schlimmste annehmen und Freundlichkeit nur als Belohnung fiir gutes Benehmen einsetzen, anstatt als Grundlage unserer Beziehung. [Anm. d. dt. Hrsg.: Die aktuelle nordamerikanische Bindungsforschung besonders von Gordon Neufeld, Autor von »Unsere Kinder brauchen uns!«, hat gezeigt, dass wesentliche Instinktbedürfnisse unserer Kinder nach Bindung im heutigen Lebensalltag unberücksichtigt bleiben.]®® WENN MAN »NEIN« SAGT Da nur wenige Menschen ihre Kinder nach der Kontinuum-Methode aufziehen, fällt den meisten von uns die Aufgabe zu, sie zu lehren, nach unseren Regeln zu leben. Wir neigen dazu, uns diese Aufgabe wesentlich schwerer zu machen als nötig, vor allem durch die Art und Weise, wie wir das Wort »Nein« verwenden. Vor nicht allzu langer Zeit besuchte ich einen Freund, der einen schönen, lebhaften, anhänglichen einjährigen Husky besaß. Er hatte nur einen Fehler. Er genoss es, gestreichelt zu werden. Doch wenn man damit aufhörte, kam er immer wieder und legte einem so lange | seine Pfote aufs Bein, bis man irgendetwas tat. Das verschmutzte die Kleidung, zerkratzte die Haut und verursachte Schmerzen. Sein Besitzer hatte gelegentlich versucht, ihm dieses Verhalten abzuge- wöhnen, indem er mit dem Hund schimpfte, ihn wegstieß oder ähn- liches - ohne Erfolg. Außerdem war er zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, um dieser Aufgabe regelmäßig Zeit zu widmen. Als ich einmal meinen Freund für mehrere Tage besuchte, versuchte ich, den Hund von dieser Angewohnheit zu befreien. Jedes Mal, wenn er zu mir kam, streichelte ich ihn eine Weile, hörte dann auf und wartete, wobei ich meine Hand so positionierte, dass ich seine Pfote blockierte, sobald er sie hob. Wenn er sie hob, fing ich sie wenige Zentimeter über dem Boden ab und setzte sie wieder sanft auf den Boden, wobei ich gleichzeitig freundlich sagte: 123 »Nein, nein, lass die Pfote auf dem Boden.« Dann streichelte ich ihn, sagte ihm, dass er ein guter Hund sei, und hörte nach einer Weile auf. Sofort hob er erneut die Pfote. Wieder fing ich sie auf und wiederholte den Vorgang. Manchmal tat ich das mit ihm im Sitzen und manchmal im Stehen. Nach einigen wenigen Wiederholungen ging ich etwas weg von ihm. Wenn er dann wieder auf mich zukam, sagte ich in freundlicher, aber warnender Stimme: »Die Pfoten blei- ben auf dem Boden.« Meine Hand war bereit, die Pfote abzufangen, sobald er sie hob, was anfangs ständig geschah. Nach kurzer Zeit begriff er den Plan, und oft genügte der Ton meiner Stimme, der Klang meiner Worte oder vielleicht auch die Haltung meines Kor- pers und meiner Hand, um ihn daran zu erinnern, dass die Pfote auf dem Boden bleiben soll. Ich war nur einige Tage dort und kann nicht behaupten, ihn vollständig von dieser Angewohnheit befreit zu haben. Aber er verhielt sich schon deutlich besser, und üblicher- weise genügte es, ihn einmal zu warnen und die Pfote abzufangen, um ihn zu erinnern. | Wichtig hierbei ist, dass selbst ein junger Hund so lernfahig ist, um zu verstehen, dass »Nein« mehr ist als bloß ein Signal oder ein wutendes Gerausch. Es kann ein Wort sein, das eine Idee vermittelt. Es muss nicht heißen: »Du bist ein böser Hund, und wir werden die Bosheit schon aus dir herausprugeln.« Es kann auch heißen: »Du bist ein guter Hund, aber das, was du tust, ist nicht das, was wir ubli- cherweise hier tun. Also tu es bitte nicht wieder.« Selbst ein junger Hund kann das verstehen und danach handeln. Und wenn ein Hund dies versteht, warum nicht auch ein Kind? „Abgesehen von seltenen Ausnahmen wie Augenblicken von großem Stress oder von Gefahr gibt es keinen Grund, warum wir Kindern nicht ebenso freundlich »Nein« sagen können wie »Ja«. Beides sind Worte. Beide vermitteln einen Gedanken, den selbst kleine Kinder begreifen können. Das eine Wort bedeutet: »Wir tun dies nicht so«, und das andere: »So tun wir es.« Meist wollen Kinder nichts ande- res, als genau das herausfinden. Ausgenommen sie sind müde oder in einem außerordentlichen Erregungszustand, so wollen sie die Dinge richtig machen so wie wir, wollen dazugehören und teil- nehmen. Kurz danach besuchte ich ein anderes Freundespaar und ihren reizenden fünfzehn Monate alten Jungen. Etwa um die Zeit des Abendessens holte ich in der kleinen Essküche mein Cello heraus 124 und begann zu spielen. Das Baby war so begeistert, wie ich gehofft hatte. Der Junge hörte sofort mit dem auf, was er gerade tat, und kroch geschwind über den Boden auf das Cello zu. Als seine Eltern ein wenig nervös blickten, sagte ich: »Keine Sorge, ich werde das Cello schon verteidigen. Ich lasse nicht zu, dass ihm etwas ge- schieht.« Sobald der Junge das Instrument erreicht hatte, zog er sich daran hoch und begann, die Saiten unterhalb des Stegs zu zupfen. Während ich den Bogen (den er möglicherweise hätte beschädigen können) außer Reichweite hielt, zupfte ich an den Saiten oberhalb des Steges, wodurch hübsche Klänge entstanden. Dann sah ich, dass ihn eine Welle der Aufregung überkam und er auf das Cello schlagen wollte, wie es kleine Kinder gerne tun. Sobald seine Hände zu dieser impulsiven Geste ansetzten, fing ich sie auf wie die Pfote des jungen Hundes, stoppte sie vorsichtig und sagte freundlich: »Sanft, ganz sanft, sei lieb zu dem Cello.« Sobald seine Bewegungen kleiner und ruhiger wurden, nahm ich meine Hände weg. Daraufhin streichelte er eine Weile das Holz und zupfte an den Saiten. Als er wieder aufgeregt wurde, fing ich die Hände wieder auf, beruhigte sie und sagte dasselbe wie zuvor. Nach einer Weile krabbelte er davon und ich plauderte wieder mit seinen Eltern. Als ich erneut spielte, krabbelte er wieder herbei, um das Cello nochmals zu begutachten und zu berühren. Möglicherweise musste ich noch ein oder zwei Mal sagen »sanft, ganz sanft«, aber nicht mehr. Meist ging dieser kleine Junge mit dem Cello so sanft und vorsichtig um wie ich. Und all dies hatte er an einem einzigen Abend gelernt, an dem er zum ersten Mal ein so seltsames, faszinierendes Ding gesehen hatte. Louise Andrieshyn, eine Mutter aus Manitoba, sagt dazu: Sie haben es ausgezeichnet auf den Punkt gebracht, welcher Unterschied zwischen einem »Nein« als wütendem Signal und einem »Nein« als bedeu- tungsvollem Wort besteht ... Allerdings gibt es noch ein drittes »Nein«, das vermutlich sogar am häufigsten verwendet wird und weder eine wütende Explosion noch ein bedeutungsvolles Wort ist - nämlich das »Nein-nein- nein«, das manche Eltern den ganzen Tag über sagen. Diese konstante Rüge ist nichts als ein ewiges, wirkungsloses Wortgeplänkel. Die Eltern meinen es nicht einmal ernst; in ihren Stimmen liegt weder Wut noch Tadel ... In unserer Kultur erwarten wir, dass Kinder böse sind und ständig in Schwierigkeiten geraten, und dass Eltern die Rolle des Diktators über- nehmen müssen, um ihre Kinder zu kontrollieren (sie sagen »zu ihrem Schutz«). 125 Diese drei Formen von »Nein« zu beherrschen ist jedoch wesentlich schwie- riger, als es bei Ihnen klingt. Sie sagen, wenn wir uns bewusst werden, wie wir das »Nein« anwenden, können wir auch unsere Anwendung ändern ... Als Eltern können wir einfach einmal die Klappe halten! Würden wir uns einmal zuhören, würde uns auffallen, wie viele negative Drangsa- lierungen wir unseren Kindern an den Kopf werfen. Würden sich Eltern einmal - quasi mit den Ohren ihrer Kinder - hören, wären sie vermutlich entsetzt und um Änderung bemüht. Ich denke in diesem Fall an Lisey (zu diesem Zeitpunkt 3 Jahre alt), als sie sich gestern selbst ein Glas Milch eingoss. Sie hatte die Milch aus dem Kühlschrank geholt, geöffnet und aus dem 2-Liter- Karton Milch in ein kleines Saftglas gegossen. Dann hatte sie die Milch getrunken und mit einem Küchentuch die auf dem Tisch ver- gossene Milch aufgewischt. Da das Küchentuch schon vollgesogen war, tropfte etwas Milch auf den Boden. Genau in diesem Augenblick betrat ich den Raum und begann mit dem üblichen »Nein, nein« in anklagendem Ton: »Ach nein, Lisey, du hättest jemanden bitten sollen, für dich die Milch einzugießen - nein, nicht weiter wischen, die Milch läuft auf den Boden, hör auf damit und lass mich es machen. Es ist schon schlimm genug auf dem Tisch - sieh nur, Jetzt ist sie auch auf dem Boden - du machst mir nur noch mehr Arbeit.« Glücklicherweise traf mich in diesem Augenblick eine seltene vernünftige Erleuchtung, und ich sagte zu mir: »HOr auf damit, sei kein Ekel. Lisey hat sich eben zum ersten Mal selbst ein Glas Milch eingegossen, und du ruinierst ihr diesen Erfolg.« Und nun sah ich ein sehr kleines Mädchen, das sich mit aller Kraft bemühte, groß zu werden - und das selbst versuchte, das Miss- geschick zu beheben, das ihm bei dem Versuch passiert war, sich eigenhändig ein Glas Milch einzuschenken. Und ich sagte: »Lisey, ich glaube Sparkle (der Hund) hätte diese verschüttete Milch sehr gerne.« Lisey hielt inne und sah mich an. Endlich hatte ich etwas gesagt, dass einen Sinn ergab. Bis zu diesem Augenblick hatte sie versucht, alle negativen Bemerkungen einfach zu ignorieren. »Wenn du Sparkles Schüssel holst, können wir die Milch hinein geben«, sagte ich. 126 Sie holte die Schüssel und wir taten, was wir besprochen hatten. Und augenblicklich begann sie fröhlich zu plaudern, dass Sparkle die Milch schmecken werde, und wie sie für sich und den Hund Milch eingegossen habe usw. Bis dahin hatte sie kaum ein Wort verloren. Hätte ich weiter geschimpft - »In Ordnung, Lisey, geh jetzt aus der | Küche, während ich das Malheur beseitige« - hatte sie vermutlich zu weinen begonnen (uber verschuttete Milch!). Allerdings erforderte das Happyend in diesem Fall nicht viel Muhe meinerseits, weil ich kaum emotionell beteiligt war. Mein Geist beurteilte die Situation noch soweit objektiv, dass ich imstande war, sie zu kontrollieren und zu verandern. WENN KINDER ERWACHSENE AUSTESTEN In seinem überaus guten Buch Growing With Your Children sagt Her- bert Kohl - wie fast alle, die uber Kinder schreiben - dass Kinder standig die Erwachsenen austesten mussen, um ihre Grenzen zu fin- den. Mit dieser Aussage bin ich ganz und gar nicht einverstanden. Dass sie es ständig tun, steht außer Frage. Aber ich glaube nicht, dass sie es tun mussen oder es vorrangig aus diesem Grund tun. Außerdem bin ich nicht der Ansicht, dass wir es ihnen gestatten soll- ten. Wenn sie die Regeln des Familienlebens und der menschlichen Gesellschaft herausfinden wollen, was offensichtlich der Fall ist, dann gibt es dafur bessere Mittel und Wege. Als ich einmal eine funfte Schulstufe unterrichtete, hatte ich einen Jungen in meiner Klasse, der schon von mehreren offentli- chen Schulen geflogen war - eine beachtliche Leistung. Er sah ganz gewöhnlich aus, war mittelgrofd, stammte aus einer weißen Mittel- klassefamilie, bedrohte niemanden mit dem Messer und stieß auch keine Banke um - nichts, was man aus dem Schuldschungel kannte. Ich brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, warum ihm meh- rere öffentliche Schulen die Tur gewiesen hatten. Er war ein Agitator, der immer anstachelnd wirkte. Eines Tages, als alle Schuler ver- suchten, etwas zu tun - was es war, habe ich vergessen -, bemühte er sich, sie davon abzuhalten und etwas anderes zu tun. In meiner Verzweiflung wandte ich mich ihm zu und brüllte: »Willst du, dass ich auf dich wütend werde?« Zu meiner großen Überraschung und offen- bar auch zu seiner (wie an seiner Stimme zu erkennen war) sagte 127 er: »Ja.« Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen oder zumindest zu erahnen, dass er aus Erfahrung gelernt hatte, dass dies die einzige Art und Weise war, wie er sich die ungeteilte Aufmerksamkeit ande- rer Erwachsener oder Kinder verschaffen konnte - indem er sie wütend auf sich machte. Im Verlauf des Jahres besserte er sich diesbezüglich, war aber noch längst nicht mit sich im Reinen. Sein Problem lag tiefer, als dass ich - oder meine Klasse - es in einem Jahr hätte lösen können. Da unsere Schule nur bis zur sechsten Schulstufe ging, weiß ich nicht, was später aus ihm geworden ist. Immerhin hatte er mich etwas Wertvolles gelehrt. Etwa zur selben Zeit lernte ich das interessante, aber oft wütende und schwierige Kind von Freunden kennen. Als ich eines Tages in ihrem Haus war, um mit der Mutter des Jungen etwas sehr Wichtiges zu besprechen, unterbrach er uns noch häufiger als sonst. Damals wusste ich bereits, dass Kinder es hassen, von Gesprächen zwischen Erwachsenen ausgeschlossen zu werden. Deshalb versuchte ich von Zeit zu Zeit, dem Jungen die Gelegenheit zu geben, auch etwas zu sagen. An diesem Tag war es Jedoch klar, dass er versuchte, unser Gespräch vollständig zu unterbinden. Schließlich sah ich ihn direkt an und fragte ihn - nicht wütend, sondern nur neugierig: »Versuchst du, mich wütend zu machen?« Ebenso verblüfft wie der andere Junge durch die Ehrlichkeit der Frage, die er sich vermutlich noch nie wirk- lich gestellt hatte, lächelte er verlegen und sagte: »Ja.« Ich antwor- tete immer noch freundlich: »Nun, das ist in Ordnung. Weißt du was, dann sollten wir es tun. Lass uns ein Spiel spielen. Du tust alles, was dir einfällt, um mich zu ärgern, und ich tue alles, was mir einfällt, um dich zu ärgern, und dann sehen wir, wer gewinnt. Okay?« Er sah mich eine Weile an - immerhin kannte er mich damals schon gut genug um zu wissen, dass ich dieses »Spiel« ernst nehmen würde. Einige Zeit lang überlegte er, wie es wohl laufen würde. Ein Blick zu seiner Mutter zeigte ihm, dass er zumindest diesmal keine Hilfe von ihr zu erwarten hatte, falls sich das Spiel gegen ihn wenden würde. Schliefß- lich meinte er: »Nein, ich will dieses Spiel nicht spielen.« »In Ordnung«, antwortete ich. »Dann lass uns unser Gespräch führen, und du und ich können später miteinander reden.« Was auch geschah. Das war vor vielen Jahren. Durch die zahlreichen Zusammen- treffen mit unterschiedlichen Kindern bin ich zu der festen Überzeu- gung gelangt, dass Kinder bereits im Alter von fünf Jahren oder früher 128 das Konzept des »Austestens« gut verstehen - d.h., dass sie jeman- dem etwas tun oder vor jemandem etwas tun, wovon sie wissen, dass es dieser Person nicht gefällt, nur um herauszufinden, was diese Person tun wird -, und um zu begreifen, dass dies nicht gut ist. Wenn ich das Gefühl hatte, dass ein Kind dies mit mir machte, sagte ich: »Versuchst du, mich zu testen, nur um zu sehen, was ich tun werde?« Wenn das Kind dann mit »ja« antwortete, sagte ich: »Nun, das gefällt mir nicht. Es ist auch nicht nett, und ich will nicht, dass du es tust. Ich tue dir nichts Böses an, nur um zu sehen, was du tun wirst. Dann ist es auch nicht fair, dass du mir etwas antust.« Ich glaube, dass Kinder imstande sind, diese Gedanken zu ver- stehen, zu erkennen, dass sie fair sind, und danach zu handeln. Sobald sie dies tun, wird unser Zusammenleben um vieles einfacher. »OKAY?« Wenn Erwachsene wollen, dass Kinder etwas tun - sei es den Man- tel anzuziehen, Mittagsschlaf zu halten usw. - sagen sie oft: »Zieht doch eure Mäntel an, okay?« oder »Es ist Zeit für den Mittagsschlaf, okay?« Dieses »Okay?« ist eine schlimme Angewohnheit. Unser Zusammenleben mit Kindern würde sich verbessern, wenn wir darauf verzichteten. Denn dieses »Okay?« vermittelt Kindern den Eindruck, als hät- ten sie eine Wahl, während sie in Wirklichkeit keine haben. Unab- hängig von der Frage, wie viele Wahlmöglichkeiten man einem Kind geben sollte, sollten Kinder zumindest wissen, wann sie die Wahl haben und wann nicht. Wenn wir häufig nur dem Anschein nach eine Wahlmöglichkeit anbieten, könnten Kinder bald das Gefühl bekom- men, nie eine Wahl zu haben. Sie werden sich darüber ärgern und dies umso mehr, wenn wir nicht klar sagen, was wir meinen. Wenn wir ihnen eine Anweisung geben und danach ein »Okay?« setzen, laden wir sie bloß zu Widerstand und Rebellion ein. Immerhin hat das Kind keine andere Chance herauszufinden, ob wir ihm tatsäch- lich eine Wahlmöglichkeit bieten, als das Gewünschte abzulehnen. Das ist seine Art zu fragen: »Meinst du das wirklich?« Viele Erwachsene versuchen, mit diesem »Okay?« falsch ver- standene Höflichkeit zu vermitteln. Wir können sehr wohl sicher auf- zutreten und gleichzeitig höflich sein, während wir einem anderen 129 Menschen zu verstehen geben, dass er jetzt keine Wahlmöglichkeit hat. Wenn ich Freunde besuche, gehe ich davon aus, dass ich mich ihren Lebensgewohnheiten anpasse, und zähle darauf, dass sie mir _ sagen, wie diese aussehen. Dann sagen sie etwa: »Um sieben Uhr gibt’s bei uns Frühstück und um halb sieben Abendessen«, oder »Heute Nachmittag fahren wir dorthin, um dies und jenes zu tun.« Sie fragen mich nicht, ob ich mit diesen Plänen einverstanden bin, sondern teilen mir mit, dass dies ihre Pläne sind. Gleichzeitig ver- halten sie sich mir gegenüber zweifellos höflich. Einige meiner Freunde haben die Regel aufgestellt, dass in ihrem Haus nicht geraucht wird. Das meinen sie ernst. Direkt am Eingang hängt ein Schild mit der Aufschrift: »Danke, dass Sie nicht rauchen.« Hin und wieder übersieht ein Gast dieses Schild oder wertet es ledig- lich als Bitte und nicht als Gebot und zündet sich eine Zigarette an. In diesem Fall informieren meine Freunde jenen Gast, dass er gerne auf der Veranda rauchen dürfe, aber nicht im Haus. Keine Diskus- sion, niemand ist beleidigt. Nur wenige Erwachsene sind anscheinend imstande, auf diese Weise mit Kindern zu reden. In Parks, in Flughäfen und an all den Orten, wo Erwachsene und Kinder beisammen sind, höre ich hun- derte von Menschen, die ihren Kindern auftragen, etwas zu tun. Die meisten beginnen bei diesem »Okay?« zu bitten oder zu schmei- cheln. Wenn dies nicht funktioniert, ändert sich der Tonfall und es wird gedroht. Offenbar können sie keine feste Aussage machen, ohne zunächst wütend zu werden. Das Kind ist daraufhin verwirrt und aufgebracht, weil es nicht begreift, warum die Erwachsenen ver- ärgert sind, oder womit es diese Schreie und Drohungen verdient hat. Weigert sich Ihr Kind tatsächlich, Ihren Anweisungen zu folgen, könnten Sie sagen: »Ich weiß, dass dir nicht gefällt, was ich dir sage, und das tut mir leid für dich, und es tut mir auch leid, dass du wütend bist, aber ich meine genau das, was ich dir gesagt habe.« Mögli- cherweise löst dies nicht alle Probleme, und möglicherweise ist das Kind auch weiterhin wütend. Aber zumindest ist damit klargestellt, wie die Dinge stehen. Und selbstverständlich sollen wir in solchen Fällen nicht wütend auf das Kind werden, nur weil es wütend auf uns ist. Selbst wenn wir das Recht hätten (und die Macht), von Kindern zu fordern, dass sie gehorchen, dürfen wir nicht von ihnen verlangen vorzugeben, es gefalle ihnen. 130 John war sich dieses fragwürdigen Wortes immer und überall bewusst. Während der letzten beiden Jahre seines Lebens besuchte er viele Krankenhäuser und Ärzte, um von seinem Krebsleiden befreit zu werden oder Linderung zu erfahren. Mehr als einmal saß ich an seinem Krankenbett, während eine Krankenschwester hereinkam und meinte: »Wir bringen Sie jetzt hinaus, okay?« oder »Es ist jetzt Zeit für Ihre Medizin, okay?« Mitunter schüttelte er dann bloß den Kopf und sah zu mir herüber, manchmal hob er aber auch frustriert die Augen zur Decke, und mitunter sagte er einfach: »Ich hasse es, wenn sie »okay« sagen!«66 WUTANFÄLLE Bei Wutanfällen eines Zweijährigen machen wir uns selten klar, dass diese gegen etwas gerichtet sind. Wir haben den Eindruck, dass die- ses Kleinkind von einer Welle irrationaler »Aggression« und Wut gleich einem Hurrikan hinweggeschwemmt wird. Ich hingegen beharre darauf, dass ein großer Teil der anscheinend irrationalen, exzessiven Wut kleiner Kinder - die sogenannten »Wutanfälle« - tatsächlich durch konkrete Dinge hervorgerufen werden, die ihnen widerfahren und uns ebenso wütend machen würden. Selbst in den freundlichs- ten und liebevollsten Familien werden Zweijährige hundert Mal am Tag durch Worte und Taten ihrer Eltern oder von der Natur selbst daran erinnert, dass sie klein, schwach, unbeholfen, töricht, unwis- send, nicht vertrauenswürdig, lästig, zerstörerisch, schmutzig, stinkig und sogar ekelerregend sind. Und das gefällt ihnen nicht! Mir würde es ebenso wenig gefallen. Und Ihnen? Zu diesem Thema schrieb die Mutter von J., jenem kleinen Jungen, der mit meinem Cello spielte. Sie erzählte von seinen Wutanfällen und wie sie beide lernten, diese zu vermeiden. : J. ist großartig. Seit er keinen Mittagsschlaf mehr halt, steht er den ganzen Tag Uber unter Hochspannung, bis er etwa um 19.30 Uhr todmude umfalit. Er hat jetzt sein eigenes Zimmer, wo er nahezu jeden Tag ein bis eineinhalb Stunden allein verbringt und meistens mit seinen Trucks umherfahrt. Ich habe noch nie ein Kind gesehen, dass seine Welt besser organisiert hatte. Er spielt mit Dominosteinen und bezeichnet sie entweder als Lehmziegel fur den Bau von Häusern, oder als Heuballen, stapelt sie aufeinander, reiht sie aneinander oder ordnet sie in anderer Weise penibel aneinander. 131 Dasselbe tut er mit den Trucks. Wenn man ihn schließlich von seinen Trucks losreißt und zum Essen trägt, schreit und brüllt er, wie es deiner Theorie über das Verhalten von Zweijährigen entspricht. Gewährt man ihm jedoch ein paar Minuten, um alle Trucks in einer geraden Linie zu parken, kommt er bereitwillig mit. Deine Theorie (Kinder wie Erwachsene zu behan- deln) funktioniert ein um das andere Mal. Wenn man an ihm vorübereilt und ihn im Schnee zurücklässt, um noch schnell die Ziegen zu füttern, erlebt man einen Wutanfall, bei dem er vom vielen Schreien blau anläuft. Behandelt man ihn wie einen Erwachsenen, läuft alle wie geschmiert. Pro- bleme gibt es nur, wenn wir gelegentlich unsere Größen- und Kraftüberle- genheit ausspielen. Hierbei gilt es, Situationen zu vermeiden, die ein der- artiges Eingreifen notwendig machen, also erst gar nicht in Eile zu geraten oder dafür zu sorgen, dass Kinder ins Bett gehen, bevor sie vollständig zusammenbrechen. Richtig wütend wird er, wenn man ihn zurücklässt. Dennoch sind wir vor kurzem verreist ... Ich war sehr nervös, als wir ihn bei Freunden unter- brachten, denn die gesamte Woche über hatte er mit Wutanfällen reagiert, bei denen er bewusstlos zu Boden gestürzt ist, sobald wir ohne ihn in die Stadt fuhren (und dies, obwohl der jeweils andere Elternteil bei ihm war). Diesmal winkte er uns zum Abschied nach, ging ins Haus und verbrachte vier fröhliche Tage. Wie sein Vater meinte, machte er sich nur bei uns die Mühe, einen Wutanfall zu bekommen. Als wir ihn wieder abholten, war er sehr ruhig, voll von neuen Spielen und Worten, und ich wusste, dass er durch die Trennung von uns und die Zeit mit anderen interessanten Men- schen auf ganzer Linie Fortschritte gemacht hatte. ... Einige Zeit später wollten wir eine längere Bootstour machen und brachten ihn deshalb zu Freunden. Als wir in letzter Minute entschieden, dass unsere Boote nicht tragfähig genug waren, um uns und unsere Aus- rüstung auf einer so rauen und weiten Fahrt zu transportieren, holten wir J. wieder ab, campierten gemeinsam mit ihm am Fluss und machten mit dem Boot kurze Touren auf jenen Abschnitten des Flusses, die in der Nähe der Straße lagen. Wieder verhielt er sich großartig und genoss es, in Gesell- schaft von Erwachsenen zu sein, die mit den Fingern aßen und ihre gesamte Mahlzeit in einer Tasse zusammenrührten, wie er es tat. Weil sein Vater wollte, dass er mit auf das Boot geht, zog er ihm eine Schwimm- weste an und band ihn mit einem Tau an sich. J. hasste das und hatte jede Menge Befürchtungen, als Wasser in das Boot schwappte, so dass er nass und durchgefroren war. Dennoch beklagte er sich nicht. Erstaunli- cherweise saß er bloß da und starrte etwa zwei Stunden lang genervt vor 132 sich hin. Ich glaube, er war so glücklich darüber, dabei zu sein, dass er all das Elend gerne ertrug. Susan Fitch wendet dieselbe einfühlsame und respektvolle Haltung bei dem oft schwierigen Thema des Schlafengehens an: Weil mein Mann und ich immer Wert darauf legten, auch Zeit für uns zu haben, war Jesses (4 Jahre alt) Schlafenszeit für uns sehr wichtig. Obwohl Jesse sehr kooperativ war, genoss er die begrenzte Zeit nicht, die er zwi- schen der Ankunft seines Vaters und seiner Schlafenszeit mit diesem ver- brachte. Das frustrierte uns alle und macht uns unglücklich. Als ich eines Abends GWS las, begriff ich, dass er sehr wohl imstande war, dann zu Bett zu gehen, wenn er müde war. Am nächsten Tag spra- chen wir darüber, wie er sich fühlte, wenn er müde war, wie viel Schlaf er brauchte, wann er zu Bett gehen sollte, um rechtzeitig zum Kindergarten aufzuwachen und dass auch wir Zeit brauchten, um miteinander zu plau- dern oder gemeinsam etwas Ruhe zu genießen. Die Spannung zwischen ihm und seinem Vater löste sich in Luft auf, und er übernahm augen- blicklich die Verantwortung dafür, sich selbst umzuziehen und die Zähne zu putzen. Weil wir ihm in diesem Punkt mehr Freiheit zugestanden haben, folgen nun unsere Zeiten allein und gemeinsam einem natürlichen Muster, das alle zufriedenzustellen scheint ... Ich muss an dieser Stelle einfach anmerken, dass ich auf der ganzen Welt von keiner anderen Kultur gehört habe, die soviel Aufhebens um das Schlafengehen der Kinder macht, und gleichzeitig keine andere Kultur kenne, in der so vielen Erwachsenen entweder das Einschlafen oder das Aufwachen schwer fällt. Könnten diese sozialen Faktoren zusammenhängen? Ich hege den starken Verdacht. KOCHEN IM ALTER VON ZWEI JAHREN Kinder sind um vieles fähiger, als wir glauben. Ich vermute, dass Kin- der am häufigsten verletzt werden, wenn sie etwas tun, das sie nicht tun sollen, wie etwa aus Trotz oder Aufregung, und seltener, wenn sie etwas Einfühlsames und Natürliches tun, das sie oft und gerne tun und richtig machen. Der Leiter eines großen Abenteuerspielplatzes in London erzählte mir einmal, dass sich die Kinder dann am häufigsten verletzten und 133 verhaltensauffällig wurden, wenn es den Eltern gestattet war, den Platz zu betreten. Sobald man die Eltern in einen Wartebereich ver- wies, nahm die Unfallhäufigkeit ab, und die Kinder verhielten sich wenig auffällig. Ich fragte Susan Price, eine Mutter aus Florida, wie Matt in so frühen Jahren gelernt hatte zu kochen. Sie antwortete: Der Gasherd hätte zu meiner ersten Auseinandersetzung mit Matt führen können. Als er lernte, die Brenner einzuschalten, sagte ich: »Nein, das ist gefährlich.« Die Wirkung war klar: Oh, das macht Spaß, ist interessant, das tue ich jetzt ständig. Ich schlug ihm leicht auf die Hand, schnappte ihn, wobei ich Tränen in den Augen hatte - ob er auch weinte, weiß ich nicht mehr, hielt ihn auf dem Sofa fest und überlegte, was jetzt zu tun sei. All- mählich begriff ich, dass es in keiner Weise gefährlich war, wenn er die Brenner einschaltete. Immerhin war ich immer bei ihm und konnte dafür sorgen, dass nichts auf dem Herd stand. Außerdem war er mit seiner Hand weit unterhalb der Flammen. Wovor hatte ich Angst? Selbstverständlich davor, dass die Leute davon erfuhren. So gestattete ich ihm, die Brenner einzuschalten, beobachtete ihn dabei und schwieg. Er schaltete alle Bren- ner ein, ging zum Tisch, stellte sich auf einen Stuhl und betrachtete die Flammen (er war noch so klein, dass er sie nicht sehen konnte, wenn er neben dem Herd stand). Wie alt er damals war? Weniger als sechzehn Monate. Er tat es eine Weile, dann noch am nächsten Tag ein paar Mal, und dann war es vorüber. Er »spielte« nie wieder mit den Brennern, schal- tete nur immer schnell einen an, wenn er sah, dass ich eine Pfanne holte, um zu kochen, oder nach der Geburt von Faith, wenn er sich selbst etwas kochen wollte. Nein, noch ein weiteres Mal, als er schon viel größer war und ein Freund bei ihm war, erschien es ihm lustig, sie einzuschalten, um zu sehen, wie ängstlich sein Freund wurde. Warum reagierte er nicht auf meine Worte »Nein, gefährlich!«? Weil in meiner Stimme keine echte Angst zu hören war. Kinder reagieren auf jeden Fall, wenn man ihnen sagt, dass etwas gefährlich ist und man auch tatsächlich Angst davor hat. Dann besteht aber auch genau in diesem Augenblick Verletzungsgefahr. Irgendwo habe ich gelesen, dass man seine Kinder lehren soll, auf das zu hören, was man sagt, denn wenn sie auf der Straße sind und ein Auto kommt und man ihnen eine Warnung zuruft, wür- den sie sonst nicht rechtzeitig von der Straße gehen. Darum geht es aber gar nicht. Sie reagieren vor allem auf die Angst in deiner Stimme in der jeweiligen Situation und nicht auf die Tatsache, dass man ihnen etwas sagt. 134 Viele Menschen fürchten sich bei Kindern zu sehr vor der Zukunft und lei- ten sie von der Gegenwart ab. Sie glauben, wenn ich ihnen jetzt gestatte, die Brenner einzuschalten, dann werden sie es immer tun wollen ... Ich vermute, dass Matt nicht mehr mit dem Herd spielen muss oder will, weil er bereits auf ihm kochen kann. Er ist kein Spielzeug mehr, sondern ein ernstzunehmender Alltagsgegenstand, den er und die Erwachsenen täglich verwenden. Bevor kleine Kinder wissen, wie man Auto fährt und es selbst können, genießen sie es, im geparkten Wagen am Lenkrad zu sitzen und daran herumzudrehen. Aber wer hat das schon von jemandem gesehen, der bereits Auto fahren kann? Das wäre Kinderkram. Und für Matt wäre es das, wenn er mit dem Herd spielte, auf dem er und seine kleine Schwester regelmäßig das Essen für die gesamte Familie kochten. Ich vermute auch, dass Matt deshalb so rasch auf heftige Angst und andere negative Emotionen in der Stimme seiner Mutter rea- giert, weil er diese Art von Emotionen nur selten zu hören bekommt. Kinder, die ständig die Stimmen der Erwachsenen hören, die Angst, Ekel, Wut, Drohung usw. ausdrücken, akzeptieren diesen Tonfall schon bald als normal und schalten einfach ab. Sie denken: »Ach, so reden die immer.« Wenn Erwachsene dann versuchen, Kinder auf eine echte Gefahr aufmerksam zu machen, hören sie uns einfach nicht mehr zu. 37 Jim [2008 verstorben] und Pat Montgomery leben in Ann Arbor, im Bundesstaat Michigan, wo Pat seit mehr als dreißig Jahren ihre bekannte Clonlara School führt. Als ich vor kurzem ein Wochenende bei ihnen verbrachte, erklärte mir Jim, dass Messerwerfen zu seinen Hobbys zähle. Er hatte es sich im Alter von acht Jahren beigebracht, als er in Mis- sissipp1 auf dem Land aufgewachsen war. Sein Großvater besaß ein Bajo- nett, das er einem deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg abgenommen hatte. Diese Waffe wurde Jims erstes und liebstes Wurfmesser. Auf seinem Hof in Ann Arbor verwendet er einen Holzstapel als Ziel. Deshalb wun- derte ich mich nicht, als mich sein sechsjahriger Enkel Felix, nachdem er mir vorgestellt worden war, fragte: »Willst du Grofivaters Messer sehen?« Als ich ja sagte, holten Felix und sein knapp dreyjdhriger Bruder Simon einen Sack voller Messer hervor, die Jim im Keller aufbewahrte. Während Jim ein Feuer im Kamin entzilindete und Pat thm dabei zuschaute, zeigten mir die Jun- gen die Messer. Sie gingen mit großer Sorgfalt vor, wobei sie mich mahnten, 135 vorsichtig zu sein, wenn ich die einzelnen Messer zur Hand nahm. Sie erklär- ten mir, dass die Kanten der Schneiden stumpf seien, die Spitzen hingegen scharf. Die kleinen Jungen zeigten mir, wie man den Gleichgewichtspunkt bei jedem einzelnen Messer fand, wodurch sich die Messer voneinander unter- schieden usw. Ich war nicht nur davon beeindruckt, wie sie mit den Messern umgingen, sondern auch davon, dass Pat und Jim nicht ängstlich um sie he- rumschwirrten, immer bereit, die Messer wegzupacken oder in ängstlichem Ton »Sei vorsichtigl« zu rufen. Gleichzeitig bemerkte ich, dass Pat und Jim doch ein wenig besorgt waren, als die Jungen begannen, die Messer in den Karton zu stecken, mit dem Jim das Feuer anzünden wollte. Schließlich sagte Jim: »Ihr solltet den Karton nicht so durchbohren; legt die Spitze an den Karton und stoßt dann kräftig zu.« Die Jungen befolgten seinen Rat gerne und zerlegten den Karton in den nächsten Minuten langsam in Stücke, ehe sie die Klingen weg- legten. Danach sagte mir Jim, dass er am Mittwoch immer bereits zum Mittag- essen nach Hause käme, um sich mit einigen Clonlara-Schülern zu treffen, die von ihm Messerwerfen lernen wollten. Vor allem mir als Großstadtkind fiel die Vorstellung schwer, dass man Messer auch auf sichere und unter- haltsame Weise verwenden konnte, um Fähigkeiten zu entwickeln und das Selbstbewusstsein von Kindern zu stärken. Schließlich war ich so groß geworden, dass ich beim Anblick eines Messers nicht an die Fernsehserie Unsere kleine Farm denke. Mir fällt dabei die West Side Story ein. Selbst- verständlich gingen Kinder zu Beginn des letzten Jahrhunderts sehr viel selbstverständlicher mit Messern und scharfen Gegenständen um, als wir es uns heute vorstellen können. Wie Holt sagt: »Kinder haben sehr viel mehr Fähigkeiten, als Erwachsene es für möglich halten.«¢¢ BESSER ALS FLEISSKÄRTCHEN ODER STERNCHNEN Wenn Kinder nicht durch Grausamkeit oder Vernachlässigung ver- formt werden, sind sie von Natur aus nicht nur liebevoll und freund- lich, sondern auch ernsthaft und zielgerichtet. Wann immer ich von Lehrern oder Erziehern höre: »Die Schüler sind nicht motiviert, wie soll ich sie denn motivieren?«, denke ich an die Geschichte von Mar- garet Mead und den Balinesen. Sie ereignete sich in den 20er Jahren, als noch wenige Perso- nen aus dem Westen je Bali besucht hatten. Margaret Mead sprach 136 mit einigen Balinesen, um mehr über diese seltsame und ganz andersartige Kultur in Erfahrung zu bringen. Irgendwann erkundigte sie sich auch nach ihrer Kunst. Die Balinesen verwirrte diese Frage. Sie wussten nicht, was sie mit dem Begriff Kunst meinte. So sprach Mead eine Weile über die Kunst und Künstler der westlichen Kultu- ren. Nachdem die Balinesen einige Zeit über ihre Worte nachgedacht hatten, erklärte einer von ihnen: »Hier in Bali haben wir keine Kunst. Wir machen alles, so gut wir können.« Kleine Kinder sind wie diese Balinesen. Nahezu alles, was sie tun, tun sie so gut, wie sie können. Außer sie sind müde, hungrig oder von Leidenschaft, Schmerz oder Angst erfüllt, handeln sie fast ausschließlich aus Neugier, aus ihrer Sehnsucht nach Können und Fähigkeiten und der Freude, ihre Arbeit gut zu machen. Erwach- sene erkennen und schätzen derartige Motive jedoch selten. Sie können sich nur schwer vorstellen, dass diese überhaupt existie- ren. Stattdessen ersetzen sie diese Beweggründe durch Gier und Angst. Aber was ist mit jenen Personen, die ihre Kinder aus der Schule genommen haben, nachdem ihr Geist durch jahrelange »Stärkung«, belanglose Fleißkärtchen und Strafen, Zensuren und Förderpro- gramme gelahmt und verkrüppelt wurde? Wie können Freilerner- Eltern in ihren Kindern diese frühen, tiefen, reicheren Quellen menschlichen Handelns wiederbeleben? Das ist nicht einfach. Ver- mutlich gelingt es nur mit Geduld. Jede Wunde heilt, wenn wir sie nicht immer wieder aufreißen. Dasselbe gilt auch für den mensch- lichen Geist. Wenn wir den Kindern genug Zeit lassen, die sie so frei von schädlichem Druck von außen verbringen wie möglich, stehen die Chancen gut, dass sie eines Tages wieder in sich Gründe fin- den, um etwas Wertvolles zu tun. Mit etwas Zeit wird dies uns allen gelingen. ?) Als Vater fällt es mir mitunter schwer, Johns Ideen umzusetzen. So bin ich stets verleitet, unsere Mädchen hauptsächlich durch Lob und Kri- tik von außen zu motivieren. Gegen diese Versuchung muss ich ständig ankämpfen. Ich bin vor allem vertraut mit dem Bereich des Lehrens und Lernens, ebenso wie ich beim Essen vertrauter bin mit Fett und Fleisch als mit Gemüse und Obst. In beiden Fällen muss ich mich an neue Ideen gewöhnen, um sie konsequent umzusetzen, und in beiden Fällen fällt es mir schwer. 137 Bei unserer letzten GWS-Konferenz hatten wir das Glück, den Jour- nalisten Alfie Kohn als Gastreferenten zu gewinnen. Kohn hat nahezu sein gesamtes Erwachsenenleben damit verbracht, Untersuchungen und Diskussionen über Belohnung und Bestrafung als allgemeine Schulprak- tiken zu dokumentieren. Er gelangt dabei zur selben Schlussfolgerung wie Holt: Unsere natürliche Motivation zu lernen wird in der Schule durch unangemessenes Lob und Belohnung verformt. Wir alle stehen - oftmals unbewusst - stark unter dem Einfluss unserer eigenen Erziehung. Zu begreifen, wovon John Holt oder Alfie Kohn sprechen, und danach zu handeln, erfordert von uns eine bewusste Anstrengung. Und mitunter wirken bewusste Anstrengungen unnatürlich oder falsch. Aber wenn wir diese Anstrengungen nicht unternehmen, können wir nur nach der uns vertrauten Methode lehren und als Eltern so erziehen, wie wir selbst erzo- gen wurden. ¢¢ 138 5 In der Welt lernen ZUGANG ZUR WELT Auch die angeblich »freien« oder »alternativen« Schulen unter- scheiden sich in vieler Hinsicht nicht von den konventionellen. Sie trennen die Kinder von der großartigen Fülle und Vielfalt des Lebens und ersetzen diese durch Unterrichtsfacher und Lehrplane, die sie möglicherweise durch mancherlei gut gemeinte Extrawlrst- chen aufzupeppen suchen. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass die Schulen eifrig bestrebt sind, die Welt in winzige Stucke zu zer- legen, mit denen sie die Kinder nach der Theorie irgendeines Exper- ten füttern, so wie sie es angeblich brauchen und verstehen, anstatt sie am wahren Leben mit all seinen zahlreichen Facetten teilhaben Zu lassen. Kinder brauchen keinen neuen und verbesserten Lehrplan, son- dern mehr Zugang zur wirklichen Welt. Sie brauchen viel Zeit und Raum, um uber ihre Erfahrungen nachzudenken und um ihnen durch Fantasie und Spiel eine Bedeutung zu verleihen. Ratschlage, Land- karten und Reiseliteratur machen es ihnen leichter, an die von ihnen gewünschten Ort zu gelangen (und nicht dorthin, wo wir glauben, dass sie sein sollten), um genau das herauszufinden, was sie he- rausfinden wollen. Das ist nicht einfach. Die moderne Welt ist gefahr- lich, verwirrend, nicht fur Kinder geschaffen und behandelt sie im Allgemeinen weder freundlich noch einladend. Wir müssen noch vie- les lernen, um die Welt fur unsere Kinder leichter zuganglich zu machen und ihnen die Freiheit und Kompetenz zuzugestehen, sie zu 139 erkunden. Diese Aufgabe unterscheidet sich jedoch grundsätzlich davon, nette kleine Lehrpläne auszuarbeiten. Hier beschreibt eine Familie aus Washington, wie sie ihrem Kind die Erschließung der Stadt ermöglichte: Wir wohnen in Washington D.C. auf dem Capitol Hill, nur etwa drei Kilo- meter entfernt von den Museen der Smithsonian Institution. Susan geht mit ihrer Mutter nahezu täglich dorthin, um sich umzusehen, zu spielen, andere Leute zu treffen, ins Kino zu gehen, Musik zu hören und Karus- sell zu fahren. Sie schauen sich eine großartige Vielfalt von Naturfil- men an ... Sie kennen jede Ausstellung im Kunst- und Geschichtsmu- seum. Susan kann mühelos andere durch die Geschichte des Univer- sums, die Naturgeschichte und die letzte Marslandung führen. In der Nähe des Springbrunnens essen sie zu Mittag, sehen sich die neueste Skulptur an, machen Fotos von ihren Lieblingsplätzen und bewundern die Schönheit eines Frühlings- oder Herbsttages. Sie nehmen an Pan- tomimeshows teil, nehmen Jazzkonzerte auf Band auf, fahren mit dem Doppeldeckerbus zu ihrer geliebten »Erforschungsgalerie«, wo man in den Objekten spielen und umher springen kann. Der Eintritt ist recht günstig, wir alle haben Spaß daran, und außerdem lernen wir noch eine Menge. Susan lebt in einer wunderbar vollen Welt; ihre Lehrmittel sind unbe- grenzt. Sie wurde nicht von der Schule in der Art »sozialisiert«, dass sie Ausbildung für die knappe Verteilung von Wissen hält, worum hungrige, kontrollierte Kinder kämpfen müssen. Sie stellt sich auch nicht dumm ... Unser Haus und die Umgebung gleichen einem Garten, der voll ist von frischen Früchten, die jeder, der es will, auf Armeslänge pflücken kann. Sie genießt es, zu malen, zu zeichnen, mit Farben zu arbeiten, etwas auszuschneiden und aufzukleben. Dann vergleicht sie ihre Arbeit mit denen im Museum. Wenn gewünscht, steuern wir Kommentare und Ideen bei. Zu unseren Hobbys zählen Astronomie und Camping. Ihr Vater ist Kin- derarzt, und er genießt es, mit ihr gemeinsam elektronische Anlagen zu konstruieren. Ihre Lötfähigkeiten sind schon ausgezeichnet, und so hat sie viele Verbindungen an unserem selbstgebauten Heimcomputer gelötet, der nun im Büro ihres Vaters gute Dienste leistet. Aber nicht nur »gebildete« Mittelklassefamilien können sich die Stadt als Lehrmittel zunutze machen. Im Kapitel »The New Truants« aus seinem Buch Acting Out schreibt Roland Betts: 140 Die heutigen Schulschwänzer [in New York City] werden vollkommen miss- verstanden. Vermutlich zählen sie zu den aufgeklärtesten Kindern, denn sie sind sich bewusst, dass ihnen weder die Schule noch die Straße etwas zu bieten haben. Sie fürchten beide Welten. Sie begreifen, wie sinnlos die Jobs sind, die all jenen zur Verfügung stehen, welche die High School ab- schließen ... Die meisten von ihnen sind intelligente, sensible Kinder, die wesentlich besser lesen und rechnen können als ihre Altersgenossen, die zur Schule gehen oder davor herumhängen. Diese Schulschwänzer kom- men nur selten mit dem Gesetz in Konflikt. Ihr Markenzeichen ist ihre Einsamkeit. Randolphe Tracey ist einer von ihnen. Er ist jetzt (1978) sechzehn Jahre alt, allerdings war er seit dem letzten Tag der vierten Schulstufe nicht mehr in der Schule. Er ist arm und schwarz ... [Er] ist ein stilles, schüchternes Kind und gesteht seiner Mutter gegenüber ehrlich ein, dass er seit Jahren nicht mehr zur Schule geht. Er war immer ein guter Schüler und in seinen Lesefähigkeiten seiner Schulstufe sogar mehrere Jahre voraus. Aber er ertrug den ständigen Lärm und das Durcheinander in seiner Schule nicht. Randolph hält sich nie in Gesellschaft anderer Kinder oder Erwachsener auf. Den Großteil der vergangenen vier Jahre verbrachte er im Metropoli- tan Museum of Art. Obwohl er sämtliche Museen der Stadt regelmäßig besucht, zieht er das Met vor und behauptet ohne Prahlerei, jedes ein- zelne Objekt der ständigen Ausstellung des Museums genau zu kennen. Er erinnerte sich, dass er eines Nachmittags dort von einer Schulklasse in die Enge getrieben wurde, die zu seiner ehemaligen Schule gehörte und vielleicht sogar genau die Klasse war, in die er jetzt gehen sollte. Bewe- gungslos verharrte er zwanzig Minuten hinter einer minoischen Vase, bis die Gefahr vorüber war. Randolph zeichnet und malt auch selbst, aber es bereitet ihm wesentlich mehr Freude, die in den Museen ausgestellten Kunstwerke zu betrachten und zu studieren. Danny Hartman ist ein weiterer Schulabbrecher. Sein Leben besteht darin, dass er Figuren aus Comic-Heften und Kunstbüchern nachzeichnet und malt, die er sich aus der öffentlichen Bibliothek leiht. Er kann die Zeich- nungen von Leonardo und Michelangelo perfekt kopieren und sogar die kompliziertesten Radierungen von Rembrandt. Widerwillig besuchte er die Schule bis zum Frühjahr der achten Schulstufe, [als] er von einer Kunst- lehrerin entdeckt wurde, die ihn ermutigte, sich für die Aufnahme in die High School of Music and Art zu bewerben. Drei Jahre lang achtete sie darauf, dass er die täglichen Englisch- und Mathematikkurse besuchte, und gestattete ihm, in ihrem Zimmer zu arbeiten, während er Sport, 141 Naturwissenschaften, Maschinenschreiben und Sozialkunde links liegen ließ ... Seine Klassenkameraden lobten ihn für sein Talent, und in den Augen seiner Kunstlehrerin war er ein »echtes Genie«. Seine Arbeiten waren außergewöhnlich, und die Mappe, die er bis Weihnachten der ach- ten Schulstufe angesammelt hatte, geradezu atemberaubend ... Allerdings wurde Danny an der High School of Music and Art nicht auf- genommen. Seine Leistungen bei standardisierten Lese- und Mathema- tiktests waren nicht überzeugend, und sein Gesamtpunktedurchschnitt war durch die vielen Kurse, die er nicht besucht hatte, und die darauf fol- genden negativen Bewertungen stark beeinträchtigt ... Der Tag, an dem Danny erfuhr, dass er nicht an der High School of Music and Art zugelas- sen worden war, bildete auch den Abschluss seiner Schulkarriere ... Wenn Mr. Betts davon spricht, dass Dannys Schulbericht von den nicht besuchten Kursen und darauf folgenden negativen Bewertun- gen beeinträchtigt war, so bedeutet dies vermutlich, dass Dannys Schule - wie die meisten Schulen - nicht besuchte Kurse negativ bewertet, unabhängig davon, ob der Schüler den Lehrstoff weiß und die Arbeit erfüllen könnte. Wenn dies der Fall war, dann heißt das nur, dass die Schule in Bezug auf seine akademischen Leistungen log, um ihn für die nicht besuchten Kurse zu bestrafen. Eine emporende Praxis, die vermutlich vor Gericht als illegal beurteilt würde und die dennoch an Schulen im gesamten Land üblich ist. Mr. Betts beschreibt weiter einen bewanderten Vielleser, einen Fachmann für Geografie, Flora und Fauna des Central Parks, einen Experten für Fernsehshows und Filme, einen Züchter und Trainer von Tauben und einen Experten für das gewaltige Verkehrssystem New Yorks. Sie alle haben von der Stadt das gelernt, was sie lernen woll- ten. Keiner von ihnen wurde je von einem Erwachsenen oder auf andere Weise unterstützt oder ermutigt, sein Wissen zu nützen, oder erhielt für irgendeinen Teil seines Wissens eine Bewertung. Um wie viel einfacher wäre dies und um wie viel kostengünstiger, als ein gigantisches Schulwesen zu betreiben und Gefängnisse für jene, die diese Schulen nicht besuchen wollen. Um wie viel einfacher wäre es, Mittel und Wege zu finden, um die Interessen und Talente dieser und vieler ähnlicher Kinder zu fördern. Was das Lernen betrifft, benöti- gen sie offensichtlich kaum Hilfe. Die Gesellschaft würde ihnen jedoch enorm helfen, wenn sie diese Kinder nicht mehr wie Krimi- nelle behandelte, so dass sie kühn und frei forschen könnten, statt 142 im Verborgenen. Allerdings benötigen sie Hilfe, um Mittel und Wege zu finden, wie sie ihr Wissen anwenden können - eine Aufgabe, für die angeblich die Schulen zuständig sind. Diese Art der Unterstüt- zung wäre ihnen vermutlich sehr willkommen. Zwischenzeitlich zeigen ihre Erfahrungen deutlich, dass die moderne Stadt trotz ihrer gewaltigen Größe und Härte reich ist an. Lernmöglichkeiten, und dass Kinder keinen Erwachsenen benötigen, der ihnen unablässig die Hand hält, um diese Ressourcen auch ver- werten zu können. Judy McCahill aus England schreibt über ein kleines Kind, das auf sehr aktive Weise das Lernmaterial seiner Welt nützt: Weil D. im Ausland war, schlug ich den Jungen letzten Samstag vor: »Gehen wir doch in eine Kunstausstellung« - nur um etwas zu tun zu haben. Sam und Kevin waren von dem Vorschlag begeistert und bespra- chen sofort, welche Art von Kunstwerken sie dort fabrizieren würden und welche (eigenen) Bilder sie von zu Hause mitnehmen würden. Verwirrt ver- suchte ich, ihnen zu erklären, worum es bei einer Kunstausstellung ging, worauf sie ehrlich erstaunt waren, dass sie nur dorthin gehen sollten, um die Bilder anderer zu betrachten. Erstaunt, aber unbeeinflusst, sammelte Sam seine Malsachen: zwei Farbsets, einen Pinsel, ein wenig Papier und einen Krug Wasser, den er mir zu tragen gab; und Kevin ließ uns alle war- ten, während er eine farbenfrohe Filzstiftzeichnung von einem Armee- panzer vollendete. Als wir ankamen, schlenderten wir den Weg in der Nähe des Ladens für Kunsthandwerk entlang, der die Ausstellung betrieb, und begutach- teten pflichtbewusst die Arbeiten. Dabei kamen wir auch an mehreren klug aussehenden, erwachsenen Künstlern vorüber, die in Klappstühlen saßen. Und die ganze Zeit über drängte mich Sam, herauszufinden, wie er sich der Show anschließen könne, während ich versuchte, ihn zu beschwichtigen. Schließlich begrüßte mich ein alter Mann, der in dem Laden arbeitete und mir einmal eine lange Geschichte über die Schwierigkeiten erzählt hatte, die er meistern musste, als er in einer Nacht, in der London bom- bardiert wurde, sein Zuhause in Cobham zu erreichen versuchte. Ich stellte ihm Sam vor und bat ihn, dem Jungen zu erklären, was eine Kunstaus- stellung war. Er begann mit seiner Erläuterung, doch als er und seine Toch- ter, die auch in dem Laden arbeitete, sahen, dass S. bereit war, selbst ans Werk zu gehen, lachte er fröhlich mit einigen Kunden über diesen Eifer und gab ihm dann einen großen »Karton«, um darauf zu malen. Während 143 S. sich auf die Schwelle eines Büros in der Nähe setzte und malte, schlen- derten wir anderen erneut durch die Ausstellung, betrachteten die Schau- fenster und aßen Eis. Am Ende hatte Sam ein hübsches Bild von einem schwarzen Hund gemalt, der an einem windigen Tag und bei strahlendem Sonnenschein mit fliegendem Fell einen Hügel hinauf rannte. Auf magische Weise schien das Bild seine Stimmung wiederzugeben. Er trug das Bild in den Laden, wo ihm der Mann sagte, dass er es für 50 Pence zum Verkauf ausstellen würde (und ihm etwas wirr erklärte, dass die Künstler für eine Ausstellung Miete zahlen mussten), und dann gingen wir nach Hause. Noch immer erfüllt von diesem Erlebnis, erzählte Sam einige Tage spä- ter einer meiner Freundinnen davon. Augenblicklich brach sie auf, um das . Bild zu kaufen, aber es war verschwunden! Als ich Sam vorschlug nach- zusehen, ob sein Bild verkauft worden sei, antwortete er, dass er das am nächsten Tag (einem Sonntag) bereits getan hatte, wo der Laden geschlos- sen war. Und das war es. Er war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um auch nur einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. LEBENSSCHULE Eine Jugendliche schreibt wortgewandt, wie viel sie von dem Teil ihres Lebens lernt, der ihr gehört: Ich stieg gleich in die zweite Schulstufe der öffentlichen Schule ein und bekam bis zur sechsten Schulstufe ausschließlich die Note »sehr gut«. Alle Lehrer waren nett zu mir und lobten mich wieder und wieder für meine Arbeit, für die ich auch gute Zensuren bekam, was mich weiter motivierte. Als ich am Ende der sechsten Schulstufe die Schule für zwei Jahre ver- ließ, machte ich eine neue Entdeckung. Zensuren machen dich nicht zu einem guten Menschen. Weil ich ein ziemlich gutes Gedächtnis habe, erin- nerte ich mich an alles, was ich benötigte, um bei Prüfungen ein »sehr gut« zu bekommen. Allerdings hatte ich auch aus Erfahrung gelernt, dass ich jeglichen Lernstoffe, der mich nicht interessiert, sofort vergesse. Leider traf dies auf alles zu, was ich in der zweiten bis sechsten Schulstufe der öffentlichen Schule gelernt hatte. In den zwei Jahren ohne Schulkontakt habe ich gelernt, ohne Zensu- ren zu leben und ohne dass mir jemand jedes Mal, wenn ich etwas tue, »gut gemacht« sagt. Zensuren haben keine Bedeutung mehr für mich. Ich 144 habe auch gelernt, dass die Schulstufen nichts besagen. Zusätzlich lernte ich viele unterschiedliche Dinge, die ich in einer öffentlichen Schule nie gelernt hätte. Ich habe gelernt, mit Erwachsenen umzugehen und bessere Beziehungen zu ihnen aufzubauen, einfach weil ich oft in ihrer Gesellschaft bin - immerhin sind ja alle anderen Kids in der Schule! Außerdem habe ich viele praktische Fertigkeiten gelernt, die ich nie in der öffentlichen Schule gelernt hätte. Erst war ich nicht sicher, ob es wirklich so eine gute Idee war, nicht zur Schule zu gehen, aber ich habe mich rasch daran gewöhnt und Spaß daran gefunden. Wenn ich mir Kids in meinem Alter ansehe, freut es mich, dass ich meinen Weg gegangen bin. Ich bin heute zu so vielen neuen Dingen imstande, dass es mich selbst verblüfft. Und das alles nur, weil ich Zeit hatte zu lernen und das Lernen auch genieße. Die Dinge haben sich in meinem Kopf eingeprägt und bleiben dort haften, weil ich mich immer wei- ter mit neuen Dingen beschäftige, während die Kids in der Schule nur Dinge tun, um sie »hinter sich zu bringen« und danach gleich wieder zu vergessen; und das alles ohne jeglichen Genuss. Uff! Ich habe so ein hübsches Zuhause und eine gute Lebensschule! Heute schätze ich mich sehr glücklich, dass ich bin, wer ich bin, und dass ich Eltern habe, die an Freilernen glauben! Jud Jerome schreibt über die Erfahrungen seiner Tochter in der »Lebensschule«: Eine unserer Töchter war zwölf, als wir auf unsere Farm zogen. Sie been- dete dieses Schuljahr als »unabhängigen Studienkurs«, lebte auf der Farm und schickte ihre Arbeiten an die Lehrer in der Stadt. Im Herbst wollte sie sich nicht weiter einschreiben. Um rechtliche Schwierigkeiten zu vermei- den, schrieben wir sie in eine von einem Freund geleitete »freie« Schule ein, obwohl sie bis zum heutigen Tag weder die Stadt noch die Schule selbst zu Gesicht bekommen hat. Den Großteil des ersten Jahres ver- brachte sie hier auf der Farm, sprang überall wie eine Erwachsene ein und lernte aus Erfahrung, wie wir es alle taten. Als sie dreizehn war, halfen wir in einer anderen Gemeinde im Norden Vermonts bei der Gewinnung von Ahornsirup. Ihr gefiel es so gut - alles war sehr primitiv und die Geräte wurden noch von Pferden gezogen -, dass sie bat, dort bleiben zu dürfen. Daraus ergab sich ein für alle Seiten angenehmes Arrangement. Sie lebt nun schon über fünf Jahre dort, bis auf ein Jahr, als sie sechzehn war. Damals ging sie mit einem zehn Jahre älteren jungen Mann nach Island, um den Winter über in einer Fischkonservenfabrik zu arbeiten. Im darauf 145 folgenden Frühjahr trampten sie durch Skandinavien, durchwanderten die Alpen und flogen dann wieder nach Hause. Sie kehrte mit 3000 Dollar mehr zurück als bei ihrer Abreise. Als sich unsere Tochter letztes Jahr für ein Ausbildungsprogramm der Regierung bewarb, benötigte sie ein High-School-Diplom. So nahm sie mehrere Wochen an einem Erwachsenenbildungskurs teil und absolvierte ihre Prüfung mit ausgezeichneter Punktzahl (so dass ihr mehrere Colleges ein Stipendium anboten). Auf diese Weise wurde sie noch vor ihren Alters- genossen »graduiert«, die weiterhin zur Schule gegangen waren. Ihr Fall demonstriert besonders deutlich, wie viel Zeit in Schulen vergeudet wird. Sie ist keineswegs besonders lernbegierig und würde sich auch selbst nie als Intellektuelle bezeichnen. Jedenfalls hatte sie schon immer mehr Interesse daran, Kühe zu melken, Gemüse zu ziehen und mit Pferden zu arbeiten, als sich mit Büchern zu befassen. Im Alter zwischen dreizehn und achtzehn Jahren wandelte sie sich mühelos zur Frau, eignete sich eine Vielzahl von Fähigkeiten an und sammelte in ihren weit gefächerten Interessensgebieten Erfahrungen in der Welt der Erwachsenen. Gleich- zeitig gelang es ihr, sich auch im akademischen Bereich außergewöhn- lich zu qualifizieren. Im Vergleich dazu sind ihre Klassenkameraden, die weiterhin zur Schule gingen, in vielfacher Weise geistig gehemmt, emo- tional gestört und gehen ohne bedeutende Ziele und echte Werte durchs Leben. Kinder können viel aus den zahlreichen »unglücklichen« Erfahrungen lernen, vor denen wir sie so sorgfältig zu bewahren versuchen. Eine Mutter schrieb: Wir machten eine intensive Erfahrung, die uns eine vollkommen andere Art von »sozialer« Aktivität einbrachte. Unmittelbar nach der Bewilligung des Homeschoolings erlitt mein Vater einen schweren Schlaganfall. Nachdem er sich einigermaßen erholt hatte, kam er zur Therapie in ein Rehabilitati- onszentrum. Weil die Jungen und ich zeitlich unabhängig waren, konnten wir ihn täglich besuchen. (Dafür wären sie von der Schule nicht freigestellt worden.) Mein Vater aber war schwer depressiv, und der Therapeut im Krankenhaus hatte auf seinem Krankenbericht »nicht kooperativ« ver- merkt. Das wirkte auf uns wenig vertrauenserweckend, so dass wir jeden Tag hinfuhren, um sicherzustellen, dass sie ihn nicht aufgaben. Das war sowohl für die Jungs als auch für mich eine gute Erfahrung, denn sobald mein Vater seine Enkel sah, hob sich seine Stimmung. Er lachte über ihre Scherze, doch wenn sie gingen, versank er wieder in die Depression. 146 Deshalb kamen wir überein, die Bücher einzupacken (immerhin war es mittlerweile September) und den Großteil des Tages im Krankenhaus zu verbringen. Es funktionierte gut, denn die Jungs hatten viel Platz, um zu arbeiten, und konnten raus zum Spielen, wann immer es ihnen im Haus zu viel wurde. Sie gingen auch zum Getränkeautomaten, und wenn im Kran- kenhaus Personalmangel herrschte, halfen wir beim Wäschesortieren und -austeilen. Wir machten ein Spiel daraus, und die Patienten genossen es, wenn die Jungs in ihre Zimmer kamen und ein wenig mit ihnen plauderten. Was die Therapie betraf, so versicherten wir meinem Vater, dass wir ihn zu uns nach Hause nehmen würden, sobald er gut genug sprechen könnte. Dadurch arbeitete er wirklich hart an der Rückgewinnung seiner Sprache, während wir ihn noch anfeuerten. Wir ermunterten auch andere Patien- ten mit Zurufen wie: »Sie schaffen es, hurra!« oder »Großartig!« Die ande- ren Patienten genossen unsere Aufmunterungen, und als der Therapeut die positiven Ergebnisse sah, war er froh, dass wir da waren. Wir erlebten, dass sich viele Patienten innerhalb von Wochen erholten, während der Therapeut mit mehreren Monaten gerechnet hatte ... ÜBER DIE EIGENE ZEIT BESTIMMEN Eine Mutter aus Washington beschreibt das Leben ohne Stunden- plan: Wir begannen das Jahr ohne vorgefasste Ziele und ohne Schlachtplan. Ich hatte einfach angenommen, dass unser Leben so weiterlaufen würde wie bisher. Wir gehen abends zu Bett, wachen morgens auf, der Tag vergeht, und die notwendige Arbeit wird erledigt. Ich weiß, dass ich in einer gesun- den Umwelt lebe und dass ich mich auch als Mensch weiterentwickle. Und ich vertraue darauf, dass dies bei meinen Kindern ebenso verläuft, auch wenn ich weder ihre »Fortschritte« überwache, noch irgendeinen greifba- ren Beweis für eine »Leistung« vorlegen könnte. An etwa zehn Tagen pro Monat fahre ich in die Stadt, um in einer Druckerei zu arbeiten. Üblicherweise wache ich früh auf, um dann ein bis zwei Stunden in Ruhe den Tag zu planen, je nachdem, was getan werden muss und was ich gerne tun würde. An meinen »Arbeitstagen« fällt es mir schwer, in diese Art des ruhigen Nachdenkens »zu versinken«. Immerhin ist schon ein gewaltiger Teil des Tages verplant. Wenn ich an mehreren auf- einander folgenden Tagen arbeite, bekomme ich am vierten oder fünften Tag das Gefühl, mich von meinem inneren Kern zu lösen. Dann überlege ich 147 mir Dinge, die mir ansonsten unverantwortlich erscheinen würden. Ich habe weniger Energie, um mich zu erholen, keine Kraftreserven, und es fällt mir schwer, meinem Mann und meinen Kindern echte Aufmerksamkeit zu schenken usw. Wenn ich die Verantwortung für die Strukturierung meiner Zeit abgebe, scheine ich damit auch moralische Kraft zu verlieren. Wer kann abschätzen, in welch hohem Maß wir als Gesellschaft unsere Kinder ihrer Verantwortung entfremden, indem wir einen so großen Anteil ihrer Zeit für sie strukturieren? Allmählich glaube ich, dass der größte Schaden nicht dadurch entsteht, was wir strukturieren und wie, sondern in der Tatsache liegt, dass wir an fünf von sieben Tagen und in neun von zwölf Monaten den Kindern täglich sechs Stunden die Verantwortung für ihre Zeit weg- nehmen. Vielleicht ist nicht einmal das Ausmaß der Zeit der wichtigste Fak- tor, sondern einfach die Tatsache, dass es zu einer Unterbrechung kommt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass selbst eine kurze Unterbrechung - wie ein Zahnarzttermin, eine Verabredung oder ein zu haltender Vortrag - den Fluss meiner eigenen kreativen Energien für einen wesentlich längeren Zeitraum hemmt, als die Unterbrechung selbst. Sobald ich bei der Struk- turierung meiner Zeit vom aktiven zum passiven Teilnehmer werde, setzt eine gewisse Abstumpfung ein, die es mir wesentlich leichter macht, pas- siv zu bleiben und »die Zeit totzuschlagen« bis zur nächsten vorgeschrie- benen Aktivität, etwa die Vorbereitungen auf das Abendessen. Mir ist aufgefallen, dass sich die Kinder nur an Tagen über »Lange- weile« beklagen, an denen ein großer Teil der Zeit für sie geplant wurde. Selbstverständlich ist es nicht falsch, gemeinsame Aktivitäten zu planen, aber ich bin vorsichtig geworden, zu viel für sie zu planen und Dinge von ihrem natürlichen Platz aus dem perfekten Muster eines bestimmten Tages zu entfernen und künstlich in die Zukunft eines anonymen Tages Zu projizieren: »Jeden Dienstag werden wir ...« Ich habe nie gelernt, Kinder zu »stimulieren«. Ich weiß, dass ich als Mutter meine Kinder in einer »förderlichen« Umgebung aufziehen sollte, damit sie nicht »stumpf« oder »gelangweilt« werden, aber was ist stimulie- render: ein Zimmer voller Spielzeug und modernster technischer Geräte oder eine dürftig möblierte, selbst gezimmerte Holzhütte im Wald, mit eini- gen sorgfältig ausgewählten und selbst hergestellten Spielsachen, in denen Liebe, Zeit und Sorgfalt stecken, und in denen man mit den Ele- menten der Erde vertraut ist? Die einzige Welt, die ich ihnen wirklich au- thentisch zeigen kann, ist meine Welt. Vielleicht waren unsere Exkursionen deshalb so eine Enttäuschung. Im Herbst brachen wir einmal pro Woche auf, um »etwas Besonderes« zu 148 tun: eine »Lehrexkursion«. Nach einigen Monaten haben wir auf diese Aus- flüge verzichtet. Auch wenn sie Spaß machten und bestimmt interessant waren, störte uns alle die Falschheit daran. Alle wussten, dass wir nur des- halb ins Aquarium gingen, weil Mom es für eine »gute Erfahrung« hielt. Von wesentlich dauerhafterem Interesse - und vermutlich auch von größe- rer Bedeutung für die Ausbildung der Kinder im wahrsten Sinne des Wor- tes - sind unsere wöchentlichen Fahrten in die Stadt, um Erledigungen zu machen, zur Bank zu gehen (wo alle ein eigenes Konto besitzen, über das sie frei verfügen können), zur Post, zum Supermarkt, in die Wäsche- rei, zum Recyclinghof (eine wichtige, von den Eltern unabhängige Einnah- mequelle), in die Drogerie und in die Comicabteilung der Buchhandlung, und dann den Abend in der Bibliothek oder im Schwimmbad zu verbringen. Das sind echte Dinge, die ich auch tun würde, wenn niemand mich beglei- tete, und die gleichzeitig für uns alle wichtig sind. Wenn ich versuche, für etwas »ihr Interesse zu wecken«, entsteht bereits durch die Künstlichkeit der Bemühung eine Barriere zwischen uns (und mit Grobheit will ich es erst gar nicht versuchen). Aber wenn ich den Kindern etwas zeige, was ich wirklich mag, weil ich auch sie wirklich mag, fallen alle Barrieren, und wir sprechen offen und liebevoll miteinander. Wenn ihnen gefällt, was mir gefällt - ein Lied, ein Gedicht, dass die Lachse zum Laichen in die Flüsse zurückkehren -, dann ist dies eine besondere Freude, weil wir eine Wahrheit teilen. Aber auch unsere Differenzen sind echt. Denn obwohl wir viele Gemeinsamkeiten haben, stimmen wir nicht in allem überein. So mache ich meine täglichen, für mich bedeutungsvollen Arbeiten und biete den Kindern an, sie ihnen beizubringen: Kochen, Nähen, Holz hacken, Wasser tragen, Hausputz, Schreiben, Lesen, Singen, Segeln oder Gartenarbeiten. Manchmal sind sie daran interessiert und manchmal nicht. Aber wenn ich versuchte, sie zu »stimulieren« ... hätten sie nicht die Zeit - und ich meine sehr viel unverplante Zeit -, um tief in sich selbst zu suchen, was ihnen am wichtigsten ist. Und ich ebenso wenig. Viele Eltern haben uns über das Gefühl der Befreiung geschrieben, das mit Unschooling und dem Wegfall eines Stundenplans einher- geht. Gail Myles zog mit ihrer Familie auf eine Insel, um dort mit ihren Kindern Unschooling zu praktizieren: Ich hatte nicht erwartet, dass die Jungs dieses Experiment je positiv auf- nehmen würden ... Aber ich hatte mir nicht träumen lassen, dass sie schon so bald den Unterschied spüren würden. Sie lernten von den Muschel- 149 suchern aus Maine, nach Muscheln - dem Salz der Erde -zu graben, und dies bei 5 Grad unter Null; sie erlebten Situationen, in denen jeder für das Leben der anderen verantwortlich war; sie genossen und verstanden Opern, die wir über den Texaco-Sender empfangen konnten, wobei nie- mand von uns jemals zuvor Interesse dafür gezeigt hatte ... Und vermut- lich das Wichtigste von allem: Sie lernten, mit sich selbst und untereinan- der gut auszukommen. Das mussten sie auch, denn es gab niemanden sonst. Und wenn man von jemandem etwas wollte, musste man ihm dafür auch etwas geben. Das sollte reichen im Hinblick auf diesen Unsinn über »Gesellschaftsleben«. Gibt es einen besseren Lohn, als in einer Erwach- senenwelt - Seite an Seite mit hart arbeitenden Menschen - seinen Wert zu fühlen? Ich glaube nicht. Ihnen standen sogar Tränen in den Augen, als sie von der kleinen Küstengemeinde Abschied nahmen, die sie als »Gemeinschaft« kennengelernt hatten. Mein Lohn war grenzenlos. Nun nahm mir nicht mehr jeden Morgen ein gelbes Ungeheuer - der Schulbus - meine liebsten Freunde weg. Wenn sie ein neues Wort erlernten, konnte ich es bei den alltäglichen Geschehnis- sen ständig verwenden, wenn wir etwas über die Molekularbiologie he- rausfinden wollten, konnten wir von neun Uhr früh bis fünf Uhr nachmittags durcharbeiten, bis es Klick machte. Was im Rahmen des Calvert-Studien- plans erarbeitet wurde, war für alle lehrreich. Am frühen Abend führten sie oft selbsterdachte Opern auf, oder Shows zum Vergnügen ihres Dads, wobei allein die Bühnengestaltung mitunter drei Tage in Anspruch nah- men. Wir lasen unzählige Bücher, mitunter auch bis ein Uhr früh, denn um sechs Uhr dreißig holte kein gelbes Ungeheuer die Kinder ab. Ich wurde aber auch mit Themen aus Geschichte, Literatur, Mythologie und Architektur, mit denen wir uns auseinandersetzten, reichlich belohnt. Im April reisten wir nach Athen. Wir hätten uns nie für eine Reise nach Grie- chenland interessiert und hätten eine solche auch nie für nötig gehalten, hätte man uns nicht einige »Türen« aufgestoßen. Bud verliebte sich in den Parthenon und wollte ihn sehen. Tim war eine wandelnde Mythologie-Enzy- klopädie, und Mike war unser Geschichtsführer - auf diese Weise benötig- ten wir nicht einmal einen griechischen Reiseführer. Mike ist aber auch ein talentierter Schriftsteller. Und nachdem seine Lehrerin seine Abschlussar- beit für das Fernschulprogramm gelesen hatte, sagte sie, dass sie gerne herüber fliegen würde, um Mike kennenzulernen. Sie meinte, er wüsste, worum es beim Schreiben ginge - immerhin würde sie am liebsten sofort nach Troja und Griechenland reisen, denn sein Thema war der Trojanische Krieg. Er hatte bewirkt, dass diese Lehrerin etwas in ihrem Inneren fühlte. 150 Ich genieße das Calvert-Fernschulsystem. Die betreuenden Tutoren sind ausgezeichnet und verstehen es wirklich, mit Kindern zu sprechen. Es entwickelte sich eine persönliche Beziehung, in der sich die Kinder darauf freuten, wenn ihnen jemand schrieb. Da Briefe selten waren, lernten sie den Wert des geschriebenen Wortes kennen. Allerdings muss ich einräu- men, dass wir den Lehrplan nach unseren Bedürfnissen und Interessen umsetzten und nur die Jahrgangseinteilungen übernahmen, um es den Jungen zu ermöglichen, wieder an eine öffentliche Schule zu wechseln. Das war allein ihre Entscheidung - sie wurden ermutigt, den Weg in ihre Zukunft selbst zu wählen. An den öffentlichen Schulen hasse ich vor allem die Tatsache, dass sie meine Kinder den ganzen Tag über haben dürfen, während ich sie ernähre, bekleide, medizinisch versorge, hin- und herfahre und mich hauptsächlich um sie kümmere, und dass mir diese Stunden mit ihnen und die gemeinsame Lernerfahrung verweigert werden. Ich kann ihre Aus- bildung nicht unterstützen, wenn man mir verweigert, die Themen zu wählen, mit denen ich sie vertraut machen möchte, und ich nur müde, übellaunige Kinder zurückbekomme, die essen, ihre Hausaufgaben machen und erschöpft ins Bett fallen. FÄHIGKEITEN FÜR DIE WIRKLICHE WELT ENTWICKELN Aus der Titelgeschichte der April-Ausgabe 1980 des Home Educa- tors Newsletter: Diese Kinder [einer Homeschooling-Familie] bilden einen exklusiven Schülerkreis, weil sie in die Schule hineingeboren wurden. Sie nehmen ihren Platz nicht nach ihrer jeweiligen Schulstufe ein, sondern nach ihren Fähigkeiten. Sie hören sich Kurse an, die ihr Verständnis weit übersteigen, nur um Teil der anwesenden Gesellschaft zu sein. In unserem Fall haben wir ein Kind, das alle Fahrzeuge ausgezeichnet in Schuss hält, eines, das Milch, Eier und Fleisch für das Essen liefert, ein weiteres, das wunder- schöne Kunstwerke herstellt, und eines, das leidenschaftlich gärtnert. Katrina verbringt morgens und nachmittags mehrere Stunden mit ihrer Farmarbeit. Aber sie profitiert auch von ihrer eigenen Arbeit. So führt sie Aufzeichnungen über das Futter, das Heu und andere Käufe für die Farm, um ihren Profit zu berechnen, wenn die Tiere verkauft werden, und um zu berechnen, wie viele Arbeitsstunden und wie viel Geld für diesen Profit auf- gewendet werden mussten. Auch wenn ich keinerlei Interesse an Farmarbeit 151 habe, weiß ich, dass sich dadurch in Katrina eine Fähigkeit entwickelt, die weit über das hinausgeht, was ich sie lehren könnte. Wie viel Gerste frisst ein Schwein pro Woche, bis es reif für den Markt ist? Welche Tiere erzielen den schnellsten Umsatzerlös? Welche Art von Arbeitsstunden benötigt man, um eine Farm zu betreiben? Während ich keine dieser Fragen beantworten könnte, ist Katrina sehr wohl dazu imstande. Und für ein elfjähriges Mädchen erscheint mir dies doch eine beachtliche Leistung zu sein. Wie die anderen Kinder hat sie ein Lesepensum von zweihundert Seiten pro Woche, und zusätzlich eine schriftliche Arbeit pro Tag. Üblicherweise liefert sie Arbeiten ab, die sich mit ihren aktuellen Projekten befassen. Nur selten erhalte ich von den Kindern nicht jene Ausführungsqualität, die ich von Erwachsenen bekäme. Zurzeit trennen wir vom Keller einen Raum ab, bei dem sämtliche Wände von den Kindern errichtet werden. John besitzt bereits im Alter von sieben Jahren eigenes Werkzeug, zu dem auch eine Motorsäge und eine Bohrmaschine gehören. Wirklich erstaun- lich. Er baut hübsche Miniaturholzhütten und wird bei dem Bauprojekt für das Messen und Schneiden der Platten zuständig sein. Er denkt auch daran, sein eigenes Zimmer mit Holzpanelen auszukleiden. Seit der Kindergartenzeit repariert Kevin alle größeren Geräte. Vor kurzem rief ich einen Techniker, um den Motor meines Heizofens zu repa- rieren, der durchgebrannt war, wie sich herausstellte, und ersetzt werden musste. Die erste Frage dieses Technikers, der seit Jahren nicht mehr hier gewesen war, lautete: »Warum kann Kevin das nicht reparieren?« Als er das Problem entdeckte, wusste er, dass der Motor nicht mehr repariert | werden konnte und fuhr los, um einen anderen zu holen. Allerdings brachte er den ausgebrannten Motor wieder mit, weil er glaubte, dass Kevin Teile davon noch gebrauchen konnte. Oft werde ich gefragt, wie ich es zulassen kann, dass die Kinder Dinge tun, die normalerweise nur Erwachsene oder gar Fachleute tun. Nun, ich beobachte die Kinder sorgfaltig und erwarte nie, dass sie eine Aufgabe erfüllen, die ihre Kräfte übersteigen. Außerdem experimentiere ich stan- dig, und wenn ich naturliche Fahigkeiten entdecke, erlaube ich meinen Kin- dern, auf ungefahrliche und kostengünstige Weise ihre Flügel zu erproben. Wenn ein Kind in einem bestimmten Bereich ein Talent zeigt, wie etwa bei Klempnerarbeiten, lasse ich es einen lecken Siphon auseinandernehmen und abgedichtet wieder zusammenzusetzen. Als nachstes kommen Arma- turen dran oder die Installation einer Toilette. Darauf folgt vielleicht die Installation einer Duschkabine, und schließlich ist das Kind bereit, die Installationen fur ein vollständiges Bad zu machen. Ich hatte keine Beden- 152 ken, meinen Dreizehnjährigen die Installationen des gesamten Hauses machen zu lassen. Immerhin hat er die gesamte Wechselstromverkabelung gelegt, als er erst acht war. Unsere Tochter Cathy baut nun ihr eigenes Heim um (sie ist neunzehn) und hat ebenfalls sämtliche Installations-, Putz-, Tapezier- und Tischlerarbeiten selbst ausgeführt. Auf diese Weise hat sie sich sogar einen Teil ihres Ausbildungsgeldes für das College verdient. Sie arbeitete als Tischlerin in einem Betrieb unter lauter Männern! Der Umgang mit Geld zählt zu den nützlichsten Fähigkeiten in der realen Welt und wird dennoch von vielen Kindern ferngehalten. Lou- ise Andrieshyn schrieb uns aus Manitoba über ihre Kinder und deren Umgang mit Geld: Heidi und Michael haben sich vor kurzem von ihrem eigenen Geld Ponys gekauft. Es wird Sie freuen zu hören, dass Heidi (10) selbst einen Scheck für ihr Pony ausgestellt hat. Ich weiß nicht, wie es in anderen Banken gehandhabt wird, aber in unserer Genossenschaftsbank kann jedes Kind ein eigenes, vollberech- tigtes Konto führen ... Da wir auf dem Land leben, bestellen wir doch Eini- ges bei Versandhäusern, und Heidis Schecks wurden noch nie reklamiert. Vermutlich wissen die Empfänger dieser Schecks nicht, wie alt sie ist! Wahrscheinlich würden sie nicht im Traum daran denken, den Scheck einer Zehnjährigen zu akzeptieren! ... Da Heidi ein vollberechtigtes und kein »treuhänderisches« Konto besitzt, dürfen wir als Eltern ihr Geld nicht anrühren. Das haben wir auf die harte Tour erfahren. Denn als wir bei der Genossenschaftsbank Geld von ihrem Konto abheben wollten, wurde es uns verweigert. Man zog ihre Karteikarte hervor, zeigten uns ihre Unterschrift und sagte uns, dass nur sie imstande sei, über das Geld auf ihrem Konto zu verfügen. Diese Unterschrift hatte sie im Alter von fünf Jahren geleistet! Ich erinnere mich noch, dass ich ihr bewusst »erlaubt« hatte zu unterschreiben, weil ich herablassend dachte, welch »nette« Erfahrung das doch für sie sei. Ich wusste jedoch nicht, dass ich ihr damit absolute finanzielle Unabhängigkeit gewährte. Ein weiterer Brief zeigt, dass Kinder schon sehr früh ein Gefühl für den Wert des Geldes entwickeln können: Ich dachte, ich sollte Ihnen von Marias Eintritt in die »Volljährigkeit« als Konsumentin erzählen. Maria wurde kürzlich drei Jahre alt. Zu diesem Anlass bekam sie von einem ihrer Freunde (einem 92-jährigen Mann) einen Dollar in einer Geburtstagskarte. Als er ihr letztes Jahr einen Dollar 153 schickte, nahm ich ihn heraus, ohne ihn ihr überhaupt zu zeigen und kaufte ihr dafür ein paar Luftballons. Dieses Jahr öffnete sie ihre Post selbst, erkannte augenblicklich, dass Geld darin war, und dass dies ein Geschenk für sie war. Sie war sehr erfreut darüber und steckte das Geld gleich in ihre Geldbörse, die sie bis dahin nur dazu verwendet hatte, »erwachsen« zu spielen, und die nur einige kleine Münzen enthielt. Sie diskutierte über den Dollar, und dass sie sich damit etwas kaufen könnte - was auch immer sie wollte. Als sie am nächsten Tag in einer weiteren Karte einen Fünfdollarschein bekam, war das wieder sehr aufregend. Wir sprachen über den Wertun- terschied zwischen dem Eindollarschein und dem Fünfdollarschein, nah- men dabei unsere Finger zu Hilfe, und ich dachte: »Das läuft ja wunderbar!« Als sie am Tag danach in einer Karte einen Scheck über zehn Dollar bekam, dachte ich: »Allmählich geht diese Lernerfahrung aber zu weit.« Ich hoffte, dass sie nicht erkennen würde, was ein Scheck ist, damit ich ihn verschwinden lassen könnte, aber dafür war sie zu clever. »Noch mehr Geld!«, rief sie aus. So erklärten wir ihr, was ein Scheck ist, und tauschten ihn gegen zwei Fünfdollarscheine. Maria hatte den Ein- und Fünfdollar- schein schon eingehend studiert und wies nun darauf hin, dass verschie- dene Männer darauf abgebildet waren, deren Namen sie gerne wüsste (sie legt großen Wert darauf, dass alles einen »Namen« hat). Dann fragte mich Maria, was sie mit all ihren »Geldern« kaufen könne. Ich schlug ihr vor, einen Blick in den Spielwarenkatalog zu werfen. Als sie sich für einen Baukasten begeisterte, sagte ich ihr, dass sie sich bei unse- rem nächsten Stadtbesuch nach solch einem Baukasten umsehen könne. Sobald ihr Daddy das nächste Mal mit Maria in die Stadt fuhr, schnappte sie ihre Geldbörse, um sich selbst ein Geschenk zu kaufen. Als sie ihren Baukasten fand und damit zur Kasse ging, um ihn zu bezahlen - dies war ihr erster Kauf - sagte ihr Daddy, sie solle der Frau einen Lincoln geben und bekäme als Wechselgeld zwei Washington. Verdammt, sie gab ihr einen Jefferson! Maria nahm es locker. Vielleicht hätten wir es dabei bewenden lassen sollen, aber zu Hause wechselte ihr Daddy den Schein gegen zwei Washington und prüfte dann noch einmal nach. Nachdem sie ein paar Tage mit dem Baukasten gespielt hatte, beklagte sie sich enttäuscht, dass sie damit kein Haus bauen könne. Wieder sah sie in Katalogen nach und entdeckte ein Lincoln-Blöcke-Set. Beim nächsten Einkaufsbummel in der Stadt erwarb sie eines - für einen Lincoln und drei Washingtons. Wir wiesen sie darauf hin, dass sie eine Menge Geld aus- gegeben hatte und ihr nicht mehr viel geblieben war. Ich habe den Ein- 154 druck, dass sie ein ausgewogenes Gefühl für Geld und seinen Wert hat, und mache mir deshalb keine Sorgen, dass sie den Rest hortet oder unbe- sonnen ausgibt. Bei all der Beschäftigung mit Bargeld verlor Maria nie die Tatsache aus den Augen, dass ihr das Geld als Geschenk von Menschen geschickt worden war, die sie mochten. So machten wir von Maria Fotos, auf denen sie mit ihren Geschenken und einem breiten Lächeln posierte, und ver- schickten sie mit einer Dankeskarte. SPRACHE UND REDEWEISE IM WIRKLICHEN LEBEN Der wohl wichtigste Unterschied zwischen dem Lernen im wirklichen Leben und dem Lernen in einer Schule liegt in der Sprache und Rede- weise. Ivan Illich schreibt darüber in seinem Buch Shadow Work (Schattenarbeit). Wir wissen, dass Sprache in den meisten Kulturen ein Ergebnis von Gesprächen ist, die im Alltagsleben geführt werden. Davon, dass man Aus- einandersetzungen und Wiegenliedern ebenso zuhört wie Geschichten und Träumen. Tag für Tag entwickelt in den armen Ländern die Mehrheit der Einwohner ihre Sprachfähigkeiten ohne bezahlten Lehrer und ohne, dass irgendjemand versucht, ihnen richtiges Sprechen beizubringen. Illich weist ferner darauf hin, dass auf der ganzen Welt viele arme Menschen in nichtindustrialisierten Ländern mehr als nur eine Spra- che sprechen (so kennt er zum Beispiel einen Goldschmied in Tim- buktu, der sechs Sprachen spricht), während in Ländern bzw. Staa- ten, in denen es seit mehreren Generationen Pflichtschulen gibt, der Großteil der Bevölkerung nur eine Sprache spricht. Denn in diesen angeblich fortschrittlichen Ländern erlernen die Menschen ihre Spra- che nicht mehr im Alltagsleben, sondern von professionellen Sprach- lehrern, die dafür ausgebildet und bezahlt werden, einen von ande- ren aufbereiteten Lehrstoff wiederzugeben. Heute wird viel darüber geredet, wie schlecht sich Kinder ausdrücken können. Dass der Groß- teil ihres Spracherwerbs aus dem Fernsehen oder der Schule stammt und somit keine lebendige Sprache ist, sondern eine vorgefertigte Konservensprache, halte ich für eine der Hauptursachen dieser Ent- wicklung. Kinder hören nicht mehr viele echte Stimmen. Dabei sind es gerade diese, die in uns den Wunsch wecken, selbst zu sprechen. 155 Als meine Schwester und ich etwa vier oder fünf Jahre alt waren, besuchten wir unsere Großeltern. In ihrem Haus gab es im ersten Stock einen Treppenabsatz, durch dessen Geländer man über die Stiege direkt in das Zimmer sehen konnte, in dem die Erwachsenen nach dem Abendessen saßen und sich unterhielten. Nach dem Gute- Nacht-Sagen schlichen wir uns wieder aus den Betten, kauerten uns hinter das Geländer und hörten den Stimmen der Erwachsenen zu. Auch wenn wir nicht verstehen konnten, was gesprochen wurde, zogen uns diese Stimmen magisch an. Meist huschten wir nach einer Weile wieder zurück ins Bett. Aber eines Nachts schliefen wir am Geländer ein, wo uns die Erwachsenen fanden, als sie selbst zu Bett gingen. Ich erinnere mich nicht mehr, ob wir dafür gescholten oder bestraft wurden, oder ob die Erwachsenen gar nichts sagten. Seit damals habe ich in vielen anderen Familien beobachtet, dass es schwer ist, kleine Kinder ins Bett zu kriegen, wenn Erwach- sene in nicht allzu großer Entfernung ein angeregtes Gespräch führen. Die Kinder werden hundert verschiedene Vorwände finden, um nochmals zu kommen und herauszufinden, worüber die Erwach- senen sprechen. Einige könnten sagen, das mag nur auf einige privilegierte Fami- lien mit sprachgewandten Besuchern zutreffen. Aber was ist mit den Durchschnittsfamilien? Die Antwort lautet: Zunächst einmal sind alle Menschen interessant. Wie Studs Terkel und Robert Coles in ihren (sehr unterschiedlichen) Büchern aufgezeigt haben, hat jeder viele gute Geschichten zu erzählen. Solange echte Menschen sprechen und nicht bloß Fernsehstimmen, werden Kinder den Wunsch haben, diese lebendigen Stimmen zu hören, die dazugehörigen Personen zu sehen, und viel von ihnen lernen. Ich traf Ivan Illich das erste Mal Mitte der 90er Jahre und hatte das große Glick, seitdem immer wieder Zeit in seiner Gesellschaft zu ver- bringen. Mehr als einmal hörte ich, wie Ivan sagte, wie viel er als kleiner Junge gelernt habe, indem er einfach unter dem Tisch seines Grof$vaters in dessen Haus in Wien gesessen und den Gesprächen gelauscht habe. Ein derartiges informelles Lernen lässt sich nicht messen. Aber wie diese Geschichten zeigen, lernen Menschen viele wichtige Dinge in und über diese Welt, die sich grundlegend von dem unterscheiden, was sie in einer konventionellen Schulklasse lernen können. 156 6 Lebens- und Arbeitsraume SCHULE ODER CLUB? Einem Elternteil, der sich einer Schulgrundungsinitiative ange- schlossen hatte und mir davon berichtete, schrieb ich: Danke für die Neuigkeiten aus eurer Schule. Nun ein Rat, der von Herzen kommt. Ihr müsst den Eltern, die ihre Kinder in eure Schule schicken, ver- ständlich machen, dass es ihre Verantwortung ist, den Kindern das bei- zubringen - und zwar in ihrem Zuhause, auf jeden Fall jedoch außerhalb der Schule - was sie für unbedingt notwendig, grundlegend etc. halten. Die Schule muss ein Ort sein, an dem Menschen zusammenkommen, um gemeinsam die Dinge zu tun, die sie am meisten interessieren und begeis- tern. Ansonsten werdet ihr hin und hergerissen von Auseinandersetzungen darüber, ob die Schule nun Lesen oder Arithmetik unterrichten soll, eine oder vier Wochenstunden dafür anbieten soll oder was auch immer. Glaubt mir, ich spreche aus der bitteren Erfahrung vieler anderer vor euch. Diesen Ratschlag lege ich jeder Unschooling-Gruppe ans Herz, die eine Schule errichten will, um dem Pflichtschulgesetz genüge zu tun und ihren Kindern einen Versammlungsort bieten will, wo sie auch andere Kinder treffen, oder aus welchem Grund auch immer. Selbst- verständlich muss es Regeln geben, die festlegen, dass sich alle fair verhalten müssen und andere nicht beeinträchtigen dürfen. Jede menschliche Gesellschaft besitzt derartige Regeln, und Kinder erwar- ten und verstehen sie auch. Aber die Schule darf nicht den Versuch unternehmen, zum Lernen zu zwingen. Sobald sie dies tut, wird sich 157 eine endlose und heftige Diskussion darüber entfachen, welchen Lehrstoff man den Kindern aufzwingen soll. Das geschieht auch in kleinen alternativen Schulen immer wieder. Nancy Plant, eine Mutter aus New Jersey, schrieb dazu: Ich wollte noch etwas über die anderen Mütter sagen, die ich treffe. Nie- mand von uns kümmert sich um soziale Angepasstheit; wir alle wissen, dass sich Kids auch mit Freunden jeden Alters und ihren eigenen Interes- sen beschäftigen können. Dennoch hat jede von uns das Gefühl, dass unsere Kinder mehr Kinder benötigen. Sie fühlen sich »anders« und aus- geschlossen, egal wie ihre Situation wirklich aussieht. E. beginnt oft einen Sonnentag mit dem Ausruf: »Junge, was für ein großartiger Tag zum Fahr- rad fahren. Ich rufe gleich Tommy an und ... ach, er ist ja in der Schule.« Vielleicht ist dies nicht schlimm, aber es kommt bei all unseren Kindern häufig vor, und wir machen uns Sorgen darüber. Aus diesem Grund enden alle Gespräche immer in einem »vielleicht sollten wir eine Art von Schule gründen«. Auch wenn wir wissen, dass es derzeit auf diese Frage keine Antwort gibt, diskutieren wir immer wieder sehnsuchtsvoll darüber. Eine Antwort sehe ich erst, wenn wir mehr Men- schen finden, die mitmachen, wenn wir mehr Menschen davon überzeu- gen können. Dafür setze ich mich mit aller Kraft ein. Es wäre großartig, wenn es in jeder Gemeinschaft mehr Orte für Kin- der gäbe - und selbstverständlich auch für Menschen aller anderen Altersstufen - um zusammenzukommen und gemeinsam etwas zu unternehmen. In den ersten Kapiteln meines Buches /nstead of Edu- cation spreche ich darüber, wie derartige Orte aussehen könnten. In den späten 30er Jahren existierte in einem Stadtteil von London ein bemerkenswerter Ort namens Peckham Family Center. (Später wurde versucht, ein ähnliches Zentrum in Schottland zu gründen.) In gewisser Weise bieten die Country Clubs der Reichen ein bes- seres Modell als Schule für das, was wir uns wünschen. Wenn man sich den 18-Loch-Golfplatz, die aufwändigen Tennisplätze, andere Einrichtungen und das palastartige Clubhaus wegdenkt, bleibt eine Anlage übrig, die unseren Vorstellungen sehr nahe kommt. Man muss nicht Golf spielen, nur weil man in den Golfclub geht. Man muss über- haupt nichts tun. Die Anlage bietet viele Wahlmöglichkeiten. Man kann aber auch den ganzen Tag über in einem Sessel sitzen und den Himmel betrachten. Warum versuchen wir es nicht mit einer kosten- günstigen Version dieses Modells? Ein Country Club ohne Land - 158 oder vielleicht mit einer anderen Art von Land, wie etwa einer klei- nen Wiese, einem Wäldchen oder was sonst passend erscheint. Wenn wir uns am Modell eines Familienclubs orientieren, tref- fen wir vermutlich sinnvollere Entscheidungen. Vor etlichen Jahren entschloss sich meine gute Freundin Peggy Hughes, die damals in Dänemark lebte, einen Film über die Ny Lille Skole (die Neue Kleine Schule) zu drehen, jene kleine »Schule«, in der sie arbeitete und die ich in /nstead of Education beschrieb. Sie hatte einige Schwarzweißaufnahmen gemacht, aber noch nie zuvor eine Filmkamera besessen, geschweige denn einen Tonfilm gedreht. Nur gelegentlich unterstützt durch die Ratschläge erfahrenerer Filmemacher drehte sie ganz allein einen etwa fünfundvierzig- minutigen Film mit dem Titel »Wir müssen es Schule nennen«. Ich bin sicher nicht ganz unbefangen, denn wir sind alte Freunde, ich liebte die Schule und die Menschen darin, und für einen Teil des Films fungierte ich als ihr Tontechniker. Dennoch halte ich den Film für das lebendigste, berührendste und wahrheitsgetreueste Film- porträt von Kindern, das ich je gesehen habe. Jeder, der Kinder mag, ihre Gesellschaft genießt und sie respektiert, wird gewiss begeistert sein und kann viel davon lernen. Warum sollten Unschooler einen Film über eine Schule sehen wol- len? Die Antwort liegt im Titel. Zu Beginn des Films gibt es eine Auf- nahme, in der die Kinder am Morgen in der Schule eintreffen. Über den allgemeinen Lärm hinweg hören wir die Stimme eines Lehrers namens Erik, der sagte: »Wir müssen es Schule nennen. Das däni- sche Gesetz fordert, dass Kinder zur Schule gehen müssen, und wenn wir diese Anlage nicht Schule nennen würden, dürften sie nicht hier- her kommen.« Allerdings ist es keine Schule, wie wir diesen Begriff verstehen. Es ist ein Ort, an dem sich sechs bis sieben Erwachsene und etwa achtzig Kinder im Alter zwischen sechs und vierzehn Jahren treffen, um gemeinsam zu leben und etwas zu tun. Die Anlage lässt sich noch am ehesten mit einem Club vergleichen. Die Kinder kom- men, wenn sie Lust dazu haben, und das ist im Winter häufiger als im Frühling, wenn die Sonne scheint. Sobald sie dort sind, plaudern sie über viele Dinge, die sie interessieren, und tun sie auch - manchmal mit den Erwachsenen zusammen und manchmal bleiben sie unter sich. Dabei lernen sie vieles über sich, einander und die Welt. Der Film ist aus vielen Gründen wichtig für Unschooler, von denen ich einen hervorheben will: In unseren Gemeinschaften benötigen wir 159 keine Schulen, sondern viele geschützte, sichere, interessante Orte, wo Kinder zusammenkommen, sich treffen, Freundschaften schlie- Ben und gemeinsam etwas unternehmen können. Diese Orte könn- ten Bibliotheken für Kinder sein (oder Bibliotheksabteilungen), Kin- dermuseen (ein großartiges gibt es in Boston), Kindertheater (in dem Kinder selbst Theater spielen, anstatt bloß zuzusehen), Kunst- und Handwerkszentren für Kinder (oder für Kinder und Erwachsene gemeinsam) und andere Erlebnisorte. Das Peckham Center war ein solcher Ort. Ein weiterer solcher Ort könnte die Ny Lille Skole sein. Es geht nicht darum, diese Modelle zu kopieren, sondern ihr Wesen zu begreifen. GEWÄCHSHÄUSER Beth Hagins aus Illinois schreibt über einen weiteren Ort, der sich außerordentlich gut für Kinder eignet, da er nicht vorrangig für Kin- der bestimmt ist und in ihm tatsächlich ernsthaft gearbeitet wird. ... Wir arbeiten an einer biologischen Forschungsstätte für Kinder in der Region südlich von Chicago. Dabei handelt es sich um ein großes Solar- gewächshaus, das wir mit anderen in der schwarzen Gemeinde Pembroke in Illinois errichtet haben. Dies ist eine ländliche Gemeinde mit einer ein- kommensschwachen Bevölkerung. Die Lebensqualität eignet sich jedoch hervorragend, um ohne Schule aufzuwachsen. Ich weiß nicht, wie ich den Ort beschreiben soll. Ich »lerne« dort nun schon seit vier Jahren, wobei ich größtenteils von älteren Menschen unter- richtet werde. Sie haben mir beigebracht, wie man Pflanzen zieht, Kompost macht, Lebensmittel konserviert, Tiere schlachtet und im Team zusam- menarbeitet. Ich habe noch nirgendwo lieber gelernt. Es hat mir sogar geholfen, meiner formellen Ausbildung eine Perspektive zu geben ... (vom Kindergarten bis zum Doktortitel). Der Leiter des Gewachshauses ist ein 67-jahriger Mann, der schon sein ganzes Leben Pflanzen zieht und verkauft. Unsere Experimente sind wirtschaftlicher und biologischer Natur. Wir züchten Legehennen, bekom- men Eier, sammeln Huhnermist, züchten Würmer, dungen Jungpflanzen und beobachten, wie unsere Huhner und Pflanzen im Sonnenlicht gut gedeihen. Wir hatten auch gerne Kinder bei uns. Derzeit arbeiten schon einige Kinder aus der Nachbarschaft aktiv mit, aber es ware noch aufre- gender, wenn auch Freunde von außerhalb kamen, um zu lernen. 160 ... Es ist wirklich seltsam. Wenn ich an die Schule zurückdenke, so hat mich vor allem geformt, dass man für Einser belohnt wurde. Abgesehen von einem Zweier im zweiten Collegejahr in Soziologie habe ich meiner Erinnerung nach bis zur vierten Ausbildungsstufe ausschließlich Einser bekommen. Ich erkannte, dass ich in allem eine Eins bekommen konnte, obwohl ich bis heute im Denken nicht sehr schnell bin. Ich vermute, die Ein- ser öffneten mir sämtliche Türen und verschafften mir Zugang zu aufre- genderen Lernsituationen, wie etwa dem regionalen Orchester, nationa- len Diskussionsforen und anderen »größeren« Erfahrungen, die stimulie- rend und beeindruckend sein können, sofern sie nicht als einschüchternd erlebt werden. Ich kenne mich mit der Entschulungsbewegung zu wenig aus, um zu wissen, ob eine größere Einbeziehung von Kindern möglich ist. Wir hoffen, dass uns mit den Gewächshausexperimenten etwas Derartiges gelingt. Auf jeden Fall wollen wir die Kinder mit einigen schulgebundenen Experi- mentatoren, die dennoch nach den Werten der Entschulungsbewegung arbeiten, in Kontakt bringen. Viele Solarforschungseinrichtungen werden von wundervollen Wissenschaftlern und Forschern organisiert und betrie- ben, die gerne auch außerhalb eines formellen Schulunterrichts in begrenz- tem Umfang mit Kindern zusammenarbeiten wollen. UNBEGRENZTER RAUM Harold Dunn aus Oregon schreibt über die Gefahren, jeden Ort, an dem sich Kinder treffen, als »Schule« zu bezeichnet, und über seine Reisen mit Kindern durch Mexiko: Mein Hauptinteresse ist die Errichtung von nichtschulischen Alternativen für Kinder. Vor zwei Jahren, als ich immer noch glaubte, Freie Schulen wären die richtige Antwort, gründete ich eine Minischule mit fünf Kindern und zwei Erwachsenen, die mit uns in meinem umgebauten Schulbus wohnten, der neben einem kleinen See in den Wäldern Oregons stand. Es gab kein Schulgeld, keinen Unterricht - nur einen Lehrplan, bei dem es ums Überleben ging, denn für den Lebensunterhalt von uns acht Personen standen uns weniger als 100 Dollar zur Verfügung. Zwei Jungen im Alter von 14 und 15 Jahren hatten den Großteil des Sommers bei mir verbracht, stets beschäftigt und kreativ in ihrem Spiel. Da sie sich davor fürchteten, im Herbst in die öffentliche Schule zurückkehren zu müssen, bezeichneten wir uns als Schule und machten weiter, wie wir es 161 den Sommer über getan hatten. Aber es funktionierte nicht. Sie langweilten sich, wurden unruhig und beschwerten sich darüber, nichts zu lernen. Erst nach einer ganzen Weile begriff ich, dass sie jetzt, wo sie wieder in der »Schule« waren, erwarteten, dass jemand etwas mit ihnen tut. Den ganzen Sommer über hatten sie neue Reiche erkundet und ihre Grenzen ohne jegliche Anleitung durch Erwachsene erweitert. Doch das zählte nicht mehr. Jetzt forderten sie, dass man ihnen sagte, was sie tun sollten. Irgend- jemand sollte ihnen etwas beibringen, ansonsten war es keine echte Schule und hatte keinen Wert. Erst dadurch begriff ich, wie viel wir für diese beiden Jungen zerstört hatten, indem wir uns selbst als Schule bezeichneten ... Die anderen Kinder in unserer Schule waren 5, 10 und 12 Jahre alt. Sie waren noch nie zur Schule gegangen und hatten daher auch keine vor- gefasste Erwartungshaltung. Es war ein wahres Vergnügen zu beobachten, wie sie die Welt und sich selbst erforschten. Ihr größter Schatz war mein Bibliotheksausweis, der es ihnen erlaubte, täglich mehrere hundert Seiten zu lesen. Obwohl sie von Büchern anscheinend nie genug bekommen konn- ten, hatten sie immer noch Energie, um zu kochen, zu backen, Holz zu hacken, das Geschirr zu waschen und unsere Behausung aufzuräumen. Die beiden ältesten Mädchen übernahmen mehr als nur ihren Anteil der Arbeit - weil sie es wollten. Sie waren lebhaft, eifrig und unglaublich erfin- dungsreich. Ihnen schien die gesamte Welt offen zu stehen, weil ihnen nie- mand eingeredet hatte, dass es Dinge gab, die sie nicht schaffen würden. Innerhalb eines Monats wandelte sich Mia (12) von einer Nicht- schwimmerin in das erste Kind, das den »Mountain-Man-Test« bestand, einen Wettkampf, den ich für eine Gruppe von Jungen ins Leben gerufen hatte, die sich den ganzen Sommer über am See herumgetrieben hatten. Um den Test zu bestehen, musste man zuerst um Mitternacht allein in die Mitte des Sees schwimmen (etwa 100 Meter), dort auf den Grund hinab- tauchen (4 Meter tief) und als Beweis Schlamm vom Grund mitbringen. Mehrere Jungen hatten es versucht, aber alle hatten gekniffen, sogar jene, die wesentlich besser schwimmen konnten als Mia. Aber sie blieb dabei und arbeitete hart daran, ihre Ängste zu überwinden. (Nachts ist es in der Tiefe des Sees dunkel.) In der Nacht, in der sie den Test bestand, verkün- dete sie, dass sie als bisher einziges Mitglied des Mountain-Man-Clubs hiermit den Namen des Clubs in Mountaineers umändere! Der unglaubliche Kontrast zwischen diesen Mädchen, die über keine früheren Schulerfahrungen verfügten und auch noch nie in eine freie Schule gegangen waren, und den beiden Jungen, die durch die Jahre in der offent- 162 lichen Schule konditioniert waren, war mir eine wichtige Lehre. Viele Jahre hatte ich davon geträumt, eine neue Art freier Schule zu gründen, die aus- schließlich von den Kindern selbst geleitet, statt von Eltern oder Lehrern kontrolliert werden sollte, wie dies üblicherweise der Fall war. Schließlich war mein Traum Wirklichkeit geworden, nur um mir die Absurdität dieser Idee vor Augen zu führen. Kinder, die tatsächlich jegliche Freiheit besäßen, um ihre eigene Schule ganz nach ihren Wünschen zu führen, würden augen- blicklich Dauerferien erklären, was das Ende der Schule wäre. Möglicher- weise würden sie sich genauso treffen wie zuvor und auch dieselben Dinge tun, aber sie würden es nicht Schule nennen - außer du zwingst sie dazu, und damit würdest wieder du die Sache in die Hand nehmen. Somit wäre es vorbei mit der Freiheit, selbst wenn du es »zu ihrem Besten« tust, wie ich es getan habe, um sie vor der öffentlichen Schule zu bewahren. DIE FARM ALS RAUM FÜR KINDER Jerry Howard berichtet in einem Artikel für die Zeitschrift Horticulture über einen Landwirtschaftsbetrieb in einem reichen Bostoner Vorort: Der Harvard-Absolvent Bill McElwain, der Französisch unterrichtet, einen Waschsalon betrieben hatte und als Farmer enttäuscht worden war, sie- delte in die florierende Stadt Weston in Massachusetts über. Auf seinem Weg von und zur Arbeit in Boston (wo er in South End Häuser sanierte) sah er inmitten der Vororte große fruchtbare Brachflächen. Er sah auch Teenager aus den Vororten, die kaum Alternativen hatten zu Fußball, Tennis, Theaterspiel und Langeweile, und er sah arme Stadt- bewohner, die in Roxbury wesentlich mehr für Lebensmittel bezahlten als er in Weston. (Bill verglich die Kosten für fünf identische Produkte in bei- den Regionen und errechnete eine Differenz von dreizehn Prozent.) Im April 1970 machte sich Bill mit geliehenem Handwerkszeug, geschenktem Saatgut und Düngemitteln ans Werk. Mit einer Handvoll engagierter Helfer kultivierte er fast einen halben Hektar Land. Die Ernte wurde nach Roxbury gefahren und kostenlos einem Ernährungsprogramm für Kinder und einem Sozialbauprojekt zur Verfügung gestellt. Dort sam- melten die Bewohner Spenden, die wiederum in die Farm zurückflossen. Innerhalb eines Jahres wurde Bill zum Projektleiter der neuen Weston Youth Commission bestellt. 1972 überredete er die Stadt, die Ackerfläche zu kaufen. Er stellte eine kleine, aber engagierte Helfertruppe zusammen, zu der auch einige ehrenamtlichen Kommunalpolitiker gehörten, um zu 163 garantieren, dass sie auch weiterhin öffentliche Unterstützung erhielten. Als immer mehr Kinder auf der Farm arbeiteten und der Gemüseertrag wuchs (mittlerweile wurde es für einen Dollar Aufwandsentschädigung pro Kiste in Boston verkauft), bezahlte er den Arbeitern einen Mindestlohn. Als auch die Stadt mehr Geld und Ausrüstung in das Projekt steckte, pro- duzierte die Farm 1975 bereits 100 Tonnen Gemüse pro Jahr. Etwa 25 Prozent davon wurden in der Region verkauft, der Rest ging nach Boston. Als die Stadt die Farm kaufte, war Bill McElwain fünfzig Jahre alt. Trotz seiner unbekümmerten Art, mit Steuererklärungen umzugehen, ist er immer noch Projektleiter der Youth Commission und schreibt nach wie vor eine Kolumne für den Weston Town Crier, wo er Dutzende weitere Akti- vitäten für Jugendliche vorschlägt. So zählte Bill einmal im Herbst 600 Ahornbäume entlang der Straßen von Weston. Eineinhalb Jahre später baute er mit einigen Helfern ein »Zuckerhaus« in der Nähe der Junior High School (dafür verwendete er Kie- ferbretter, die aus den Bäumen der Region gesägt waren). Dann erbettelte er Eimer, Zapfhähne und die Verdampfungsanlage und produzierte 950 Liter besten Ahornsirup. Er rief Projekte ins Leben, um Apfelwein zu pres- sen, Obstgärten zu rekultivieren, Brennholz zu schneiden, Kisten herzu- stellen, eine kleine Sternwarte zu bauen und einen Alternativkurs an der High School anzubieten, mit regelmäßigen Exkursionen in die urwüchsige Umgebung von Boston und das ländliche New Hampshire. Praktisch alle seine großen und kleinen Pläne funktionieren nach dem- selben Prinzip: Sie bieten jungen Menschen bezahlte Jobs, in denen sie etwas lernen, sozial nützlich sind und Spaß haben; sie arbeiten in kleinem Rahmen, benötigen wenig Kapital und nutzen bislang brach liegende Res- sourcen. Außerdem bringen sie viele unterschiedliche Menschen zusam- men, um in freundlicher Atmosphäre gemeinsam Probleme zu lösen. Die Gemeinschaft zu festigen zählt zu Bills wichtigsten Zielen, und er nützt zu diesem Zweck jede Gelegenheit, um die Menschen bei festlichen Anlässen zusammenzubringen, sei es beim Pflanzen, Ernten, dem »Sirupzapfen«, einem Holzschnitzkurs oder der Feier zum 1. Mai. 7 Viele Homeschooling-Eltern versuchen, von Zuhause aus einer selbstständigen Tätigkeit nachzugehen, um Homeschooling und Beruf zu vereinen. Aber dies ist oft anstrengender und mitunter finanziell schwie- riger, als ein Gleichgewicht zwischen einem herkömmlichen Job und Homeschooling zu finden. Insgesamt scheinen Homeschooling-Eltern überdurchschnittlich häufig unternehmerisch aktiv zu sein, und heimi- 164 sche Unternehmen als zweite oder dritte Einkommensquelle kommen ver- mutlich bei Homeschooling-Familien häufiger vor als bei der übrigen Bevölkerung. Ich kenne Informatiker, Biobauern, Orchesterdirigenten und Generalunternehmer, die Mittel und Wege gefunden haben, ihre Arbeits- zeiten so zu organisieren, dass in threm Leben Platz für Homeschooling ist - und viele andere wären dazu ebenfalls imstande. Kinder jeder Alters- stufe können in die Diskussion einbezogen werden, wie sie ihre Zeit ver- bringen wollen. Bieten Sie Ihren Kindern Lehrmittel, Zeitpläne und Ideen an, um das zu erreichen, was Sie als Erziehungsberechtiger und als Fami- lie wollen, und achten Sie auf die Reaktionen Ihrer Kinder. Ziele und Zeitpläne werden sich im Lauf der Diskussion herauskris- tallisieren, und es wird nicht bei dieser einen Diskussion bleiben. Es wird sich ein fortlaufender Prozess entwickeln, denn vor allem bei jungen Men- schen ändern sich Ziele und Zeitpläne sehr rasch. Betrachten Sie dies als eine der Stärken von Homeschooling: Es bietet Ihnen mehr Zeit für der- artige Gespräche und mehr Zeit, um den Beobachtungen Ihrer Kinder zuzuhören. Lerneinheiten können je nach Notwendigkeit komprimiert oder ausgeweitet werden, die Leistung kann in dynamischen Situationen bewertet werden, und die Familie kann je nach Bedarf eine kleine Pause machen, z.B. für einen Urlaub. Homeschooling-Familien können einem anderen Rhythmus folgen als Familien, die dem Takt der Schule unter- worfen sind (mehr dazu in Kapitel 12). Sobald alle Beteiligten begriffen haben, dass Lernen eine Aktivität ist, die mitunter auch Kurse beinhalten kann, aber keine ausschließliche »Klassenaktivität« sein muss, bieten sich Ihnen unzählige Möglichkeiten, erfolgreich Homeschooling zu betreiben. Im Büro von Holt Associates waren Kinder stets willkommen. Als die einzelnen Mitarbeiter nach Johns Tod allmählich eigene Familien gründeten, wimmelte es in den Büroräumen oft von Kindern. Üblicher- weise arbeiteten wir, während die Kinder spielten. Manchmal fragten sie uns aber auch, ob sie uns helfen könnten, Bücher zu verpacken, das Tele- fon abzunehmen, Briefe in Umschläge zu stecken oder zu stempeln. Dann arbeiteten wir eine Weile Seite an Seite, bis sie sich neuen Aktivitäten oder Gesprächen mit Freunden zuwendeten. Mitunter baten sie aber auch um neue Tätigkeiten, sobald sie eine Aufgabe erfüllt hatten. Hin und wieder spazierten auch einige Kinder in mein Büro und stellten mir Fragen zu meiner Arbeit. Dann wieder spielten sie in meinem Büro Verstecken, während ich so tat, als würde ich sie nicht sehen. Als die Kinder älter wur- den, vor allem im Alter zwischen acht und zwölf Jahren, wünschten sie sich einen eigenen Raum, um zu spielen oder um sich zurückzuziehen. 165 Die jüngeren Kindern dürfen in unserem Lager Fahrrad fahren, die älte- ren in einem abgelegenen Lagerraum ein Clubhaus einrichten. Wer in diesen Tagen in unser Büro kam, fand überall Hinweise auf die Anwesenheit von Kindern. Die Wände waren mit ihren Zeichnungen und Projekten tapeziert, und die Luft war erfüllt von ihrem Stimmengewirr, wenn sie spielten oder sich unterhielten; bei gutem Wetter erschien es uns sinnvoll, einen Kollegen dafür zu bezahlen, dass er mit den Kindern in den nahe gelegenen Park ging, damit wir in Ruhe arbeiten und wichtige Bespre- chungen ohne Unterbrechungen abhalten konnten. Während der Mit- tagspause sahen wir oft eine Mutter, die ihrem auf dem Schoß sitzenden Kind ein Buch vorlas, was wir gerne förderten. Manche Lieferanten, die in unser Büro kamen, fragten oft, ob sie eine Kindertagesstätte belieferten oder ein Büro! Dennoch wurde die gesamte notwendige Arbeit erledigt. Vermutlich war es nicht die effizienteste und kostensparendste Art, um ein Unternehmen zu führen, aber es war wesentlich interessanter als ein typisches Büro, vor allem für jene, die gerne Kinder um sich hatten. Als die Kinder älter wurden, stellten viele Mitarbeiter fest, dass sie in ernste Terminkonflikte kamen, weil sie während der Bürozeiten die älte- ren Kinder zu Kursen und Versammlungen in der ganzen Stadt chauffie- ren mussten. Mitunter wurden Fahrgemeinschaften gebildet, so dass unser Büro oft zur Drehscheibe für Kindertransporte wurde. Manche Teenager stimmten thre Termine mit Erwachsenen, von denen sie etwas lernen woll- ten, mit unseren Bürozeiten ab, was ausgezeichnet funktionierte. Wir hat- ten genug Platz, um derartige Zusammenkünfte zu ermöglichen. Weil es vor allem meine drei Mädchen genossen, mit Make-up zu spielen und sich »fein zu machen«, verfügte unser Büro auch über eine ausreichende Sammlung an Kostümen, Modeschmuck und Accessoires, die in einer alten Spielzeugkiste in der Nähe der Laderampe untergebracht war. Mein Schwiegervater Phil Cranshaw, der für Versand und Posteingang zuständig war, neckte die Mädchen einmal, indem er eine lange Federboa aus der Kiste nahm, sie während des Verpackens der Bestellungen trug und sich weigerte, sie zurückzugeben, weil er »damit so gut aussah«. Den Mädchen gefiel es, »Papa Phil« bei der Arbeit mit der Federboa zu sehen, und wir hörten viel Gelächter. Als der Paketbote an diesem Tag seine Lie- ferung abgab, erblickte er Phil, wie er mit der Federboa um den Hals vor den Mädchen auf und ab stolzierte. Als Phil erklären wollte, was hier vor sich ging, fiel ihm der Bote mit der Bemerkung ins Wort: »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Eigentlich sollte mich nichts mehr über- raschen, wenn ich hierher komme!«6® 166 7 Ernsthaftes Spiel In diesem Kapitel geben uns Eltern Einblick, auf welche Art und Weise Kinder Spiel, Fantasie, Poesie, Gesang, Theaterspiel und Kunst ver- wenden, um die Welt zu erforschen und zu verstehen. Dies ist ein wich- tiger Teil ihres Lebens und ihrer Entwicklung. Einige überzeugende Studien zeigen auf, dass es Kindern, die ihre Fantasie gut ausleben können, leichter fällt, die Welt kennenzulernen und mit ihren Überra- schungen und Enttäuschungen fertig zu werden, was nicht verwun- derlich ist. In der Fantasie können wir Situationen ausprobieren, ohne ein allzu großes Risiko einzugehen. Wir können mit schlechten Erfah- rungen umgehen, indem wir sie im Geist wieder und wieder durch- spielen, bis sie vieles von ihrer verletzenden Wirkung verloren haben und wir einen für uns befriedigenden Ausgang erzielt haben. Für ein gesundes und aktives Fantasieleben benötigen Kinder Zeit, Raum und Privatsphäre oder zumindest die von ihnen selbst gewählte Gesellschaft. Offensichtlich können Schulen oder andere Ort, an denen sich große Gruppen zusammenfinden - z. B. Kinder- tagesstätten, Spielgruppen usw. -, dies nur in sehr begrenztem Maß bieten. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Kinder an derartigen Orten unter der Aufsicht und Kontrolle von Erwachsenen befinden, die - selbst wenn sie den Kindern ein ausgeprägtes Fantasieleben zugestehen - das Gefühl haben, alles beobachten zu müssen, um die Bedeutung zu verstehen und den möglichen Nutzen zu erfassen. Manche Pädagogen glauben, dass wir als Lehrer die Kinder besser verstünden und auf unsere Ziele hinlenken könnten, wenn wir ihrem Fantasieleben nur genügend Aufmerksamkeit widmeten. Das wäre ein großer Fehler und ein großes Unrecht! Stattdessen sollten wir uns damit zufrieden geben, so viel vom Fantasieleben der 167 Kinder mitzubekommen und zu genießen, wie sie uns zeigen wollen. Und wir sollten daran teilnehmen, wenn uns die Kinder darum bit- ten und wenn wir dies gerne und unbefangen tun können. Anson- sten sollten wir sie in Ruhe lassen. Für Kinder ist ihre Fantasie aus vielen Gründen nützlich und wichtig, vor allem aber, weil sie ihnen gehört und damit der einzige Teil ihres Lebens ist, der voll und ganz unter ihrer eigenen Kontrolle steht. Wir müssen der Versuchung widerstehen, sie uns anzueignen. Wir sollten aber auch nicht glauben, dass manche Abschnitte im Leben eines Kindes weniger wichtig sind als andere, in denen es etwas »Ernsthaftes« tut - wie etwas lesen, schreiben, Hausaufgaben erledigen oder etwas, was wir von ihm wollen. Wir dürfen nicht glau- ben, dass wir ihm nur dann Zeit für Fantasie zugestehen dürfen, wenn alle »wichtigen« Aufgaben erfüllt sind, so wie wir ihm eine kleine Leckerei erst nach dem Essen erlauben. Für Kinder sind Spiel und Fantasie die Hauptgänge einer Mahlzeit. Wir sollten Kindern gestat- ten, sich frei damit zu beschäftigen, und nicht nur in der Restzeit, die nach all der »wichtigen« Arbeit übrig bleibt, sondern dann, wenn sie voller Energie und Begeisterung sind. Heute sprechen wir oft von »Qualitätszeit«. Kinder benötigen für ihre Fantasie und ihr Spiel ebenso dringend Qualitätszeit wie für ihre Lese- oder Mathematik- aufgaben. Für sie ist es ebenso wichtig, gut zu spielen, wie gut zu lesen. Wenn wir uns näher mit dem Thema auseinandersetzten, wür- den wir vermutlich feststellen, dass Kinder, die nicht gut spielen, träu- men und fantasieren können, meist auch keine guten Leser sind. FANTASIEWELTEN Eine Mutter schreibt über die Welt, die ihr Sohn erschuf: Aber gleichzeitig sind wir zutiefst zum »Unschooling« bereit. Ich bin abso- lut überzeugt, dass es richtig ist. Mein Problem sind meine Kinder, vor allem mein Ältester (10). Nach fünf Jahren Schulbesuch hat er sich das Leben angenehm und sogar unterhaltsam gestaltet, indem er gemeinsam mit einigen seiner Freunde eine Welt innerhalb der Welt erschaffen hat. Die Schule ist nicht das Problem. Er geht hin, um sich leichter mit zwei oder drei anderen Jungen zum Baseball oder einer anderen Aktivitat treffen zu konnen. In ihrer Welt gibt es eine eigene Gesellschaft von »Flauschball- chen« - das sind flauschige Kreaturen von der Größe eines Tischtennis- 168 balls in unterschiedlichen Farben, die große Füße und winzige Antennen haben. Nahezu ein Jahr lang bevölkerte ihre Stadt unsere sieben mal vier Meter große Veranda (bis die Jungen gezwungen waren, sie abzubauen, weil wir renovierten). Ich habe zwar nicht Das große Buch der Heinzel- männchen gelesen, aber ich bezweifle, dass es eine umfassendere Studie ist als das, was diese Kinder mit ihren Flauschbällchen gemacht haben: Sie haben die einzelnen Charaktere und Gesellschaftsschichten festge- legt, ein Fußballfeld angelegt, Raumfahrzeuge und Andockstationen gebaut, eine Disco, ein Museum, eine Schule, ein Theater, ein eigenes Transportsystem, und das alles mit großer Sorgfalt und Fertigkeit als detail- lierte Miniaturen ausgearbeitet. Diese Flauschbällchen ernähren sich aus- schließlich von Bananen und Bananensaft, sterben bei Kontakt mit Was- ser usw. Als J. mit den Pfadfindern einen Skiausflug machte, begleitete ihn der Flauschbällchen-König Eeker auf Skiern, die er aus Zungenspateln (das sind die kleinen eisstielähnlichen Hölzchen, mit denen der Arzt die Zunge niederhält, um in den Rachen schauen zu können) fabriziert hatte. Die Flauschbällchen gehen in die Schule und verstecken sich bis zur Pause . In den Schreibtischen. Dann kommen sie hervor und übernehmen die Schule, wobei die Jungen mit ihnen und durch sie tun können, was immer sie wollen. Hausaufgaben und Langeweile in der Schule werden gerne in Kauf genommen, nur um Gelegenheit zu haben, mit A. und K. gemeinsam mit den Flauschbällchen zu spielen. Die Lehrerin Candy Mingins schreibt über ein ähnliches Spiel, das »Atlas« genannt wird: Die Familie hatte wenig Geld, dafür aber viel deutsche Sparsamkeit - das heißt, die Kinder wurden nicht mit Plastikspielzeug und anderem Kram überschüttet ... So entwickelten sie ihr eigenes fortwährendes Spiel, das C. mit seinem Bruder und seinen zwei Schwestern (alle älter als er) über einen Zeitraum von mehr als acht Jahren spielte (zum Großteil hatte es sein Bru- der erfunden). Es war ein Spiel um die Welt. Jedes Kind besaß eigene Stämme, die es selbst hergestellt hatte: aus Zahnpastaverschlüssen, die auf Murmeln geklebt waren (die Liliputaner); aus Plastikspielkomponen- ten (die Microscopier); aus aufgebrauchten Leuchtstiften mit Zahnstocher- Schwertern und Alufolienschildern (die Sudanier); aus Speiseölflaschen, die mit Papier dekoriert waren (die Crisconier), usw. Die Stämme schlugen im Garten Schlachten, eroberten Territorien, zeichneten Landkarten und führten Aufzeichnungen, hielten Kunstausstellungen ab, besaßen eine Zei- tung und verfügten über eigene Sprachen und Währungssysteme. 169 Es war ein geniales Spiel, das die Kinder ganz allein erfunden hatten und das sich über einen langen Zeitraum gehalten hatte, wobei im Lauf der Entwicklung der Kinder immer wieder neue Interessen und Ideen ein- flossen. RÄUBER UND GENDARM Eine Mutter schreibt über ein aussterbendes Kinderspiel und ihre eigenen Erinnerungen daran: Niemand hat mir als Kind je verboten, Räuber und Gendarm zu spielen, aber als ich es mit meiner Clique spielte, hatte ich das Problem, dass ich nicht »sterben« konnte. Wenn mich eines der anderen Kinder erschoss, wollte ich zu Boden stürzen und sterben. Aber irgendwie gelang es mir nicht, so dass ich nur regungslos stehen blieb und wie gelähmt vor mich hinstarrte. Und wenn ich ein Kind erschoss, ignorierte es mich einfach, weil es wusste, dass ich es nicht wirklich getötet hatte. Ich war schon erwachsen und hatte selbst Kinder, als diese mir zeig- ten, wie man Räuber und Gendarm spielt. Da erkannte ich, dass ich ein sehr schizoides Kind gewesen war, sehr verspannt, ohne jegliche Sponta- neität und gänzlich vom HIER und JETZT ausgeschlossen. Bei Spielen wie Räuber und Gendarm geht es jedoch darum, dass Kinder sich ganz und gar auf andere Kinder einlassen. Es ist ein schnelles, handlungsstarkes Spiel in der Gegenwart. Nachdem ich nun (über 15 Jahre lang) derartige Spiele beobachtet habe, glaube ich, dass nur sehr unkonventionelle Kinder gut Räuber und Gendarm spielen können, und dass viele derartige Spiele von einem Kind beendet werden, das tatsächlich Gefühle von Gewalt und Grausamkeit in sich trägt und dann einen »Unfall« verursacht, bei dem jemand verletzt wird. Üblicherweise will dieses Kind das Spiel beenden, weil es eifersüchtig ist und nicht an dem Spaß teilhaben kann; nicht weil es von den anderen aus- geschlossen wird, sondern weil es nicht imstande ist, das Spiel zu spielen. Ich glaube nicht, dass Räuber-und-Gendarm-Spiele etwas mit Waffen, Gewalt, Feindschaft oder Grausamkeit zu tun haben; es sind Bewusst- seinsspiele. Andere Gefühle als Freude kommen dem Bewusstsein in die Quere, und du kannst diese Gefühle zum Beispiel durch den Knall der Platzpatronen in der Spielzeugpistole explodieren lassen. Bei Spielen wie Räuber und Gendarm geht es meiner Meinung nach um Folgendes: Ich bin mir deiner zuerst bewusst, ich kann dich daher 170 erschießen, und du musst sterben! Wenn du mich überraschst, WEISS ich, dass du bewusster bist als ich, denn du hast mich überrascht, des- halb muss ich sterben. Ich gebe einfach jegliches Bewusstsein auf (wodurch ich zu Boden stürze), bis ich in mir fühle, dass ich bereit bin, wiedergeboren zu werden - und zwar lebendiger als zuvor. Manchmal erwischen wir einander auch im selben Augenblick, und dann müssen wir die Sache ausfechten - »Peng! Peng! Bumm! Bumm! - Ich habe DICH!« »NEIN, hast du nicht, ich habe dich ZUERST erwischt« - bis wir beide wis- sen, dass einer den anderen besiegt hat. Einer von uns muss sterben und wiedergeboren werden! Wird einer von uns stattdessen WÜTEND - ist das Spiel rasch zu Ende. Oh, ich liebe ein gutes, lautes Rauber-und-Gendarm-Spiel! Ich bin heute ein Fossil von fast vierzig Jahren, das nicht mehr Räuber und Gendarm spielen kann, um seine Seele zu retten, aber zumindest erinnere ich mich noch daran, was ich vor langer Zeit von einigen Kids gelernt habe. Aber ich versuche, dir etwas zu erzählen, das man eigentlich nur selbst erleben kann, was mir wiederum sagt, dass ich eine Närrin bin. Deshalb rate ich dir, ein unkonventionelles Kind zu suchen (vielleicht findest du es schon in deinem eigenen Zuhause) und abzuwarten, was du von ihm ler- nen kannst. Meiner Meinung nach lernt man am meisten, wenn man auf die Stim- mung achtet, in der dein Kind etwas tut - auf die Gefühle, die zum Aus- druck gebracht werden - und durch Materielles hindurch sieht. Immer- hin kann ein Kind Grausamkeit und Feindseligkeit ausdrücken, wenn es den Hund streichelt, und Freude und Vergnügen, wenn es seine Pistole abfeuert. Wenn dein Kind fröhlich ist und sich eine Waffe wünscht, kannst du, wie ich glaube, auf seine Fröhlichkeit vertrauen, denn die Bibel sagt, dass die Dinge dieser Welt vergänglich sind, die Dinge des Geistes aber ewig währen, und ich glaube, dass Kinder in diesem Wissen geboren werden. Und selbst wenn ein Kind seine Spielzeugpistole dazu verwendet, Wut und Feindseligkeit loszuwerden, ohne dass dabei etwas zerstört oder jemand verletzt wird, wo ist das Problem? Mein Mann erzählt, dass er der- artige Gefühle hatte, wenn er als Kind Räuber und Gendarm spielte, während ich diese Gefühle bei unseren Kindern nie bemerkt habe. Für ihn war es tolles Spiel gewesen, weil es ein Ventil sein konnte - er kam aus einem sehr unglücklichen Elternhaus. 171 Theo Giesy, eine Mutter von vier Kindern aus Virginia, erzählt über dieses Spiel: Darrin und Danile wurden von ihrem Freund Kevin mit dem Spiel Räuber und Gendarm bekannt gemacht. Damals waren sie zwei und vier Jahre alt, Kevin war ebenfalls vier. Einer von ihnen stellte sich auf einen klei- nen Grashügel, die anderen schossen auf ihn, und das Opfer starb über- aus dramatisch. Dann kletterte ein Anderer hinauf, um erschossen zu werden und zu sterben. Kevin starb auf dramatischste Weise und war dadurch am unterhaltsamsten. Dies wiederholte sich, sobald wieder eines der Kinder hinaufgeklettert war, und geschah immer in guter Stim- mung, mit viel Spaß und Freundlichkeit. Darrin wollte augenblicklich mehrer Waffen und baute ein umfassendes Arsenal auf. Kurz darauf zogen wir von Kalifornien nach Michigan. Ohne Kevin veränderte sich ihr Spiel. Jetzt spielten Darrin und Danile lieber Familie. Während sie zu Hause blieb und sich um die Babys kümmerte (um ihre und seine Pup- pen), fuhr er mit dem Roller in den Wald, um mit dem Gewehr einen Bären zu jagen, den er zum Essen nach Hause brachte. (Alles war reine Fantasie - niemand in unserem Bekanntenkreis war Jäger.) Darrin war damals zweieinhalb Jahre alt. Wenn Darrin in diesem Alter wütend war, dachte er nie an Waffen. Sein Ausdruck für Wut lautete: »Gleich werfe ich einen Schuh nach dir.« Waffen gehörten in die Welt des Vergnügens und der Fantasie und hatten nichts mit echter Gewalt zu tun. Auch der »Tod« von Kevin, Danile und Darrin hatte nichts damit zu tun, dass jemand verletzt werden sollte. Daran dachte ich oft während des nächsten Jahres, als Darrins bestem Freund verboten wurde, mit Waffen zu spielen und Waffen auch aus dem Kindergarten verbannt wurden. So bauten die Kinder sich welche aus Bau- steinen. Eltern, die Waffen verbieten, verhindern damit weder Gewalt noch das Spiel mit Waffen, und Eltern, die Waffen erlauben, fördern damit nicht die Gewalt. HAUSGEMACHTE GESCHICHTEN Die Mutter eines zweijährigen Jungen erzählte mir, dass sie eine Geschichte erfunden habe, in welcher alle Tiere ihres kleinen Bau- ernhofes und der Junge als Held vorkamen. Er liebte die Geschichte. Später schrieb sie diese nieder und schickte mir eine Kopie mit der Anmerkung: »Möglicherweise finden Sie es ein wenig kitschig, aber 172 ein fünfjähriger Junge hat mich tatsächlich - im Flüsterton - gefragt, Ist das wahr?«« Egal ob Kinder in der Stadt oder auf dem Land aufwachsen, sie interessieren sich meist mehr fur Geschichten, in denen sie selbst eine Rolle spielen und die voll von Dingen aus ihrem Alltagsleben sind. Eltern oder andere Vertrauenspersonen sind geradezu ideal, um solche Geschichten zu erfinden. Selbst wenn die Geschichten nicht besonders ausgefeilt sind, fur kleine Kinder sind sie voraus- sichtlich viel interessanter als Geschichten aus Buchern. A. S. Neill aus Summerhill erfand gerne Geschichten fur die Kin- der der Region, in denen sie die Hauptfiguren darstellten und ver- schiedene Spione, Betruger und Bosewichte jagten oder von diesen gejagt wurden. Und wie viele wissen, ist auch Alice im Wunderland so entstanden. Probieren Sie es einfach aus, und erfinden auch Sie Geschichten fur Ihre Kinder. Wie bei allem werden Sie auch dabei mit der Zeit besser werden. EINE SEHR JUNGE KUNSTLERIN Ein Vater schreibt Uber eine »fruhreife« Künstlerin: Wir haben eine schone Geschichte Uber das Unschooling zu erzahlen. Schon vor Marias Geburt hatten wir beschlossen, sie nicht zur Schule zu schicken. Wir zogen sogar aufs Land, weil wir glaubten, dass es dort ein- facher sei. Mittlerweile habe ich erkannt, dass es mitunter sogar schwie- riger ist. Wir hatten Gluck. Die Lehrerin und die Leitung der örtlichen Schule, in der ich als Hausmeister arbeite, waren sehr tolerant und hilfsbereit. Die Lehrerin ist eine von den guten. Maria geht jede Woche an einem Tag ihrer Wahl zur Schule. Mehr ware ihrer Meinung nach schrecklich. Als Verteidi- gungsargument, fur den Fall, dass man uns doch Schwierigkeiten machen sollte, weil Maria nicht zur Schule geht, wollen wir auf ihre Zweisprachig- keit verweisen, und dass sie zu Hause ihre zweite Sprache lernt. (Es gibt Gesetze, welche die Zweisprachigkeit an kalifornischen Schulen schützen.) Marias Mutter ist Japanerin. Leider schützt das Gesetz heute die zweisprachige Ausbildung in Kalifornien nicht mehr, und auch in anderen Staaten fällt dieser Schutz allmählich weg. Auch wenn viele Eltern eine Lehrmethode nach dem 173 Motto »Alle werden über einen Kamm geschoren« für falsch halten, scheint sich diese Haltung nicht auf den Englischunterricht ausländischer Kinder zu beziehen. Ein rein englischsprachiger Unterricht und eine im Klassenzimmer zugestandene Zweisprachigkeit schließen einander nicht grundsätzlich aus. Wenn die Dinge nicht funktionieren, sollte man sowohl Lehrern als auch Schüler andere Optionen anbieten, statt gesetzlich fest- zulegen, dass nur eine Methode zur Anwendung kommen darf, ¢¢ Maria begann bereits im Alter von sechs Monaten zu zeichnen. Alles, was sie tat, betrachtete sie als wichtiges Kunstwerk. Im Alter von einem Jahr konnte sie besser zeichnen als alle in ihrer Umgebung. Das Wissen, dass sie etwas besser konnte als alle anderen, und sogar besser als die Rie- sen rund um sie herum, verlieh ihren Pinselstrichen zusätzlichen Mut. Auch in anderen Bereichen verlieh es ihr das Selbstvertrauen, schwie- rige Dinge zu versuchen, und so lange zu wiederholen, bis sie diese gut beherrschte. Mit einem Jahr erhielt sie eine Staffelei und Temperafarben. Zum zweiten Geburtstag bekam sie ungiftige Acrylfarben, die sie seitdem vor- zieht. Sie genießt das Malen so sehr, dass sie sich bereits als Künstlerin bezeichnet. Weil wir neugierig wurden, wie es mit anderen kleinen Künstlern stand, sahen wir uns in der Kinderkunstszene von San Francisco um. Zu unserer Überraschung entdeckten wir, dass Maria als Kinderkünstlerin keine Kin- derkunst malte. Ihre Arbeit würde in einer Kinderkunstausstellung voll- kommen fehl am Platz sein. Vor allem, seit sie mit Acrylfarben malt, denn offenbar geht man allgemein davon aus, dass Kinderkunst mit Wasser- farben gemalt wird. Aus offensichtlichen Gründen sind Acrylfarben leich- ter zu verarbeiten als Plakafarben oder Tempera, aber sie kosten auch mehr. Ich kenne Leute, die das Fünf- bis Sechsfache von dem verdienen, was ich verdiene, und mir trotzdem sagen, dass sie sich keine Acrylfarben für ihre Kinder leisten können. Das bedeutet nur, dass sie glauben, dass Kinder nichts zustande bringen, was so viel wert ist. Würden wir in diese Richtung weiterforschen und uns auch mit der Überheblichkeit Erwachsener gegenüber Kindern auseinandersetzen, könnten wir vielleicht verstehen, was ich meine, wenn ich sage, dass das, was heute als Kinderkunst bekannt ist, in Wirklichkeit eine Erfindung der Erwachsenen ist ... Man hat mittlerweile erkannt, dass während des Sozialisierungspro- zesses von Kindern ihre ursprüngliche Vorstellungskraft zerstört wird, und 174 dass erwachsene Künstler sie erst wieder zurückgewinnen müssen, um eine ursprüngliche Vision zu erschaffen. Es muss doch möglich sein, dass jemand aufwächst, ohne diese erst zu verlieren. Aber offenbar geschieht dies nur selten. Die einleuchtendste Maßnahme besteht darin, Kinder nicht zur Schule zu schicken und sie vielleicht auch davor zu bewahren, mit falscher Kinderkunst in Kontakt zu kommen. Was mit Maria hätte passie- ren können, wenn wir sie gezwungen hätten, die Schule in vollem Umfang zu besuchen, sieht man an den Bildern, die sie in der Schule zeichnet. Ihre Schulzeichnungen sind steif und uninteressant. Sie sind, wie Kinder- zeichnungen sein sollen: nett und so, dass man sie leicht von oben herab beurteilen kann. Sie schreibt sogar wie alle anderen Kinder ihre Signatur in Blockbuchstaben darauf. Während sie zu Hause alles in Schreibschrift signiert, seit sie mit vier Jahren gelernt hatte, ihren Namen zu schreiben. Heute ist sie sieben. M’s Gespräche darüber, was in ihr vorgeht, wenn sie malt, sind so interessant, dass ich mich entschloss, einige ihrer alten Bilder hervorzu- holen, die sie mit vier Jahren gemalt hat, und mit ihr darüber zu sprechen. Sie hat sich sehr gefreut, ihre Schätze wiederzusehen. Sie wiederholte, was sie damals gesagt hatte, aber kürzer und klarer, und bezeichnet ihre Werke als Gedichte. Während ihres fünften Lebensjahrs begann sie, eigene Gedichte und Geschichten zu schreiben. Eines ihrer älteren Gedichte, das sie mit vier Jahren über eines ihrer Bilder gemacht hatte, beschreibt, was sie sich vorstellte, während sie mit uns fünf Jahre vor ihrer Geburt durch die Welt wanderte: »Als ich noch in Mamas Bauch war, war es sehr dunkel, so dass ich hinaus wollte. Durch eine Geheimtür sah ich durch Mamas Nabel aus ihrem Bauch hinaus. Durch meine Geheimtür sah ich immer, wohin Mama ging. Immer wenn ich hinaussah, kam sie in eine neue Stadt. So sah ich die ganze Welt. Das ist der Ort, an dem ich geboren bin.« Mit seinem Brief schickte mir ihr Vater auch einige Reproduktionen von Marias frühen Werken: Fünf Bilder, die sie im Alter zwischen zwei und drei Jahren gemalt hatte. Sie waren in Japan gedruckt worden, vermutlich von einem Museum anlässlich einer Ausstellung von Kin- derkunst. Das ist nur meine Vermutung, denn sie sehen wie jene Postkarten von Kunstwerken aus, die man in Museen kaufen kann. Die Bilder selbst sind überwältigend. Drei davon würden Ihnen augen- blicklich den Atem rauben, wenn Sie diese in einer Ausstellung für »Erwachsenenkunst« sähen. Die Farben, die Formen, die Komposi- 175 tion, das Design und die den Bildern zugrundeliegenden Gedanken sind außergewöhnlich. Ich glaube gerne, dass Maria ein besonders begabtes Kind ist. Aber ähnliches fühlte ich auch, als ich zum ersten Mal in Japan vier- bis sechsjährige Schüler des Suzuki-Instituts hörte, die schwierige Stücke von Bach, Vivaldi usw. spielten, und dies fehlerfrei und im richtigen Rhythmus. Vielleicht würden auch andere Kinder Werke von ähnlicher Schönheit und Kraft hervorbringen, würde man ihre Talente ernst nehmen und ihnen den erforderlichen Raum gewähren. 176 8 Lernen, ohne unterrichtet zu werden Vieles von dem Material dieses Kapitels hätte ich auch im Kapitel 5 »In der Welt lernen« unterbringen können. Aber ich stelle es hier vor, weil ich das Augenmerk auf einen anderen Aspekt lenken will. In Kapi- tel 5 sprach ich über außerschulisches Lernen von Kindern, hier spre- che ich davon, dass sie lernen, ohne unterrichtet zu werden - lernen durch eigenes Tun, indem sie Fragen stellen, den Dingen auf den Grund gehen und dabei oft Lehreinheiten ablehnen, die ihnen wohl- meinende Erwachsene aufdrängen wollen. Ein Brief von Judy Mc- Cahill aus England beschreibt diese Art von Lernen ausgezeichnet: Am schwierigsten ist es, wenn ich jemandem erklären soll, wie ich meine Kinder unterrichte. Die Probleme entstehen schon beim Grundkonzept. Denn die meisten Menschen können nicht begreifen, dass sich die Kin- der tatsächlich selbst unterrichten. Sowohl vom Zeitaufwand her als auch aufgrund meiner persönlichen Einstellung nach dem Motto »leben und leben lassen« ist es mir schlichtweg unmöglich, ihnen wie auch immer geartete formelle Lektionen zu erteilen. Vor kurzem habe ich mir vorge- nommen, mir selbst in systematischen Lektionen die Grundlagen der Naturwissenschaft beizubringen, um die Kinder besser unterrichten zu können. Aber nach drei Tagen hörte ich damit auf, weil mir immer etwas anderes wichtiger erschien, als zu studieren. Deshalb fahre ich mit meiner bisherigen Art fort und beantworte Fragen, so gut ich kann. Damit helfe ich den Kids, Informationen aufzuspüren, wenn sie dies wollen. Für mich ist es jedoch immer wieder interessant zu sehen, wie schnell sich die Kinder in meine echten Leidenschaften einklinken und zu ler- nen beginnen, ohne dass irgendjemand dies beabsichtigt. Letzten Som- mer besuchte ich die Tate Gallery (ein großes Kunstmuseum in London) mit einem Mädchen, das eben einen einjährigen Kunstkurs abgeschlos- 177 sen hatte. Sie steckte mich mit ihrer Begeisterung an, so dass ich mir noch am selben Tag eine mit einer Diashow ergänzte Lesung anhörte und ungläubig das (kostenfreie!) Angebot an Veranstaltungen der Tate Gallery studierte: Lesungen jeder Art, Filme, Sonderausstellungen und Führungen. Auch wenn ich seitdem nur einmal wieder in der Tate Gallery war, habe ich eine Reihe von Büchern mitgebracht und alle Veranstaltungen ange- kreuzt, die ich besuchen würde, wenn ich könnte. Als letzten Monat unsere 18-jährige Nichte zu Besuch kam, besuchte sie gemeinsam mit Colleen drei oder vier Mal die Tate Gallery. Colleen hatte sich sogar einen Kunst- band aus der Bibliothek ausgeliehen (obwohl sie sich noch nie zuvor für Kunst interessiert hatte). Und auch die Jungen blättern öfter in den Büchern und betrachten die einzelnen Gemälde. Wir führen viele Gespräche, die sich aus dem ergeben, was die Mädchen in der Tate Gal- lery gesehen haben; Colleen macht sich für mich Aufzeichnungen während der Lesungen. Auf diese Weise ist vollkommen zufällig etwas Neues in unser Leben getreten. KEINE KLUGEN RATSCHLÄGE! Wie viele von Ihnen vermutlich wissen, besteht die ursprüngliche Suzuki-Methode für den Geigenunterricht darin, dass die Eltern für ihr Kind Geige spielen, solange es noch ein Baby ist, und ihm zusätzlich Aufnahmen von einfachen Geigenstücken vorspielen, die es im Alter von drei Jahren selbst spielen wird. Mit Kathy Johnson habe ich mich oft (brieflich) über die Suzuki-Methode ausgetauscht. Vor kurzem schrieb sie: Sie haben mich letzten Dezember gefragt, wie meine heimische Version des Suzuki-Geigenunterrichts für meine zweijährige Tochter funktioniert. Damals hatte ich noch nicht die 1/16-Geige gekauft, musste sie aber zu meinem eigenen Schutz für sie besorgen, um ihre Wutanfällen zu verhin- dern, die sie regelmäßig bekam, wenn mein Vater und ich spielten und sie keine Geige hatte. Ihre mittlerweile ausgeprägte »Nein«-Phase ist der lebende Beweis dafür, warum man kleine Suzuki-Geiger erst ab drei Jah- ren in Kursen unterrichtet. Aber ich glaube, dass man in diesem frühen Alter mehr tun kann, als nur eine Aufnahme abzuspielen. Ohne große Ankündigung sagte ich ihr eines Tages, als sie eben in einen Wutanfall ausbrechen wollte, dass sie 178 doch auf ihrer eigenen Geige spielen solle - der kleinen dort drüben in der Ecke. Sie sah mich mit einem Ausdruck an, der deutlich sagte: »Aber ja, natürlich!« Und noch bevor das Duett zu Ende war, hatte sie herausge- funden, wie man den Kasten öffnete, die Geige herausnahm und sägte auch schon mit dem umgekehrten Bogen mehrmals über die Saiten. Sie war begeistert. Wenn wir während der letzten vier Monate einen gröberen Fehler ihrer- seits bemerkten, griffen entweder mein Vater oder ich kurz zu ihr hinunter und zeigten ihr, wie man es besser macht, während wir ungehindert wei- terspielten. Selbstverständlich musste sie einige Regeln befolgen: sie durfte ihr Instrument nicht im Haus herumtragen, vor allem nicht auf Böden ohne Teppich; sie durfte nicht am Haar des Bogens hantieren (weil er sonst keinen Klang auf den Saiten erzeugen würde) usw. Wir waren erstaunt, wie schnell sie lernte, ihr Instrument mit Respekt zu behandeln. Sie pflegt ihren Bogen sogar mit Geigenharz! Auch wenn sie noch nicht die Technik heraus hat, immer nur eine Saite zu spielen, liegt ihre Hand schon sehr gut in Position und sie entwickelt wundervolle lange, volle Bogenstriche. Als uns Verwandte von außerhalb besuchten, waren wir sehr erstaunt, dass unsere scheue kleine Tochter ihre Geige holte, um in einem Raum voller Erwachsenen auf den Saiten zu quietschen. Wir waren sehr stolz - aber lange nicht so stolz wie sie selbst! Mein Vater und ich erkannten rasch, dass es wichtig war, den Moment zu erkennen, in dem sie Hilfe brauchte, und kurz einzugreifen, um sie dann wieder ihren eigenen Expe- rimenten zu überlassen. Selbstverständlich loben wir sie auch, aber nur in dem Ausmaß, in dem mein Vater und ich uns auch gegenseitig loben. Wir spielen zum Vergnügen, und ich glaube, sie auch! »Lehrstunden« wären nichts für sie. Schon bei einer Hilfeleistung, die auch nur ein paar Sekunden zu lang dauert oder im falschen Tonfall erfolgt, protestiert sie mit lautem »Nein, nein« und räumt sofort wütend ihre Geige weg. In diesem Alter gibt es eine feine Trennlinie zwischen Freude und Tränen. Wenn und sobald sie will, werden wir eine Expertin hören. Eine Mutter schreibt über ein anderes Kind, das sich dem formalen Unterricht widersetzt: Meine Tochter (3) sitzt in der Küche und bringt sich selbst das Addieren und Subtrahieren mit Hilfe des Little Professor Calculator bei - einer Maschine, die ich nicht wirklich gutheiße -, und jedes Mal, wenn ich ihr 179 einen kleinen Hinweis gebe, wird sie wütend. Aber wenn ich sie in Ruhe lasse und nur aus dem Augenwinkel beobachte, sehe ich, wie sie Rech- nungen lost wie etwa 3 + 5 = 8! Als ich vor Jahren an einer Versammlung katholischer Erzieher teil- nahm, hörte ich den Vortrag eines weisen, lustigen alten Mannes, der sein Leben lang unterrichtet hatte. Ein Ausspruch brachte uns alle zum Lachen und ist mir seitdem in Erinnerung geblieben: »Einem Weisen kluge Ratschläge zu geben ist ärgerlichk Ja, das ist es, vor allem, weil es beleidigend ist und kleine Kinder diesen Ausdruck von (oftmals liebevollem, beschützenden) Misstrauen oder Missachtung auch dann wahrnehmen, wenn wir nicht einmal wissen, dass wir die- ses Signal aussenden. Vor einigen Jahren las ich einem kleinen Kind von drei oder vier Jahren, das noch nicht selbst lesen konnte, etwas vor. Während ich las, kam mir der geniale Einfall, mit dem Finger den Worten zu folgen, die ich las, um die Verbindung zwischen den geschriebenen und den gesprochenen Worten zu verdeutlichen. Es war eine Chance, dem Ganzen auf subtile Art etwas Lehrreiches zu geben. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, begann ich damit so unbefangen wie möglich. Innerhalb kürzester Zeit bemerkte das Kind, dass das, was so nett und freundlich als Vorlesen einer Geschichte begonnen hatte, sich in etwas anderes verwandelt hatte, und dass sein Projekt auf magische Weise zu meinem Projekt geworden war. Nach einer Weile nahm das Mädchen wortlos meine Hand und schob sie sanft von der Buchseite auf meinen Schenkel, wo sie hingehörte. Ich gab es auf Zu »unterrichten« und fuhr mit dem Vorlesen der Geschichte fort, worum mich das Mädchen ursprünglich gebeten hatte. Ein Vater schreibt: Für ein neugieriges Kind ist es unmöglich, sich in die Welt der Dinosaurier zu vertiefen, ohne zu fragen - und dabei zu lernen - wie groß sie waren (Maßeinheiten), wie viele Tiere in einem bestimmten Gebiet lebten (Arith- metik), wo sie lebten (Geografie) und was mit ihnen geschah (Geschichte). Nachdem das väterliche Wissen über Dinosaurier sehr bald erschöpft war, musste eine ganze Menge nachgelesen werden. Kurz gesagt, es ist einfach unmöglich, viel über Dinosaurier oder ein anderes Thema zu lernen, ohne dabei anderes Wissen und andere Fähigkeiten anzuwenden, die zu den intellektuellen Grundvoraussetzungen zählen. Immerhin bezeichnen wir sie deshalb als Grundlagen, weil sie grundlegend sind. Und es ist ebenso 180 unnötig sich zu sorgen, dass ein Kind etwas über ein bestimmtes Thema lernt, ohne diese Grundlagen zu erlernen und anzuwenden. Man sorgt sich ja auch nicht, es könne ein Haus bauen und mit dem Dach beginnen. Selbstverständlich kostet es einige Mühe, sich an die Interessen der Kids anzupassen. Jeden Morgen wachen sie neugierig auf. Aber leider interessieren sie sich nur selten für die Themen, die wir vorbereitet haben oder auf die wir ihr Interesse gerne lenken würden. Das ist der Augenblick, in dem die Versuchung groß ist und wir ihr widerstehen müssen. Es ist reine Zeitverschwendung und wird rasch zu intellektueller Schikane, wenn wir versuchen, ein Kind auf jene Themen zu lenken, die es unserer Mei- nung nach lernen sollte. Gibt man jedoch den Interessen der Kinder nach, kann es gut sein, dass man sich sechs volle Tage mit der Erforschung des Weltalls beschäftigt, wie dies vor kurzem in unserer Familie der Fall war. Wenn wir geduldig abwarten und beobachten, kommt die Zeit, wo das Kind nahezu mühelos (aber umso nachhaltiger) Raketenschubkraft addiert, Treibstoffladungen multipliziert, aus Kreisen Ellipsen macht usw., weil es selbst erkennt, dass es dies alles lernen muss, um mehr über sein momen- tanes Interessengebiet zu erfahren. Schweigen Sie, wenn Sie nicht gebraucht werden, und seien Sie bereit zu helfen, wenn Sie gebraucht wer- den. Das Kind wird lernen. Einer der Gründe, warum es so vielen Erwachsenen schwer fällt - und ich muss gestehen, dass ich selbst auch dazugehöre -, ihren Kindern nicht Zu »helfen«, liegt wohl darin, dass es unser Ego verletzt, wenn wir sehen, wie gut sie auch ohne uns zurecht kommen! Wie kann mein dummes Kind so viel lernen, ohne dass ich kluger Kerl es unterrichte? In Wirklichkeit ver- suchen wir, uns in den Stolz des Kindes über seine eigene Leistung ein- zumischen, was uns auch allzu oft - und vor allem in den Schulen - gelingt. Das Ergebnis ist für die Opfer sowohl psychologisch als auch intel- lektuell eine Katastrophe. Ein anderer Vater schreibt: Ich habe Ihre Bücher gelesen und mit deren und Bobs (4) Hilfe herausge- funden, dass die für mich beste Lehrmethode das Beispielsein und das eigene Tun ist. (Wenn wir versuchen, Bob etwas beizubringen, was er nicht lernen will, sagt er immer: »Ich will das nicht wissen«.) Linda und ich sind von seiner Fähigkeit beeindruckt, Dinge schnell zu erfassen. Am meisten beeindruckt mich jedoch seine Fähigkeit, einfach nur still zu sitzen und nachzudenken. Ich wusste nicht, dass kleine Kinder das tun, bis Bob es mir zeigte. Er wiederholt von sich aus die Dinge immer wieder, bis er sie 181 kann. Wenn wir ihn um 9 Uhr abends zu Bett bringen, hören wir ihn oft noch bis 11 Uhr nachts mit sich selbst über Dinge sprechen, die er begrei- fen will. Auf diese Weise lernte er auch das Alphabet und bis 129 zu zählen. Ich habe versucht, Bob und David zu gestatten, das zu lernen, was sie selbst wollen, und zwar in dem von ihnen vorgegebenen Tempo. Aber mit- unter ist es schwierig, nicht doch zu unterrichten. An eine Geschichte erin- nere ich mich besonders gerne. Als Bob die Zahlen kennenlernte, fragte er mich, was nach 113 käme. Statt seine Frage zu beantworten, fragte ich ihn, was nach 13 käme. Er wurde wütend, denn das wollte er nicht wissen. Ich blieb jedoch beharrlich, und er sagte schließlich entrüstet: »14 kommt nach 13, aber was kommt nach 113?« Ich sagte augenblicklich: »114.« Erst war er empört, weil ich seine Frage nicht beim ersten Mal beantwor- tet hatte, doch dann begriff er, was ich eben getan hatte. Er grinste und barg sein Gesicht in den Händen. Wir spielen einander gerne Streiche, und ich hatte ihn soeben ausgetrickst. Einmal war ich im Sommer bei einer achtjährigen Freundin und ihrer Mutter eingeladen, die in einer schmalen Gasse wohnten. Weil selten ein Auto vorüber kam, konnten die Kinder dort sicher spielen. An einer Stelle stehen zu beiden Seiten hohe Zäune, wodurch sich die- ser Platz gut für Ballspiele im kleinen Rahmen eignete. Meine junge Freundin und ihre Freunde spielten dort oft ihre Version von Base- ball. Als Schläger verwendeten sie einen dünnen Stock von etwa einem Meter Länge und einen kleinen Ball. Die Regeln sind gut an die räumlichen Gegebenheiten angepasst; mit diesem Schläger kann niemand den Ball über die Zäune schleudern. Am Tag meiner Ankunft fragte sie mich, ob ich nach dem Abend- essen mit ihr noch ein paar Bälle schlagen wolle. Ich stimmte gerne Zu, und so verbrachten wir eine dreiviertel Stunde in der Gasse. Am nächsten Morgen fragte sie nach dem Frühstück erneut, und wir ver- brachten eine weitere Stunde in der Gasse. Manchmal warf sie mir den Ball sehr sanft zu, und ich stellte erstaunt fest, wie schwer es war, den nachgiebigen Ball mit dem dünnen Schläger zu bewegen. Dass ich bei diesem Training etwas getan hatte, über das ich mich sehr freute und das ich vor fünf Jahren weder versucht noch gekonnt hätte, war das Wichtigste an dieser Geschichte. Während einer Spielzeit von fast zwei Stunden habe ich nicht ein einziges Mal einen Ratschlag oder eine Anweisung erteilt. Als sie mit einer Hand 182 schlug (was ihr besser gelang, als ich erwartet hatte), lagen mir die Worte schon auf der Zunge, und auch ein anderes Mal, als sie mit gekreuzten Händen schlug (was sie von selbst aufgab), unauf- merksam wurde und den Ball nicht mehr beobachtete usw. Aber ich biss mir immer wieder auf die Zunge und sagte mir: »Sie hat dich nicht gebeten, mit ihr zu trainieren, sondern mit ihr ein paar Bälle Zu schlagen. Also Klappe halten und schlagen.« Und genau das tat ich. Ich lobte sie aber auch nicht. Manchmal - im Grunde ziemlich oft, um ehrlich zu sein - wenn sie einen Line Drive schlug, rief ich überrascht oder erschrocken auf, wenn er direkt auf mich zukam. Ansonsten spielten wir schweigend unter der kalifornischen Sonne. Ich erinnere mich daran mit großem Vergnügen, besonders an die Schweigsamkeit beim Spiel. Ich hoffe, dass ich beim nächsten Mal ebenso gut schweigen kann. Eine Mutter aus Ontario beschreibt einen außergewöhnlichen Tag, an dem sie gemeinsam mit einer anderen Mutter den Kindern die Leitung des Spiels überließ: Letzten Herbst trafen wir uns zwei Mal pro Woche als Schulgruppe (deren Kinder an den meisten Tagen zu Hause lernten). Es waren überwiegend Mädchen im Alter zwischen 2 und 4 Jahren, ein Mädchen war 5 und ein Junge 6 Jahre alt. Insgesamt waren es etwa 12 Kinder. Eine sehr ange- nehme Gruppe. An einen Tag aus dieser Zeit erinnere ich mich besonders gut. Zunächst malten wir, dann arbeiteten wir mit Ton und schließlich spielten wir auf dem Rasen vor dem Haus. Zur Mittagszeit beschlossen wir, in einem kleinen Kiefernwald ein Picknick zu machen. Die jungen Kiefern sind etwa zwölf Jahre alt und bieten kleinen Kindern durch ihre ange- nehme Höhe eine herrliche Möglichkeit zum Klettern und Erschaffen von Fantasiewelten. Während wir aßen, bemerkte ich winzige grüne Pflanzen, die inmit- ten der braunen, roten und orangefarbenen herbstlichen Blätter auf dem Boden wuchsen. Nachdem ich sie eingehender betrachtet hatte, schlug ich auch den Kindern vor, näher zu kommen, um mit mir die verschie- denen Pflänzchen, die rund um uns wuchsen, zu untersuchen. Wir ent- deckten meine liebsten Frühlingspflanzen - Sauerklee und Garten- kresse - und auch etwas Klee sowie mehrere uns unbekannte Pflan- zen. Wir kauten an den Grünpflanzen und waren sehr zufrieden mit unse- rer Entdeckung. 183 Bald schon begannen die Kinder »Brüllende Löwen im Wald« zu spielen. Ein herrliches Spiel! Eine andere Mutter und ich setzten uns, um uns ein wenig auszuruhen. Ein Mädchen (3) blieb bei uns und betrachtete wei- terhin die Pflanzen. Es war ein stilles Kind, das sich oft lange Zeit allein beschäftigte, während die anderen rasch Kontakt schlossen und mit- einander spielten und sprachen. Mitunter fragte ich mich, ob ich dem Mädchen helfen sollte, die anderen kennenzulernen, und ob sie sich in ihrem Alleinsein einsam und ängstlich fühlte. Nachdem ich sie jedoch mehrmals beobachtet hatte, gewann ich den Eindruck, dass sie mit sich allein ganz glücklich war. Auch wenn sie in der Schule fast nie sprach, wusste ich, dass sie sprechen konnte, denn ich hatte sie gehört, wie sie mit ihrer älteren Schwester plauderte. Deshalb freute es mich umso mehr, als sie begann, mit mir über die Pflanzen zu sprechen. Wir betrach- teten die vielen kleinen Pflanzen geruhsam, und sie zog auch einige aus der Erde, um sich die Wurzeln anzusehen. Dann begutachtete sie die verschiedenen Schichten abgestorbener Blätter - die neuesten, die eine kräftige Farbe hatten und noch knisterten, schob sie mit ihren kleinen Fingern zur Seite; darunter lagen die in weicheren Brauntönen, und zuun- terst die matten, schwarzen Blätter. Dann kam die Erde. Während wir die Magie der Pflanzen und der Erde untersuchten, sprachen wir unablässig miteinander. Zuletzt schlossen wir uns den anderen an, die uns durch den Kiefern- wald an den Rand eines Sumpfes führten. Hier gab es Zedern, schwarzen Schlamm und Wasser. Kaum zog eines der Kinder Schuhe und Socken aus, folgten alle anderen diesem Beispiel innerhalb kürzester Zeit. Sie stapften planschend umher und sangen fröhlich. Dann stolperte eines der Kinder und machte sich die Hose schlammig. (Ich dachte: »Was werden seine Eltern denken?«) Aber es machte offensichtlich viel zu viel Spaß, um sie jetzt noch zu stoppen. Schon bald hatten sich alle ausgezogen und wei- ter ging es mit dem fröhlichen Tanz. Das zuvor beschriebene Mädchen schloss sich den anderen strahlend an. Nur ein Kind hielt Abstand zu all dem Schlamm und Wasser. Offenbar störte es den Jungen nicht, dass die anderen im Schlamm tanzten, er selbst hatte nur nicht viel dafür übrig. Der Sumpf wurde weiter erkundet bis es Zeit wurde, sich abzutrocknen, anzuziehen und nach Hause zu gehen. Ich dachte über den Tag nach und fragte mich, wie die meisten der Eltern wohl reagiert hätten. Einige hätten das nackte Spiel im Wasser ver- mutlich erlaubt - andere möglicherweise nicht. Einige hätten vielleicht den Eindruck gehabt, dass an diesem Tag nicht viel passiert war, weil wir die 184 meiste Zeit für einen langen Spaziergang aufgewendet hatten. Auf jeden Fall freute ich mich, dass die andere Mutter ebenso bereit war wie ich, den kleinen Menschen in ihr Abenteuer zu folgen. Ach, wie ich diesen Tag liebte! ERFAHRUNGEN MACHEN ... Ein Dreijähriger ist in ein neues Haus gezogen und hat im Sonnenschein auf dem neuen Dach gespielt. Zum Abendessen geht er hinunter, und als er wieder auf das Dach zurückkehrt, tritt er in eine veränderte, dunkle Welt. Mit verwundertem Blick sagt er: »Der große Schatten ist überall.« Eine andere Dreijährige sieht, wie eine dünne Wolke über den Mond zieht. Während sie die Wolke aufmerksam beobachtet, sagt sie zu sich selbst: »Wie Eis.« Diese Betrachtungsweise von Kindern, die ich aus der Zeitschrift Out- look aus Colorado zitiere, gibt auch Hanna Kirchner wieder, die in Polen Uber das Werk des Arztes Janusz Korczak schreibt: Er betonte immer, dass Kinder das Geheimnis des Lebens zu entratseln versuchen, indem sie die Alltagsausdrucke aus der undurchsichtigen Spra- che der Erwachsenen erlernen. Aus dem bruchstuckhaften und unvoll- standigen Wissen der Kinder uber die Welt, das durch die Fantasie zusam- mengeschweifdt wird, entsteht ein besonderes »magisches Bewusstsein, wie man im 20. Jahrhundert feststellte, das sowohl bei Kindern als auch primitiven Völkern existiert und das mit den Urspringen der Poesie in Ver- bindung gebracht werden kann. Sie fuhrt dann dieses wundervolle Zitat aus Korczaks Buch Wie liebt man ein Kind an: [Ein Kind sagt:] »Es heißt, dass es nur einen Mond gibt, und doch kann man ihn uberall sehen.« »HOr zu, ich stelle mich hinter den Zaun und du bleibst im Garten.« Sie verschließen das Tor. »Ist jetzt ein Mond im Garten?« »Ja.« »Hier auch.« Sie tauschen Plätze und überprüfen es nochmals. Jetzt sind sie sicher, dass es zwei Monde geben muss. 185 Und doch stellen sie früher oder später von selbst fest, dass es nur einen Mond gibt. Theo Giesy erzählt diese nette Geschichte: Als Danile 6 oder 7 Jahre alt war, lag sie in meinem Bett und dachte über Geld nach. Sie fragte sich, wie man einen Dollar auf drei Kinder aufteilen könne. Nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hatte, sagte sie: »Man könnte ihn in Zehn-Cent-Münzen teilen und jedem drei geben. Dann bleibt ein Zehn-Cent-Stück übrig. Das könnte man in Pennys zerteilen und jedem drei geben, und den Extrapenny bekomme ich.« Das hat sie sich ganz allein ausgedacht, ohne Bemerkungen oder Belehrungen meinerseits. Als ich das erste Mal eine fünfte Schulstufe unterrichtete, stellte ich den Kindern Fragen wie diese: »Wenn du drei Schokoriegel hast und sie gleichmäßig auf fünf Personen aufteilen willst, was würdest du tun?« - und zwar bevor ich ihnen etwas über Bruchrechnungen erzählte oder den Begriff auch nur erwähnte. Die meisten der Kin- der fanden eine oder mehrere Methoden für diese Aufgabe. Aber nachdem sie Bruchrechnen erlernt hatten und daran dachten, dass sie diese Aufgabe durch Brüche lösen mussten, gelang es den mei- sten nicht mehr. Statt mit ihrem gesunden Menschenverstand und ihrer eigenen Erfindungsgabe ein reales Problem zu lösen, hatten sie nun Regeln zu befolgen, mit denen sie sich kaum auskannten und an deren Anwendung sie sich nicht erinnern konnten. Da so viele Menschen unter Lernen das verstehen, was in der Schule geschieht oder geschehen sollte, verwende ich lieber andere Worte, um das zu beschreiben, was wir Menschen natürlicherweise in unserem Leben tun. Herausfinden erscheint mir ein besser pas- sendes Wort zu sein. Hier spricht ein Leser über diesen fortdauern- den Prozess: Ich bin beinahe eine Karikatur des erblich bedingten Unbelehrbaren. Viel- leicht habe ich diese Eigenschaft angenommen, indem ich meinen Vater imitierte, denn wie ich bemerkt habe, hat er diesen Zug bis heute nicht abgelegt. Er lernt sehr schnell, widersetzt sich aber jedem Versuch, unter- richtet zu werden. Wie weit diese Unbelehrbarkeit mein Leben durchdrang, erkannte ich vor Jahren, als ich bemerkte, an wie wenige Ereignisse aus meiner Kind- heit ich mich genau erinnern kann. Das Extrembeispiel war meine Art, Klavier spielen zu lernen. Wie man mir erzählte, begann ich mit etwa vier Jahren auf dem Familienpiano herumzuhämmern. Als mein Vater eines 186 Tages des Lärms überdrüssig war, sagte er: »Wenn du schon spielst, warum spielst du dann nicht richtiges?« Ich hörte auf, bis meine Eltern das Haus verlassen hatten, und als sie am Nachmittag wieder zurückkehrten, hatte ich mir schon einige Melodien herausgepickt. Innerhalb eines Jahres spielte ich zu kirchlichen Anlässen »Stille Nacht, heilige Nacht«. Vieles begann auf diese Weise. Mit etwa vier Jahren begann ich zu malen, indem ich den Pinsel falsch hielt. Man sagte mir, dass ich auf diese Weise nie malen könnte. Auch nachdem ich ein paar Dutzend Zeichnungen und Malereien verkauft hatte, hielt ich den Pinsel immer noch so. Ich mag keine andere Art, weil meine Pinselstriche unsicher wer- den würden. Als ich mit ungefähr zwölf Jahren Bücher schreiben wollte, gab mir mein Vater eine alte Schreibmaschine und ließ mich damit allein. Ich lernte, mit nur einem Finger der rechten Hand ziemlich schnell zu schreiben. Dann kam der Schwimmunterricht, der mir fast für alle Zeiten das Schwimmen verleidete. Als ich einige Jahre später mit Freunden schwim- men wollte, sprang ich einfach ins Wasser und schwamm, als hätte ich nie etwas anderes getan. Nachdem man mir jahrelang erzählt hatte, dass ich kein Talent für Mechanik hätte, brachte ich mir an meinem ersten Auto alles bei, was ein Automechaniker wissen musste. Innerhalb von zwei Monaten wurde ich ein guter Zimmermannsgehilfe, als ich mit nur einem einzigen Zimmer- mann an meiner Seite eineinhalb Häuser baute. Ich überraschte alle (bis auf meine Eltern - die mir zugehört hatten), als ich von meinem juristi- schen Bachelor-Studium zur Diplomarbeit in Ingenieurswissenschaften wechselte und auf diese Weise mit dem alten Vorurteil aufräumte, blasse Bücherwürmer könnten nicht mit Zahlen umgehen. Wie habe ich die Schule überstanden? Dafür gab es nur einen Weg - die Offensive. Etwa in der fünften Schulstufe schenkten uns unsere Eltern die Golden Book Encyclopedia. Ich verschlang jeden Band, sobald er aus dem Supermarkt zu uns nach Hause kam. Kurz darauf wurde ich in der Schule einem Lesetest unterzogen, wobei sich herausstellte, dass ich meiner Schulstufe fünf Jahre voraus war. Außerdem habe ich durch die Golden Book Encyclopedia zwei wertvolle Dinge gelernt: Zum einen wurde ich durch die Enzyklopädie mit vielen Aspekten der Naturwissenschaft, Geschichte, Geographie und Kunst so vertraut, dass ich selbst für Prü- fungen in der zehnten Schulstufe auf diesem Wissen »aufbauen« konnte. Zum anderen zeigte sie mir, wie die Welt funktioniert, so dass ich heraus- finden konnte, was ich noch nicht wusste. 187 Ich erinnere mich, auf welche Weise ich in der fünften Schulstufe zu mehr Freizeit kam, um mich mit Flugzeugen zu befassen, für die ich mich damals sehr interessierte. Der Lehrer trug uns auf, pro Woche fünf neue Wörter zu finden, was eine Lektion in Vokabeln sein sollte [Anmerkung des Autors: niemand hat je auf diese Weise neue Wörter gelernt]. Nun hatte ich das Problem, dass mir nicht so regelmäßig neue Wörter einfielen. Deshalb griff ich eines Tages nach dem Wörterbuch und suchte über zweihundert Wör- ter heraus. Damit hatte ich in einem gelangweilten Streich die Arbeit eines Jahres erledigt. Dann verschlang ich neue und historische Wörter für mein neues Buch, das ich über Flugzeuge schrieb. Als ich für den Abschluss wieder auf die Schule zurückkehrte, tat ich dies mit dem Vorsatz, einige der erforderlichen Kurse zu besuchen und vorgegebenen Projekte durchzuführen, um auf diese Weise Freizeit zu gewinnen für die Interessen, von denen man in der Schule nichts verstand. Es funktionierte so gut, dass ich tatsächlich bei dem Mann zu arbeiten begann, den ich bei meinen Erkundungen vorab als bester in seinem Fach- bereich herausgefiltert hatte. Mittlerweile habe ich einige seltsame Wahrheiten erkannt. Bei den erstklassigen Menschen, aus denen unser Unternehmen besteht, zählt besonders die Fahigkeit, sich selbst etwas beizubringen. Wie mein Arbeit- geber es ausdrückt: »Auch wenn es so aussieht, als wussten wir hier eine Menge, haben wir nur deshalb Erfolg, weil wir uns zunachst unsere Unwis- senheit eingestehen, um sie im nächsten Schritt zu Uberwinden.« Dies verweist auf den grundlegenden Gedanken, dass es so etwas gibt wie »die Notwendigkeit, etwas zu wissen«. Von den Leuten rundum hore ich oft, dass ich eine Menge uber dies oder jenes »weifd«; dabei ist mein Wis- sen oft nur durchschnittlich oder sogar geringer. Bei einem vorgegebenen Thema bin ich jedoch imstande herauszufinden, was ich als nachstes wis- sen muss. Aufgrund meiner Selbstandigkeit habe ich gelernt, mir dieses Wissen unmittelbar anzueignen, und zwar auf eine Art und Weise, die sich von einem Fall zum nachsten kaum unterscheidet. Dadurch habe ich Fol- gendes begriffen: Sobald die Menschen erkennen, dass Wissen nur in Beziehung zu aktuellen Zielen wichtig ist - egal wie eng oder weit gesteckt diese auch sein mögen - und nicht selbst das Ziel ist, fällt es ihnen leich- ter, sich dieses Wissen anzueignen. Ich kenne einige, die dieselbe Erfahrung gemacht haben. Die Tatsa- che, dass es solche Menschen gibt, bestarkt mich in der Ansicht, dass es einen Markt fur Freie Schulen gibt, die keinen »Unterricht« anbieten, son- dern die notwendigen Lehrmittel fur das Selbststudium. 188 DAS KURZE, GLÜCKLICHE LEBEN EINER LERNMASCHINE Als die Santa Fee Community School ihren Betrieb aufnahm, lieh ein junger Erfinder der Schule eine seiner »Lernmaschinen«, die damals modern waren und die er hoffte, auf diese Weise unters Volk zu brin- gen. Es war eine große Metallbox, die auf einem Tisch stand. Durch ein Fenster an der Vorderseite der Box war eine gedruckte Karte zu sehen. Neben dem Fenster befanden sich fünf nummerierte Knöpfe. Auf der Karte waren Fragen zu lesen wie: »Ein Apfel ist: (1) eine Maschine, (2) ein Tier, (3) eine Frucht, (4) ein Fisch, (5) ein Musikinstrument.« Wurde die richtige Nummer gedrückt, leuchtete ein grünes Lämp- chen auf, und die nächste Karte erschien; ansonsten leuchtete ein rotes auf. Wie die meisten Lernmaschinen war auch diese nichts anderes als die ausgefeilte Version eines Multiple-Choice-Tests. Als der Erfinder die Box in die Schule brachte, versammelten sich Kinder im Alter von fünf bis acht Jahren, um die Funktionsweise der Maschine kennen zu lernen. Nachdem die Kinder in der Bedie- nung unterwiesen worden waren, wechselten sie sich eine Weile darin ab, Knöpfe zu drücken und Fragen auf den Karten zu beant- worten. So ging es jedoch nur kurze Zeit. Denn dann baten die Kin- der: »Bitte öffnen Sie die Box! Wir wollen sehen, wie sie innen aus- sieht.« Irgendjemand öffnete die Vorderwand und zeigte ihnen, dass die Karten auf einem drehbaren Zylinder befestigt waren. Neben jeder Karte waren fünf kleine Löcher eingestanzt, und ein Metall- bolzen steckte in dem Loch, das die »richtige Antwort« auf die Frage der Karte darstellte. Die Kinder dachten kurz über das Gesehene nach und machten sich dann daran, selbst Karten herzustellen. Nach einiger Zeit hatte jedes Kind mehrere Karten fabriziert, um damit die Maschine zu bestücken. Abmachungen wurden getroffen: »Ich spiele mit deinen Karten, wenn du mit meinen spielst.« Nachdem eines der Kinder seine Karten in die Maschine geladen hatte und die Antwortbolzen eingesteckt hatte, machte ein anderes Kind den Test. Danach wurden die Rollen getauscht. Dieses Spiel ging etwa einen Tag lang und wurde sehr ernsthaft betrieben. Dann veränderte sich das Spiel allmählich, wie mir ein Freund erzählte, der zu dieser Zeit an der Schule unterrichtete und alles mit- erlebte. Plötzlich wurde rund um die Maschine laut gelacht. Als die 189 Lehrer nachsahen, stellten sie Folgendes fest: Wie zuvor bestückte ein Kind die Maschine, ein anderes machte den Test. Eine Karte erschien mit einer Frage wie: »Ein Hund ist (1) ein Zug, (2) ein Auto, (3) ein Flugzeug, (4) ein Tier, (5) ein Fisch.« Wenn das Kind, das den Test machte, nun auf den vierten Knopf drückte - und damit auf die »richtige Antwort« /euchtete das rote Lampchen auf. Das Kind, das die Karte gemacht hatte, und alle, die zusahen, brachen in lautes Gelachter aus. Das Kind, das den Test machte, druckte nun einen Knopf nach dem anderen, bis es den »richtigen« fand und auf dem Zylinder die nachste Karte erschien. Dann wiederholte sich das Spiel. Die richtige Antwort wurde mit dem roten Licht belohnt, und es gab wieder Gelachter. Sobald ein Kind all die raffiniert zurechtgebastel- ten Karten durchgetestet hatte, nahm ein anderes seinen Platz ein und wiederholte das Spiel. Dieses Spiel dauerte etwa zwei Tage an. Nachdem die Kinder auf ihre Weise alles mit der Maschine gemacht hatten, was möglich war, stellte sich Langeweile ein, und sie berührten die Maschine nie wieder. Nach etwa einem Monat bat die Schule den Erfinder, seine Maschine wieder abzuholen. Diese kleine Episode offenbart uns mehr uber das wahre Wesen von Kindern (und damit aller Menschen) als funfzig Jahre Pawlow- scher Behaviorismus oder Skinnersche Experimente mit operanter Konditionierung. Vielleicht ist »Laborratte und Psychologe« zumindest fur eine Weile ein gutes Spiel. Aber nach kurzer Zeit will jedes menschliche Wesen den Psychologen spielen und niemand die dres- sierte Ratte. Wir Menschen sind von Natur aus nicht mit Schafen und Ratten zu vergleichen, die nichts in Frage stellen und gefugig und glucklich an der Maschine arbeiten, solange bei jedem Aufleuchten des grunen Lichts Futter herausfallt. Wie diese Kinder wollen wir wis- sen, wie die Maschine funktioniert, und sie dann selbst steuern. Wir wollen herausfinden, wie die Dinge funktionieren, um sie dann selbst dazu zu bringen, dass sie funktionieren. Das ist unser Wesen. Jede Theorie Uber das Lernen oder Lehren, die davon ausgeht, dass wir uns wie Wurmer, Ratten oder Tauben verhalten, ist Unsinn und kann nur zu endloser Enttauschung und Misserfolg fuhren (wie es sich gezeigt hat und weiterhin zeigt). 190 EINE NEUE SPRACHE LERNEN Wenn Kinder mit Menschen in Kontakt kommen, die mehrere Spra- chen sprechen, werden sie all diese Sprachen meist mühelos erler- nen. Erwachsenen fällt das schwer, und darum sind sie darüber meist erstaunt. Um dies zu erklären, erfinden sie komplizierte Theorien über spezielle Fähigkeiten von Kindern oder darüber, dass ihr Gehirn irgendwie anders funktioniere als das von Erwachsenen. Die wahre Erklärung ist wesentlich einfacher. Das Kind, das zu Hause deutsch spricht, aber außerhalb seines Zuhauses mit anderen Kindern zusammentrifft, die englisch sprechen, setzt sich nicht das Ziel, »Englisch zu erlernen«. Es denkt auch nicht darüber nach, dass es selbst deutsch bzw. überhaupt eine Sprache spricht. Es spricht einfach und versucht zu verstehen, was die anderen sagen, denn es will ihnen begreiflich machen, was es will. Und je häufiger das Kind das tut, desto besser funktioniert es. Plötzlich trifft das Kind auf Menschen, die es überhaupt nicht verstehen kann und umgekehrt. Es will diese Menschen aber ver- stehen und setzt alles daran, es jetzt sofort zu tun, so wie es will, dass es auch von diesen Menschen verstanden wird, und zwar jetzt sofort. Nur daran arbeitet das Kind. Und weil es klug, unermüdlich und einfallsreich ist, sich durch Schwierigkeiten nicht entmutigen lässt und sich keine Gedanken darüber macht, dass es »versagen« oder sich blamieren könnte, macht es rasch Fortschritte, weil es augenblicklich erkennt, wenn es etwas begreift oder verstanden wird. Seine Eltern hingegen denken, wie großartig es ist, dass es so schnell Englisch erlernt. Dabei versucht es das Kind gar nicht. Es kann gar nicht begreifen, was unter »eine Sprache lernen« zu ver- stehen ist und wie dies funktionieren soll, selbst wenn wir ihm diese Aufgabe erklären könnten. Das Kind versucht lediglich, mit jenen Menschen zu kommunizieren, die ihm begegnen. Nachdem mein Vater in Rente gegangen war, verbrachte er mit meiner Mutter das Winterhalbjahr immer in Mexiko. Er, dem nur mit Mühe der Abschluss an einem »guten« College gelungen war, erklärte ernsthaft, dass er »Spanisch lernen« müsse, und wiederholte dies unbeirrt über sechs Jahre lang. Meine Mutter, die nie ein College besucht hatte und immer eine schlechte Schülerin gewesen war, machte sich keine Gedanken darüber. Wie kleine Kinder wollte sie nur imstande sein, mit den Menschen ihrer Umgebung zu sprechen, 191 auch wenn die sich deutlich von all jenen unterschieden, die sie während ihres bisherigen Lebens kennengelernt hatte und die sie sehr interessierten. Sie besaß immer schon die eifrige Beobach- tungsgabe und Geistesschärfe eines kleinen Kindes, und so begann sie, wie ein kleines Kind mit den Menschen ihrer Umgebung zu spre- chen, sie nach den Bezeichnungen von Dingen zu fragen, und wie man sich danach erkundigt. Die Menschen waren begeistert, so wie immer, wenn sich jemand tatsächlich bemüht, ihre Sprache zu spre- chen. Sie antworteten ihr, zeigten ihr Dinge und nannten den jewei- ligen Namen (so wie sie es mit mir machten, als ich zu Besuch kam), und korrigierten sie freundlich, wenn sie etwas falsch aussprach oder falsch verwendete. Aber sie taten dies nicht, damit sie »korrekt« spräche, sondern damit man sie besser verstünde, und sie halfen ihr auch sonst in jeder erdenklichen Weise. Daraus ergab sich, dass sie sich schon sehr bald leicht und fließend mit den Menschen über verschiedene Themen unterhalten konnte. Mein Vater hingegen, der sich vorgenommen hatte, »Spanisch zu lernen« - womit er meinte, dass er es lernen würde, bis er es korrekt spräche, um dann mit den Menschen aus seiner Umgebung zu spre- chen - erlernte in all den Jahren in Mexiko nicht mehr als etwa zwan- zig Worte. Hin und wieder versuchte meine Mutter, ihn zum Sprechen zu bewegen, aber dazu war er nicht imstande. Ihn hemmte die Angst, die man ihm in der Schule eingeimpft hatte, einen Fehler zu begehen und sich lächerlich zu machen. Er wich all diesen menschlichen Begegnungen aus, während er sich gleichzeitig sagte, dass er nun wirklich Spanisch lernen müsse, aber zu alt sei und sowieso kein Sprachtalent habe. EIN MUSIKINSTRUMENT ERLERNEN Das Buch Piano: Guided Sight Reading von Leonard Deutsch enthält folgenden interessanten Abschnitt: Die berühmten ungarischen und slowakischen Zigeuner haben eine Jahr- hunderte alte Musiktradition. Dieses farbenfrohe Volk hat zahlreiche aus- gezeichnete Instrumentalisten hervorgebracht, insbesondere Geigenspie- ler. Sie lernen, die Geige zu spielen, wie Kleinkinder lernen zu gehen - ohne Lehrmethoden, Lektionen oder Übungseinheiten. Man verwendet auch keine niedergeschriebene Musik. Stattdessen gibt man den kleinen 192 Kindern einfach eine kleine Geige und gestattet ihnen, sich der Zigeuner- musikgruppe anzuschließen. Das Kind erhält weder Erklärungen noch Kor- rekturen. Es stört auch nicht, weil seine schüchternen Bemühungen kaum hörbar sind. Das Kind hört zu, versucht gleichzeitig, das zu spielen, was es hört, findet allmählich die richtigen Noten und bringt einen klangvollen Ton hervor. Innerhalb weniger Jahre entwickelt es sich zu einem vollwertigen Mitglied der Musikgruppe, das sein Instrument umfassend beherrscht. Sind diese Zigeunerkinder besonders talentiert? Nein, nahezu jedes Kind könnte dasselbe. Die Musikgruppe agiert als Lehrer, der mit dem Schüler durch die direkte Sprache der Musik spricht. Indem sich der Neu- ling der Musikgruppe anschließt, befindet er sich augenblicklich in der hilf- reichsten musikalischen Atmosphäre und psychologischen Situation. Auf diese Weise hat das Kind von Anfang an den richtigen Zugang zu musi- kalischer Aktivität. Im Gegensatz dazu erzählte mir einmal eine überaus intelligente und talentierte Freundin, die sich kaum von einer Lehrmethode ein- schüchtern lässt und Musik liebt, wie gerne sie fähig wäre, Noten zu lesen. Aber seit sie in der Schule Musikunterricht gehabt hätte, erscheine ihr diese Aufgabe als hoffnungslos rätselhaft, furchterre- gend und unmöglich. Ich fragte sie, ob ihr irgendein Aspekt schwie- riger erschiene als der Rest. Wie die meisten Menschen, denen man in einer solchen Situation diese Frage stellt, antwortete sie mit einer großen Geste und sagte: »Einfach alles. Ich verstehe überhaupt nicht, was diese kleinen Punkte auf der Seite bedeuten.« Ich fragte sie, ob ihr der Rhythmus oder die Tonhöhe rätselhafter erschiene. Nach län- gerem Nachdenken meinte sie: »Die Tonhöhe.« Weil ein Klavier in der Nähe war, sagte ich: »Wenn du willst, kann ich dir in ein paar Minu- ten zeigen, wie du jede geschriebene Note findest.« Sie stimmte zu. Innerhalb einer halben Stunde spielte sie sehr langsam, aber ganz auf sich allein gestellt, ein Stück aus einem Notenheft für Anfänger. Fünf Dinge machten es mir möglich, ihr dabei zu helfen: (1) Es war ihre Idee, ihr Interesse; sie wollte es tun. (2) Sie konnte jeder- zeit abbrechen, wenn sie wollte. Sie wusste, dass ich sie in meiner Begeisterung als Lehrer nie in jene Verwirrung, Panik und Scham stürzen würde, in die eifrige oder entschlossene Lehrer ihre Schüler so oft stürzen. (3) Ich akzeptierte ihre Angst und Verwirrung und betrachtete sie als legitim. Selbst im hintersten Winkel meines Geistes verwarf ich keine ihrer Ängste oder Fragen als unsinnig. 193 (4) Ich gestattete ihr, selbst alle Fragen zu stellen, ich wartete auf ihre eigenen Antworten, und ich gestattete ihr, meine Antworten zu verwenden, wenn sie es wollte. /ch prüfte nicht, ob sie verstanden hatte. Ich überließ es ihr festzustellen, ob sie verstanden hatte oder nicht, was sie tun wolle und welche Frage sie als nächste stellen wolle. (5) Ich wollte sie nicht dazu benutzen, ihr, mir oder einer ande- ren Person zu beweisen, was für ein talentierter Lehrer ich doch sei. Wenn sie sich weiter mit Notenschriften auseinandersetzen wollte, war es mir recht, auch wenn sie mich um weitere Hilfe bäte. Obwohl ich es bevorzugte, wenn sie es ohne meine Hilfe tat. Aber wenn sie jetzt, wo sie festgestellt hatte, dass sie sehr wohl Noten lesen konnte, sich nicht weiter damit befassen wollte, war mir das auch recht. In einem Artikel mit der Überschrift »Violonist Par Excellence«, der im Februar 1980 in der Zeitschrift Music Magazine erschienen war, erzählt ein berühmter Geiger über das Unterrichten: Nathan Milstein sagt, dass seine Familie aus Odessa nicht besonders musikalisch war. »Sie sind erst irgendwann einmal musikalisch geworden«, lachte er. »Aber ich glaube nicht, dass es einen großen Unterschied macht, ob man aus einer musikalischen Familie stammt oder nicht.« Seine Mut- ter wollte, dass er Geige lernte, aber nicht, weil sie musikalisch war, son- dern weil sie - wie sie einst sagte - »mich beruhigen wollte, und weil sie glaubte, dass dies mit der Geige am ehesten gelingen könnte.« Später zeigte er seinem jüngeren Bruder, wie man Cello spielt. »Das war keine große Sache. Wenn jemand klug ist und Noten lesen kann, schafft er es. Ich konnte ihn unterrichten, weil ich ein Instrument aus der- selben Familie spielte: Geige, Cello, das ist doch alles dasselbe, nur dass man die Finger etwas weiter auseinander platziert. Die Leute übertreiben immer.« Wie viele Künstler vermutet auch Milstein, dass man den Lehrern eine zu gewichtige Rolle zuschreibt. »Ein Lehrer ist keine große Hilfe. Zumin- dest sind es viele Lehrer nicht. Junge Leute glauben oft, dass ihnen, wenn sie zu einem Lehrer gehen, dieser sagen wird, wie man spielt. Nein! Nie- mand kann dir das sagen. Auch wenn ein Lehrer vielleicht auf seine Weise gut spielt, wird sein Schüler vielleicht nicht so gut spielen, selbst wenn er auf dieselbe Weise unterrichtet wird. Deshalb glaube ich, dass der Lehrer die Aufgabe haben sollte, dem Schüler - insbesondere dem talentierten - zu erklären, dass ein Lehrer nicht viel für ihn tun kann. Er kann nur ver- suchen, den Geist des Schülers so weit zu öffnen, selbständig zu denken. In Wirklichkeit muss der Schüler alles selbst machen, nicht der Lehrer.« 194 Zurückblickend gesteht Milstein, dass ihm keiner seiner Lehrer auf diese Art eine echte Hilfe gewesen sei. »Aber wissen Sie, erklärt er, »ich war immer schon neugierig und experimentierfreudig. Instinktiv wusste ich, dass mir mein Lehrer nicht helfen würde, wenn ich mir nicht selbst half.« ... Milstein zufolge sind die schlechtesten Lehrer jene, die nicht selbst auftreten. »Auftretende Künstler können ihren Schülern wesentlich mehr geben als jeder dozierende Professor«, sagt er heftig. »Denn man kann einem jungen Menschen nur seine eigenen Erfahrungen vermitteln. Woher sollen Lehrer wissen, wie das ist, wenn sie selbst nie aufgetreten sind und nie für eine aktive Karriere gelernt haben? Ich kenne in Amerika einige berühmte Lehrer, die junge Leute ruinieren. Ja, ruinieren!« Im Gegensatz dazu ist Milstein davon überzeugt, dass ein Mensch mit großem Talent keinen Schaden nehmen kann, wenn er keinen Lehrer hat ... SELBSTSTUDIUM Ein Lehrer aus Vancouver schreibt: Letzte Woche habe ich etwas Interessantes gesehen. Ich war in einem kleinen Laden, der zu sehr günstigen Tarifen Zeit an einfachen Computern vermietet. Es gibt hier Lernprogramme, mit deren Hilfe man sich selbst den Umgang mit dem Computer beibringen kann. Ein alter Mann und ein Junge von etwa 11 Jahren kamen herein und sahen sich um. Der Junge war fasziniert, der Mann ein wenig verwirrt und überrascht: »Jetzt sind sie endlich hier ... meine, meine ...« Der Junge zeigte dem Mann dann einige Spiele auf einem einfacheren Computer, und innerhalb weniger Minuten waren beide in ein »Star Trek«-Spiel vertieft. Nach dem Spiel erklärte der Junge dem Mann, der nun bereits sehr interessiert schien, einige grund- legende Prinzipien des Programmierens. Ich war nicht weniger interessiert, denn hier erkannte ich ein klassi- sches Beispiel für eine Lehrer-Schüler-Situation zwischen zwei Personen, wobei Alter, Funktion und formelle Struktur keine Rolle spielten. Es tat gut, diese Episode zu beobachten, und ich fragte mich, was wir erfinden müss- ten, um derartige Begegnungen in der gesamten Stadt zu ermöglichen. Als ich dieses Erlebnis einigen Lehrerkollegen mitteilte, ignorierten sie mich. »Das ist kein echtes Lernen, und außerdem stört es nur den Mathe- matikunterricht.« Hier gab es einen 11-jährigen Jungen, der sich selbst mehr über Computer beigebracht hatte, als ich heute weiß, indem er sich 195 in diesem Laden aufhielt und dort Artikel über das Programmieren las. Und mir erzählten diese Lehrer, dass sei kein echtes Lernen! Eine Mutter schreibt ebenfalls über »echtes Lernen«: Ich bin erfreut Ihnen mitteilen zu können, dass E. lesen kann. Ich war auch darauf vorbereitet, wenn er es selbst im Alter von 10 oder 12 Jahren noch nicht könnte - wer weiß das schon? Mit zwei Jahren war er begeistert von den Formen der Buchstaben auf dem Truck seines Vaters, suchte in den Rissen im Bürgersteig nach den Formen von Buchstaben, las kurze Worte auf Anzeigetafeln, spielte mit Anfangslauten (das war seine Idee, nicht meine) und mochte Wörter in jeder Hinsicht. Wie er von diesem Stadium dazu kommen sollte, Bücher zu lesen, war mir unklar. Wenn er nicht wollte, dass ich ihm half, und wenn er sich nicht hinsetzte, um daran zu arbeiten, wie würde er je mehr lesen können als die Schilder im Einkaufszentrum? Vermutlich greifen Pädagogen in die- sem Stadium panisch zu Lehrmethoden und phonetischen Regeln, und mitunter musste ich mich zusammenreißen, um nicht dasselbe zu tun. Alte Unterrichtsgewohnheiten halten sich hartnäckig. Er wusste so viel, setzte es aber in keinen Zusammenhang. Er war nicht einmal daran inter- essiert, ein Buch zu öffnen, nur um festzustellen, ob er nicht auch das ganze Ding lesen könne. Ich verging fast vor Neugier, denn ich wollte nur allzu gerne wissen, ob er es konnte. Aber ich biss mir immer wieder auf die Lippen, sobald ich ihm eine »Lektion« erteilen wollte. Vor etwa drei Monaten begann er, sich jede Woche im Supermarkt mit einem Comic-Heft aus der Zeitschriftenabteilung zurückzuziehen. Manch- mal kaufte er eines, und sobald wir es ihm vorgelesen hatten, setzte er sich damit in eine Ecke und studierte es eine Weile. Dann begann er, sie im Bett zu »lesen«. Ich wusste, dass sich etwas tat, denn er war dabei sehr schnell und fragte mich nie nach einem Wort oder kommentierte ein Bild. Allmählich begriff ich, dass Lesen für ihn etwas Privates war. Nach einer Weile wählte er einfache Bücher für das Zubettgehen und bot mir an, sie mir vorzulesen. Es gab nur wenige Worte, die er nicht kannte, und ich werde nie erfahren, wie er die anderen erlernte. Aber das ist einerlei. Er hat sie gelernt, weil er sie lernen wollte. Ich kann nur hoffen, dass ich in Zukunft all dem Druck widerstehe und ihm gestatte, selbst Prioritäten zu setzen. Einer unserer Leser erzählt uns, wie sein Bruder lernt: Mein Bruder ist von Beruf Elektrotechniker und von seinem Talent her ein Genie. Schon als Teenager brachte er sich selbst Mathematik, Sprachen 196 und vieles mehr bei und baute zahlreiche komplizierte Geräte, wie etwa ein Oszilloskop, einen Computer usw. Heute macht er eine Menge Geld (ich nicht!) als talentierter Techniker (ich nicht!), während er in seiner Freizeit weiterhin seine eigenen kreativen Ideen in der Elektronik entwickelt und sie zu Hause in seiner eigenen Werkstatt baut. UNTERRICHTEN KONTRA LERNEN In seinem Buch Shadow Work schrieb Ivan lllich über einen Mann: Dieser Mann ... hatte aufgehört, Vater zu sein und war durch und durch Lehrer geworden. Vor seinen eigenen Kindern stand dieses Ehepaar in loco magistri. Sie mussten ohne Eltern aufwachsen, weil diese beiden Erwachsenen ihre Kinder mit jedem Wort, das diese an sie richteten, »aus- bildeten«. Selbst beim Abendessen korrigierten sie unablässig die Aus- drucksweise ihrer Kinder und baten mich, dasselbe zu tun. In Band 3, Nr. 5 und 6 des The Home and School Institute Newsletter finden sich Tipps, was Eltern mit ihren Kindern zu Hause tun können. Auf den ersten Blick wirken viele dieser Tipps sehr einfühlsam und freundlich, weil sie Dinge betreffen, die viele liebevolle, aufmerksame Mütter seit Jahren tun: LESEN IM SCHLAFZIMMER Kleidung und Körper (Wortschatzbildung). Es gibt Wörter, die mit der Kleidung in Zusammenhang stehen, wie Hemd, Bluse, Socke, Schuh usw., und es gibt Wörter, die mit Körperteilen in Zusammenhang stehen, wie Fuß, Arm, Kopf, Knie usw. Das Schlafzimmer ist ein guter Ort, um diese Wörter kennenzulernen; sprechen Sie die Wörter laut aus, während ein Kleidungsstück nach dem anderen von den einzelnen Körperteilen abgelegt wird. Schreiben Sie die Wörter auf ein großes Stück Papier und heften Sie diese auf die Kleidungsstücke in den Schränken und Schubladen ... Ich meine, alles hängt davon ab, wie wir es tun. Mit Babys und Klein- kindern spreche ich gerne über Dinge, die wir gemeinsam sehen oder machen. In meinem Buch Wie kleine Kinder schlau werden schlage 197 ich Eltern vor, wie sie ein Kleinkind darauf vorbereiten, das Haus zu verlassen: »... Jetzt schnüren wir diesen Schuh; zieh die Bänder gut fest; jetzt nehmen wir die Stiefel; sieh mal, den rechten Stiefel für den rechten Fuß, den lin- ken Stiefel für den linken Fuß; sehr gut, als nächstes den Mantel, die Arme in die Ärmel, den Reißverschluss zuziehen, ganz hoch und fest ...« Diese Art von Gespräch ist freundlich und macht Spaß, und das Kind lernt dar- aus nicht nur einzelne Wörter, sondern passende Phrasen und Sätze. Aber ich befürchte, dass das Wichtigste dabei übersehen werden könnte: der freundliche Grundton dieses Gespräches. Auf diese Weise drücken die Eltern ihre Liebe für das Kind aus und das Ver- gnügen, das seine Gesellschaft ihnen bereitete. So wie ich die Stimme einer solchen Mutter in meinem Kopf höre, stimmt sie mit den Handlungen überein. Vielleicht seufzt sie mitfühlend, während sie den verklemmten Reißverschluss schließt oder an dem Stiefel zieht. Auf diese Weise ist die gesamte Aktion umrahmt von liebevol- len Umarmungen und Streicheleinheiten. Das ist nicht dasselbe, als würde sie dem Kind beim Anziehen des Mantels sagen: »Mantel! Mantel! Mantell«, damit das Kind »lernt«, dass dies ein Mantel ist. Dies ist der Unterschied zwischen einem nur aus Vergnügen geführ- ten Gespräch, wo Lernen stattfinden kann, und einem Gespräch, das nur des Lernens wegen geführt wird. Auch andere Artikel, die ich in diesem Home and School Insti- tute Newsletter gelesen habe, festigen in mir den Eindruck, dass sich die Autoren einer falschen Linie verschrieben haben, wie folgendes Beispiel zeigt: Themenspiel. Im Rahmen einer gemeinsamen Mahlzeit bereitet dieses »Gesprächsspiel« die Kinder darauf vor, ihre Gedanken schriftlich nieder- zulegen. Wählen Sie ein Thema und beginnen Sie mit solchen, mit denen sich das Kind auskennt: Sommer, Freunde, Frühstück, Schule. Das Kind wird einen Kommentar dazu abgeben wie etwa: »Der Sommer ist die beste Jahreszeit«, oder »Meine Freunde mögen dieselben Dinge wie ich«. Während Kinder kompliziertere Sätze bauen, werden auch die Themen und Aussagen selbst komplizierter. Wie schrecklich! Wenn ich das lese, kann ich Illichs Entsetzen, das ihn beim Abendessen mit seinen Freunden überkommen hat, nachemp- finden. Jahre bevor ich selbst zu unterrichten begann, verbrachte ich 198 einmal ein Abendessen bei Eltern, die währenddessen nichts sagten oder taten, ohne ein »Lehrziel«. Jedes Wort und jede Handlung ent- hielt bereits eine kleine Lektion. Es war ein Albtraum. Die Luft vibrierte vor Spannung und Unruhe. Ich konnte es kaum abwarten zu gehen. Das Leben ist voller Ironie. Als ich Wie kleine Kinder schlau werden schrieb, hoffte ich damit natürliche, mühelose und effektive Wege aufzuzeigen und zu fördern, um das Lernen in einem glückli- chen Zuhause auch in den Schulen einzuführen. Mitunter fürchte ich, dass ich damit nur dazu beitrug, die spannungsgeladenen, gehemmten, schmerzlichen und ineffektiven Lehrmethoden der Schulen zu Hause einzuführen. Eltern warne ich vor allem davor, ihr Zuhause zu einer grauenvollen Miniausgabe einer Schule zu machen. Bitte keine Stundenpläne, keine Denksportaufgaben, keine Tests und keine Leistungsberichte! Da wäre es noch besser, die Kin- der sich selbst zu überlassen; auf diese Weise könnten sie zumin- dest das eine oder andere selbst herausfinden. Lebt zusammen, so gut ihr könnt; genießt das gemeinsame Leben, so gut ihr könnt. Stellt Fragen, um etwas über die Welt selbst herauszufinden, anstatt nur zu fragen, ob und wer etwas darüber weifd! DER PREIS FÜR LERNTRICKS Dr. Gregory Bateson, einer der gebildetsten und kreativsten Intellek- tuellen unserer Zeit, der im Verlauf seines Lebens viel über Anthro- pologie, Psychologie und andere Wissensbereiche schrieb, fasste einen Großteil seines Lebenswerkes und seiner Gedanken in dem Buch Ökologie des Geistes zusammen. In einem Kapitel, in dem er die Schwierigkeiten in der Kommunikation mit Delphinen und ande- ren Tieren bespricht, schreibt er: ... Die sogenannte »Psychologie« (d.h. die Intelligenz, Erfindungsgabe, Abgrenzung usw.) individueller Tiere zu testen, wirft besondere Probleme auf. Ein einfaches Experiment ... umfasst eine Reihe von Schritten: (1) Der Delphin könnte einen Unterschied zwischen den Stimulusobjekten X und Y erkennen oder auch nicht. (2) Der Delphin könnte erkennen oder auch nicht, dass dieser Unterschied ein Hinweis auf ein Verhalten ist. (3) Der Delphin könnte erkennen oder auch nicht, dass sich das besagte Verhal- ten als positive oder negative Verstärkung auswirkt, dass also das »rich- tige« Verhalten mit einem Fisch belohnt wird. (4) Der Delphin könnte sich 199 entschließen oder auch nicht, das »Richtige« zu tun, nachdem er festge- stellt hat, was das »Richtige« ist. Erfolg bei den ersten drei Schritten stellt den Delphin aber lediglich erneut vor eine weitere Entscheidung ... Gerade weil wir aus der Beobachtung des Erfolgs des Tieres bei den späteren Schritten Rückschlüsse auf die grundlegenderen Schritte ziehen wollen, ist es von vorrangiger Bedeutung zu wissen, ob der Organismus, mit dem wir es zu tun haben, zu Schritt 4 fähig ist. Ist das der Fall, ent- kräftet dies alle Argumente über die Schritte 1 bis 3, außer man baut geeignete Kontrollmethoden für Schritt 4 in das Experiment ein. Obwohl Menschen imstande sind, auch Schritt 4 zu absolvieren, waren Psycholo- gen, die mit menschlichen Versuchsobjekten arbeiteten, interessanter- weise imstande, die Schritte 1 bis 3 zu studieren, ohne spezielle Vorsorge treffen zu müssen, um die Verwirrung auszuschließen, die durch diese Tat- sache entsteht. Anders ausgedrückt: Wenn Psychologen ein menschliches Versuchs- objekt ersuchen, eine Aufgabe zu erfüllen, und die Versuchsperson dies nicht tut, nehmen die Psychologen in der Regel an, dass die Ver- suchsperson die Aufgabe nicht erfüllen kann. Dies macht es den Ver- suchspersonen sehr leicht, ihre Prüfer an der Nase herumzuführen, vor allem, wenn die Psychologen wenig von diesen Versuchsperso- nen erwarten. In ihrem Buch Dibs, die wunderbare Entfaltung des menschlichen Wesens erzählt Virginia Axline über einen talentierten sechsjährigen Jungen, der mehrere Experten in solcher Weise genarrt hatte, dass sie fälschlicherweise annahmen, er sei autistisch, könne weder lesen noch schreiben und sei praktisch nicht imstande zu spre- chen. In seinem Buch 7he Naked Children erzählte Daniel Fader von einigen farbigen Schülern einer Junior High School aus Washington, die wiederum ihre Lehrer durch ihr Verhalten und ihre Testergebnisse getäuscht hatten, so dass diese fälschlicherweise annahmen, dass ihre Schüler kaum lesen bzw. richtig sprechen könnten. Bateson fährt fort: Gestatten Sie mir, für einen Augenblick die Kunst der Tiertrainer zu betrachten. Aus den Gesprächen mit diesen überaus fähigen Leuten - Trainern von Delphinen und Blindenhunden - gewann ich den Eindruck, dass der Trainer als wichtigste Voraussetzung verhindern muss, dass das Tier auf Stufe 4 überhaupt eine Entscheidung trifft. Er muss dem Tier stän- dig klar machen, dass es, sobald es weiß, welche Handlung in einem bestimmten Zusammenhang richtig ist, nur diese ausführen kann, ohne 200 den geringsten Zweifel. Die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Zir- kusdressur besteht also darin, beim Tier die Verwendung höherer Intelli- genzebenen auszuschalten. Mein angeheirateter Onkel Grove Cullum, Offizier, erfahrener Reiter und Pferdeliebhaber, brachte die Sache unverblümter auf den Punkt. Als ich einmal eine Bemerkung über die Intelligenz von Pfer- den machte, wehrte er lachend ab: »Du meine Güte, sie sind nicht intelligent. Wenn sie es wären, würden sie uns nie auf sich reiten lassen.« Als ich 1959 in einer sehr exklusiven Privatschule, die mit nur wenigen Ausnahmen ausschließlich Schüler mit einem IQ von über 120 zuließ, eine fünfte Schulstufe unterrichtete, schrieb ich: »Schule ist ein Ort, an dem Kinder lernen, dumm zu sein.« Obwohl ich sah, dass es so war, wusste ich nicht, warum es so war. Was war selbst an dieser dynamischen, »kreativen«, auf die Bedürfnisse der Kinder gerichteten Schule dran, das Kinder dumm machte? Wie ich in Aus schlauen Kindern werden Schüler schrieb, kam ich später zu der Ansicht, dass der Grund dafür Angst, Langeweile und die Verwirrung darüber war, dass sie ständig bedeutungslose Wörter und Symbole verarbeiten mussten. Heute sehe ich, dass es wesentlich mehr als nur das war: Es war die Tatsache, dass andere die Kontrolle über ihren Geist übernommen hatten. Was sie (zumindest in der Schule) dumm gemacht hatte, war die Tatsache, dass sie unterrichtet wurden wie Zirkustiere, die auf Kommando Tricks vorführten. Auf Grundlage weitreichender Erfahrung erklärt Bateson, dass dies für alle Lebewesen gilt - und ich stimme ihm zu. Der Elefant im Dschungel ist klüger als der Elefant, der im Zirkus Walzer tanzt. Der Seelöwe im Meer ist klüger als der Seelöwe, der auf irgendeinem Instrument ein Volkslied spielt. Die Ratte, die in den Slums Abfälle frisst, ist klüger als die Ratte, die in einem psychologischen Labor den Weg durch ein Labyrinth findet. Das Krabbelkind, das alles, was es erreichen kann, berührt, hin und her dreht und betastet, ist klü- ger als das Baby, das lernt, seine Nase zu berühren, nur um seiner Mutter eine Freude zu bereiten, wenn sie ihm eine Karte zeigt, auf der das Wort NASE steht. Die wichtigste Frage, die sich jedes denkende Lebewesen stellen kann, lautet: »Worüber sollte man nachdenken?« Wenn wir einem Lebewesen das Recht verweigern, diese Frage selbst zu entschei- 201 den, wenn wir versuchen zu kontrollieren, worauf es seine Aufmerk- samkeit lenken und worüber es nachdenken soll, bewirken wir, dass es weniger aufmerksam, erfindungsreich und lernfähig wird. Oder vorsichtig ausgedrückt: weniger intelligent - und geradeheraus ge- sagt: dümmer. Dies ist vielleicht die richtige Stelle, um eine Frage zu beantwor- ten, die mir bisher schon viele Menschen gestellt haben: Was halte ich von Babytrainingsbüchern - Lehren Sie Ihr Kind dieses, Lehren Sie es jenes, Wecken Sie das Genie in Ihrem Kind und so weiter. Ich bin gegen derartige Bücher. Die Tricks, die Eltern in diesen Büchern erfahren, um ihren Babys etwas beizubringen, sind weder notwen- dig noch sehr hilfreich und können auf lange Sicht sogar schädlich sein. Wenn ein Baby Tricks lernt, z.B. den des Lesens, bestärken wir es in dem Glauben, dass Lernen nichts anderes bedeutet, als von jemandem unterrichtet zu werden, verschiedene Tricks zu vollführen. Dadurch schwinden der Wunsch und die Fähigkeit des Babys, die Welt um sich auf eigene Art und Weise und aus eigenen Gründen zu erforschen und zu verstehen. Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass Fachleute Babys tatsächlich bereits in jungstem Alter eine beeindruckende Vielzahl an Tricks beibringen können. Aber das hat wenig bis gar nichts mit ech- tem Lernen zu tun oder mit der Fähigkeit des Lernens an sich. Wie ich in dem Buch Aus schlauen Kindern werden Schüler schrieb, hat Intelligenz nichts damit zu tun, wie viele Dinge wir wie tun können. Es hat mit unserer Fähigkeit zu tun, uns wichtige Fragen auszuden- ken, um dann Mittel und Wege zu finden, darauf nützliche Antwor- ten zu erhalten. Diese Fähigkeit ist kein Trick, der einem beigebracht werden kann, denn das ist gar nicht nötig. Wir alle werden mit die- ser Fähigkeit geboren, und wenn unsere anderen animalischen Grundbedürfnisse gestillt sind und wir einen angemessenen Zugang zur Welt um uns haben, werden wir unsere Fähigkeit in dieser Welt einsetzen. 202 9 Lernschwierigkeiten LERNSCHWIERIGKEITEN KONTRA LERNBEHINDERUNGEN Ich habe dieses kurze Kapitel, das möglicherweise eines Tages Teil einer längeren Arbeit zu diesem Thema wird, aus mehreren Grün- den hier eingefügt: Erstens, weil Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, hin und wieder feststellen, dass Kinder Buchstaben seitenverkehrt schreiben, Wörter von hinten nach vorne buchsta- bieren, oder rechts und links verwechseln. Diese Eltern sollten sich dadurch nicht beunruhigen lassen und denken, die ganze Angele- genheit »Experten« überlassen zu müssen. Zweitens haben Eltern, die ihre Kinder zur Schule schicken, vielleicht schon zu hören bekom- men, dass ihre Kinder dieselben Probleme haben. Auch diese Eltern sollten nicht in Panik geraten. Hingegen sollten sie extrem skeptisch dem gegenüber sein, was ihnen die Schulen und deren Spezialisten über ihre Kinder und deren Zustand und Bedürfnisse sagen. Vor allem sollten sie verstehen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit die Schule und die damit verbundenen Spannungen und Ängste diese Schwierigkeiten hervorrufen, und dass die beste Behandlung ver- mutlich darin besteht, dass man das Kind gänzlich aus der Schule nimmt. Drittens sollten sich Eltern dem allgemeinen Anspruch sei- tens der Schulen widersetzen, nur sie seien kompetent, Kinder zu unterrichten, weil nur sie Lernbehinderungen erkennen und thera- pieren könnten. Wenn Pädagogen oder andere Menschen mit mir über »Lernbe- hinderungen« sprechen, stelle ich ihnen gerne folgende Fragen: 203 »Wie unterscheiden Sie zwischen Lernschwierigkeiten (die wir alle erleben, sobald wir etwas Neues erlernen) und einer Lernbehin- derung? Wie stellen Sie diese fest, und auf welcher Grundlage ent- scheiden Sie (oder wer auch immer), ob das Nervensystem des Ler- nenden für die vorhandenen Lernschwierigkeit verantwortlich ist, oder ob die Gründe außerhalb des Lernenden liegen - wie etwa in der Lernsituation, der Methodik oder der Person des Lehrers oder dem Lehrstoff selbst? Und wenn Sie festlegen, dass die Schwierig- keiten beim Lernenden selbst liegen, wer entscheidet auf welcher Basis, ob die entdeckte Ursache heilbar ist und wie?« Sollten einmal Leser diese Fragen einer Schule stellen, wüsste ich nur allzu gerne, welche Antworten sie erhalten, denn ich habe nie schlüssige Antworten auf diese Fragen bekommen. Stattdessen höre ich immer wieder verärgerte Beteuerungen, dass Lernbehinderungen »real« seien, das heißt, dass sie im Nervensystem der Kinder einge- baut seien. Hier einige Gründe, warum ich dies nicht glaube, und einige mögliche wahre Ursachen und was wir dagegen unternehmen können. NIEMAND SIEHT VERKEHRT Vor einigen Jahren druckte eine landesweit publizierte Zeitschrift für irgendeine Organisation eine volle Werbeseite über so genannte »Lernbehinderungen«. Oben auf der Seite stand in Großbuchstaben: SEHT, WIE JOHNNY LIEST. Darunter das Foto eines aufgeschlagenen Kinderbuchs in Großdruck, so dass auch die Betrachter der Werbung das Buch lesen konnten, in dem die Geschichte der »Drei kleinen Schweinchen« erzählt wurde. Aber viele Buchstaben der Geschichte waren auf seltsame Weise verschoben und verdreht. Einige standen auf dem Kopf, andere waren spiegelverkehrt. Mitunter waren zwei in einem Wort nebeneinander liegende Buchstaben in ihrer Anordnung verwechselt worden, dann wieder war ein ganzes Wort rückwärts buchstabiert. Unter dem Foto befanden sich erneut in Großbuchsta- ben die Worte: STELLEN SIE SICH VOR, WIE JOHNNY SICH FÜHLT. Darauf folgte noch ein Text über all jene Kinder, die an »Lernbehin- derungen« litten, und über das gesamte Therapieprogramm dieser Organisation. Die Botschaft war klar. Wir sollten glauben, dass viele Kinder ein ähnliches Bild sähen wie das Foto in der Werbung, wenn sie sich ein 204 Buch anschauten, und dass sie deshalb nicht lesen konnten. Und wir sollten glauben, dass diese Organisation etwas dagegen tun könne und auch tun würde - was dies sein sollte, war jedoch nicht klar - sofern wir sie in ausreichendem Maß unterstützten. Als ich mir das Foto von dem Kinderbuch nochmals ansah, stellte ich fest, dass ich es ohne Mühe lesen konnte. Selbstverständlich hatte ich gegenüber dem sagenhaften Johnny zwei Vorteile: Ich konnte bereits lesen, und ich kannte die Geschichte. Ich las sie zwar etwas langsamer als üblich und musste hin und wieder ein wenig über ein Wort nachdenken und es Buchstabe für Buchstabe betrach- ten. Aber insgesamt war es nicht schwierig. Ich hörte nicht zum ersten Mal diese Theorie der Leseschwäche, dass irgendetwas unter der Haut oder im Schädel der Kinder - eine Art Maxwellscher Dämon (diesen Ausdruck hatte man aus der Phy- sik entliehen) des Nervensystems - Buchstaben immer wieder auf den Kopf stellte, verdrehte oder ihre Reihenfolge veränderte. Ich habe noch nie etwas von dieser Theorie gehalten. Sie hat schon die ersten beiden Prüfungen jeder wissenschaftlichen Theorie nicht bestanden: (1) dass sie auf den ersten Blick plausibel ist; (2) dass sie die offen- sichtlichste oder wahrscheinlichste Erklärung für ein Problem bietet. Diese Theorie wirkte und wirkt immer noch vollkommen unglaub- würdig, und dies aus wesentlich mehr Gründen, als ich hier anführen werde. Und es gibt bedeutend einfachere und wahrscheinlichere Erklärungen für diese Tatsachen. Diese Theorie stützt sich nur auf folgende Fakten: Wenn man gewisse Kinder ersuchte, bestimmte Buchstaben oder Wörter zu schreiben - und dabei handelte es sich üblicherweise um Kinder, die eben erst lesen und schreiben lernten - schrieben sie einige Buchstaben seitenverkehrt, verwechselten die Reihenfolge von zwei oder mehreren Buchstaben in einem Wort oder schrieben ganze Wör- ter rückwärts. Hierbei ist zu erwähnen, dass die meisten Kinder, die Wörter rückwärts schreiben, dabei meist nicht alle einzelnen Buch- staben seitenverkehrt schreiben. Ich war zu sehr mit anderen Aufgaben beschäftigt, um diese Theorie zu widerlegen. Dann jedoch unterrichtete ich eine Weile in unmittelbarer Nachbarschaft einer der angeblich besten Schulen für Kinder mit »Lernbehinderungen« (LB) in New England. Zunächst fiel mir auf, dass in diesem besonderen Lernsanatorium niemand je geheilt wurde. Wenn die Kinder hineingingen, konnten sie nicht lesen, 205 und wenn sie Jahre später herauskamen, konnten sie es immer noch nicht. Niemand schien deshalb beunruhigt zu sein. Offenbar galt diese Schule deshalb als »beste« ihrer Art, weil sie bessere Antwor- ten als alle anderen auf die Frage hatte: »Wenn Sie entschieden haben, dass ein bestimmtes Kind nicht lesen lernen kann, was tun Sie dann mit ihm den ganzen Tag über an diesem Ort, der sich selbst als Schule bezeichnet?« Als ich später hauptberuflich Vorträge vor Gruppen über das Thema Veränderungen im Ausbildungssystem hielt, kam ich mit anderen LB-Gläubigern und -Experten in Kontakt. Je mehr ich von ihnen sah und hörte, desto weniger glaubte ich ihnen. Aber ich war immer noch viel zu beschäftigt, um mich auf eine längere Auseinandersetzung mit ihnen einzulassen oder auch nur über sie nachzudenken. Als ich eines Morgens in Boston durch den Stadtpark zu meinem Büro spazierte, stellte mir mein Unterbewusstsein eine Frage. Zunächst sagte es: »Die LB-Leute sagen, dass diese Kinder einen Buchstaben, wie etwa ein P, deshalb seitenverkehrt schreiben, weil sie, wenn sie ein korrektes P betrachten, es seitenverkehrt sehen. Lass uns all dies in einem Diagramm aufzeichnen.« PO) 112 314 GG »In Fläche 1 steht das korrekte P, welches das Kind kopieren soll. In Fläche 3 steht das seitenverkehrte P, das es zeichnet, weil es (wie man uns sagt) das P angeblich so sieht. In Ordnung. In Fläche 2 wol- len wir das P so schreiben, wie es das Kind angeblich sieht, wenn es das korrekte P von Fläche 1 betrachtet.« (Die geschwungene Linie versinnbildlicht die Wahrnehmung.) Nun kam die entscheidende Frage. »Was sieht das Kind, wenn es das seitenverkehrte P in Fläche 3 betrachtet, das es selbst gezeichnet hat?« Ich hielt mitten in der Bewegung inne und sagte laut: »Ich fasse es nichtl« Denn wenn der Geist des Kindes alle Formen umkehrt, die 206 er wahrnimmt, dann wird er das seitenverkehrte P in Fläche 3 als korrektes P sehen. Unser Diagramm würde demnach folgendermaßen aussehen: P | 112 3/4 TP Wenn es stimmt, was LB-Experten sagen, dann wurde dieses erfun- dene Kind das P Nr. 1 betrachten, es als P Nr. 2 wahrnehmen, es als P Nr. 3 zeichnen, dieses wiederum betrachten, und als P Nr. 4 waht- nehmen. Was das Kind gezeichnet hatte, wurde ihm nicht als das erscheinen, was es zu kopieren versucht hatte. Es wurde sich den- ken: »Ich habe einen Fehler gemacht« und wurde sein P seitenver- kehrt zeichnen. Zumindest wurde es so handeln, wenn die Behaup- tung der LB-Experten stimmte und die Zeichnung des Kindes eine genaue Kopie dessen ware, was es wahrgenommen hatte. Selbst wenn der Geist des Kindes jede Form umdrehte, wurde ihm ein sei- tenverkehrtes P immer noch seitenverkehrt vorkommen! Um es noch deutlicher auszudrucken: Wenn wir uns die Formen ansehen, die Menschen zeichnen, können wir keine Aussage darüber treffen, ob sie Formen seitenverkehrt wahrnehmen oder nicht, denn sie würden in beiden Fällen dieselben Formen zeichnen! Damit fällt die Theorie zu dieser »Wahrnehmungsstörung« Er zeichnet seitenverkehrt, weil er seitenverkehrt sieht in sich zusam- men. Weder erklärt sie, was sie erklären will, noch erklärt sie sonst etwas - denn sie wird nur von der Tatsache gestützt, dass das Kind Buchstaben seitenverkehrt zeichnet. Das ist ihr einziger Beweis. Warum hält sich diese offensichtlich falsche Theorie dann so beharr- lich? Weil sie aus vielen Gründen vielen Menschen gelegen kommt: Eltern, Lehrern, Schulen, LB-Experten und dem gewaltigen Wirt- schaftszweig, der sich rund um diese Menschen entwickelt hat - und mitunter sogar den Kindern selbst. Auch wenn diese Theorie kaum jemandem helfen wird, lesen zu lernen, hält sie eine ganze Menge Menschen auf Trab, macht viele reicher, und nahezu alle fühlen sich 207 dadurch besser. Theorien, die all dies bewirken, sind nur schwer aus- zurotten. Warum zeichnet das Kind das P denn nun wirklich seitenver- kehrt? Wenn es nicht die Form reproduziert, die es wahrnimmt - wie ich gezeigt habe - was tut es dann? Die Antwort ist für all jene klar ersichtlich, die kleine Kinder bei ihren ersten Versuchen beobachtet haben, Buchstaben zu schrei- ben. Langsam, zögernd und ungelenk versuchen sie das, was sie sehen, in ein »Programm« zu verwandeln, in eine Reihe von Anord- nungen für die Hand, die den Bleistift hält. Und dann versuchen sie, die Hand dazu zu bewegen, diese Anordnungen auszuführen. Genau dasselbe tun wir alle, wenn wir etwas zu zeichnen versuchen. Wir sind keine wandelnden Kopiermaschinen. Wenn wir versuchen, einen Stuhl zu zeichnen, »kopieren« wir ihn nicht. Wir betrachten ihn eine Weile, und »sagen« dann unserer Hand, was sie zeichnen soll, etwa eine vertikale Linie von bestimmter Länge. Dann sehen wir uns den Stuhl nochmals an, kehren wieder zum Papier zurück und »sagen« unserer Hand, dass sie sich bis zur Hälfte der vertikalen Linie hinaufbewegen soll, und von diesem Punkt aus eine Linie von bestimmter Länge und bestimmter Richtung zeichnen soll. Wenn wir wie geübte Künstler gut darin sind, das Gesehene in Anweisungen für unsere Hand umzuwandeln, werden wir ein gutes Abbild des Stuhls zeichnen. Wenn wir nicht so geübt sind, wird es uns weniger gut gelingen. Auf dieselbe Weise betrachtet das Kind das P. Es sieht eine Linie, die von oben nach unten geht. Das Kind blickt auf das Papier, sagt seiner Hand: »Zeichne eine Linie, die von oben nach unten geht«, und zeichnet dann diese Linie. Dann sieht es wieder zu dem P hinü- ber und sagt seiner Hand, sie solle an das obere Ende der senk- rechten Linie gehen und von dort aus eine Linie zur Seite ziehen. Nun sieht das Kind wieder zu dem P und erkennt, dass die Linie zur Seite geht, sich nach unten krümmt, und nach einer Weile wieder zurückführt, bis sie die senkrechte Linie erneut trifft. Es sagt seiner Hand, genau das zu tun. Wenn Sie ein kleines Kind dabei beobach- ten, wissen Sie, dass es zwei oder drei Versuche mit dem Bleistift benötigt, um die gesamte Kurve zu zeichnen. Mitunter wechselt die Kurve in der Mitte die Richtung und muss korrigiert werden. Schliefß- lich gelingt es dem Kind, die gekrümmte Linie mit der senkrechten Linie zu vereinen. 208 Zu diesem Zeitpunkt werden die meisten Kinder das gesehene P mit dem selbstgemachten vergleichen. Ist das P seitenverkehrt gezeichnet, werden es die meisten vermutlich sofort erkennen, weil es nicht genau gleich aussieht und in die falsche Richtung weist, und es sich vermutlich im Geist sagen. Andere werden sich nur undeut- lich bewusst sein, dass die beiden Bäuche nicht in dieselbe Richtung weisen, aber für sie wird diese Tatsache keinen Unterschied machen, so wie es für meine Bank bedeutungslos ist, wenn sich meine Unter- schriften nicht vollständig gleichen. Aus der Sicht der Kinder ist es nur allzu verständlich, dass die- ser tatsächliche Unterschied für sie keinen Unterschied macht. Immerhin haben sie sich schon lange genug Bilder von Objekten, Menschen, Tieren usw. angesehen und wissen, dass ein Hund auf einem Bild immer ein Hund ist, ob er nun nach rechts oder links sieht. Sie verstehen auch ohne Worte, dass das Bild auf einer Buchseite oder das Foto eines Hundes, einer Katze, eines Fahrrades, einer Tasse, eines Loffels usw. für ein Objekt steht, das man bewegen, umdrehen und von verschiedenen Winkeln aus ansehen kann. Des- halb ist es für Kinder auch vernünftig anzunehmen, dass das Bild eines P auf einer Seite für ein P-förmiges Objekt steht, das selbst- ständig existiert und hiermit ein Objekt ist, das man in die Hand neh- men, umdrehen oder auf den Kopf stellen kann. Vielleicht fühlen das nicht alle Kinder gleich stark. Aber für jene, die es so fühlen, und die gesagt bekommen, das von ihnen »seitenverkehrt« gezeichnete P sei »falsch« oder überhaupt kein P, muss dies sehr verwirrend und sogar beängstigend sein. Wenn ein Pferd, ein Hund, eine Katze oder ein Auto in jede beliebige Richtung zeigen kann, warum darf man dann nicht ein P, B oder E in jede beliebige Richtung zeichnen? Warum ist es »richtig«, einen Hund zu zeichnen, der nach links blickt, aber »falsch«, ein P zu zeichnen, das in dieselbe Richtung weist? Im Fall derartiger Verdrehungen sollten wir sehr sorgfältig darauf achten, nie die Worte »richtig« oder »falsch« zu verwenden. Wenn wir ein Kind auffordern, ein P zu zeichnen und es zeichnet stattdessen ein T, könnten wir sagen: »Nein, das ist kein P, das ist ein T.« Aber wenn wir es auffordern, ein P zu zeichnen, und es zeichnet eines, das nach links weist, sollten wir sagen: »Ja, das ist ein P, aber wenn wir ein Bild von einem P zeichnen, zeichnen wir es immer so, dass es in diese Richtung weist. Es ist nicht wie ein Hund oder eine Katze, die wir in jede Richtung blicken lassen können.« Selbstverständlich ist es 209 nicht notwendig, diese kleine Erklärung auch jenen Kindern zu geben, die ohnehin nie seitenverkehrte Buchstaben zeichnen. Im Grunde stünden die Chancen gut, dass Kinder, die zu Beginn bestimmte Buchstaben seitenverkehrt zeichnen, irgendwann von selbst den Unterschied zwischen ihren Ps und unseren erkennen und korrigie- ren - wie dies auch bei Fehlern in ihrer Sprache der Fall ist -, wenn wir nicht so großes Aufheben darüber machten. Aber wenn uns der Mut verlässt und wir das Gefühl haben, etwas wegen seitenverkehr- ter Ps sagen zu müssen, sollte es etwas in der Art sein, wie ich es oben beschrieben habe. Ich vermute jedoch, dass die meisten Kinder, die häufig seiten- verkehrte Buchstaben schreiben, die Formen gar nicht vergleichen. Wie so viele Kinder, die ich kennengelernt und unterrichtet habe, sind sie ängstlich, durch Regelungen gehemmt und ständig panisch auf der Suche nach dem, was die Erwachsenen von ihnen wollen. Sie setzen einfach das P, das sie vor sich sehen, in eine Reihe von Anwei- sungen um, prägen sich diese Anweisungen ein und vergleichen dann das von ihnen gezeichnete P mit ihren Anweisungen. »Habe ich es richtig gemacht? Ja, die eine Linie geht von oben nach unten, und da ist die Linie die vom oberen Ende zur Seite geht, eine Kurve macht und wieder auf die Linie trifft, die von oben nach unten führt. Ich habe die Regeln befolgt und alles richtig gemacht, deshalb muss es richtig sein.« Vielleicht versuchen sie auch, die Formen zu vergleichen, sind aber zu ängstlich, um sie deutlich zu sehen. Wie es bei ängstlichen Menschen oft der Fall ist, könnten sie in dem Moment, in dem sie die Augen vom Original-P zu dem von ihnen gezeichneten P gleiten las- sen, bereits das Original-P vergessen haben, oder sie vertrauen nicht auf die Erinnerung, die sie von ihm haben. Dieses Gefühl, plötzlich nicht mehr seiner eigenen Erinnerung vertrauen zu können, ist nicht ungewöhnlich, und kommt vor allem bei ängstlichen Menschen häu- fig vor. Wenn ich eine Telefonnummer heraussuche, sehe ich oft zwei oder drei Mal hintereinander nach, weil ich mich jedes Mal, wenn ich die Nummer wähle, plötzlich frage: »Habe ich sie jetzt auch richtig im Kopf?« Üblicherweise kann ich diesen unsinnigen Kreislauf nur dann durchbrechen, wenn ich mir sage: »Egal, ob richtig oder falsch, ich wähle sie einfach.« Zumeist stellt sie sich als richtig heraus. Ich kann mir jedoch gut vorstellen, dass eine Person, die wenig Vertrauen in sich hat, diesen Prozess häufiger durchläuft. Ich bin sicher, dass viele 210 meiner durchgefallenen Schüler während der Prüfung ständig den Gedanken im Kopf hatten: »Wenn ich daran denke, muss es falsch sein.« Es ist auch gut möglich, dass ein Kind, wenn es sich eine Reihe von Anweisungen für seine Hand ausdenkt, auch rechts und links berücksichtigen will. Allerdings baut es dabei einiges an Verwirrung ein, worauf ich später in diesem Kapitel zurückkommen werde, so dass »rechts« beim Blick auf das P möglicherweise genau das Gegen- teil von »rechts« ist, wenn das Kind sein eigenes P zeichnet. Unab- hängig von den möglichen Gründen, aus denen Kinder Buchstaben seitenverkehrt zeichnen, gibt es keinen Grund zu glauben, dass sie diese tatsächlich seitenverkehrt sehen. STRESS UND WAHRNEHMUNG Aus der Art und Weise, wie eine bestimmte Expertengruppe For- schungen betreibt, lässt sich viel über ihre Kompetenz ableiten. Im Ersten Weltkrieg zeigten sich erste Hinweise darauf, dass lang anhaltende Ängste und Stress schwere Schäden im menschlichen Nervensystem hervorrufen. Die Schützengräben waren eine Art sata- nisches Labor für Stress. Mehr Soldaten als je zuvor lebten längere Zeit als je zuvor in Kälte und Feuchtigkeit, in ständiger Lebensgefahr und häufig auch unter konstant schwerem Bombardement. Unter die- sen Bedingungen litten viele an einer Störung, welche die Ärzte als Schützengrabenschock bezeichneten. Einige erblindeten vollständig, wurden taub, gelähmt oder zitterten am ganzen Körper, wieder andere verloren vollständig die Kontrolle über ihre Muskulatur. Zunächst vermuteten die Vorgesetzten ein Tauschungsmandver. Aber schon bald stellte sich heraus, dass diese Soldaten nichts vor- täuschten. Ihre vielfach wie körperlich erscheinenden Leiden ließen sich nur heilen, indem man diese Männer aus der Stress-Situation herausbrachte, also weg von der Front. Nach einer Weile an einem sicheren und ruhigen Ort erholten sie sich wieder, so dass sie ihre Seh- und Hörfähigkeiten sowie die Kontrolle über ihren Körper ganz oder teilweise zurückerlangten. Viele konnten sogar wieder an die Front zurückkommandiert werden. Im Zweiten Weltkrieg passierte dasselbe. Viele Soldaten der bri- tischen Truppen, die an den Stränden von Dünkirchen tagelang unter 211 ständigem Beschuss durch Maschinengewehre und Flugzeuge gestanden hatten, brachen infolge dieses Stresses auf dieselbe Art und Weise zusammen. Unter Ärzten im Zweiten Weltkrieg hieß dieses Symptom »Psychoneurose«. Die Behandlung bestand grundsätzlich aus derselben Maßnahme: Die betroffenen Männer wurden aus der Gefahrenzone und somit aus der Stress-Situation weggebracht. In den Jahren, die seitdem vergangen sind, haben sich die Hin- weise gehäuft, dass Stress die Ursache für körperliche Leiden sein kann. Sowohl in meiner eigenen Arbeit mit den Kindern, die ich unter- richtete, als auch bei meinen ersten Bemühungen, ein Musikinstru- ment zu erlernen, habe ich allmählich festgestellt, dass es Kindern —- und auch mir - durch Angst wesentlich schwerer fällt, klar zu sehen und zu denken. In meinem Buch Aus schlauen Kindern werden Schüler beschreibe ich, wie ich eines Tages aufgrund von Stress für kurze Zeit die Fähigkeit verlor, zu begreifen, was ich sah. Fünf Jahre später beschrieb George Dennison in seinem Buch Das Leben von Kindern (Titel der Neuausgabe: Gestaltpädagogik in Aktion. Ein Pra- xisbericht) in schmerzlichen und beinahe klinischen Details die Aus- wirkungen von Stress und Angst auf einen seiner Schüler. Vernünftigerweise hätte man dadurch annehmen können, dass Lehrer und Erzieher, die behaupteten, dass einige Kinder aufgrund von »Wahrnehmungsstörungen« unter Lernschwierigkeiten litten, nach möglichen Verbindungen zwischen diesen Folgestörungen und den Ängsten von Kindern suchten. Soweit ich bisher feststellen konnte, haben dies nur wenige getan. Vor nicht allzu langer Zeit war ich einer von vielen Rednern bei einer großen Konferenz von Fachleuten zum Thema »Lernbehinde- rungen«. Vor mehr als eintausend Menschen sprach ich über die Beweise für eine Verbindung zwischen Angst und Wahrnehmungs- störungen und anderen Lernblockaden. Ich sprach über die medizi- nischen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen und meine eigenen Erfah- rungen als Lehrer und als Anfänger beim Erlernen eines Musik- instruments. Dann bat ich um Meldungen zu folgenden Fragen: »Wer von Ihnen hat von einer Untersuchung über mögliche Verbin- dungen zwischen Wahrnehmungsstorungen bei Kindern und ihren Ängsten gehört - aber nur davon gehört, nicht selbst Messungen durchgeführt, wie auch immer diese Ängste gemessen wurden? Wie viele von Ihnen haben je von einer Untersuchung gehört, die es sich zum Ziel gesetzt hat festzustellen, ob und in welchem 212 Ausmaß eine Verringerung der messbaren Ängste von Kindern auch eine Verringerung des Auftretens von Wahrnehmungsstörungen bewirkt?« In diesem Saal von über eintausend Fachleuten auf diesem Gebiet hoben nur zwei Menschen die Hand. Was die anderen mögli- cherweise wussten, weiß ich nicht. Auf jeden Fall hoben nur zwei die Hand. Ich fragte nach, was sie wussten. Einer erzählte mir von einer Studie, von der ich vor langer Zeit gehört hatte. Sie wurde von einem gerade erst diplomierten Psychologen durchgeführt, der sich inner- halb des »Bildungsestablishments« noch keinen Namen gemacht hatte. Er hatte eine starke Wechselbeziehung zwischen den Ängsten der Kinder und Wahrnehmungsstörungen entdeckt und festgestellt, dass durch eine Verringerung der Ängste tatsächlich auch das Auf- treten derartiger Störungen stark zurückging (daneben spielte die Ernährung noch eine wichtige Rolle). Der andere Zuhörer, der seine Hand gehoben hatte, sagte nichts, schrieb mir jedoch später einen Brief. Er war und ist Pro- fessor für Pädagogik an einer führenden Universität in genau der Stadt, in der die Konferenz stattfand. Auch er hatte jene Art von Verbindung vermutet, über die ich gesprochen hatte. Daraufhin hatte er eine Methode für den Leseunterricht entwickelt, die seiner Meinung nach diese Angst minderte und hatte diese Methode bei einigen Schülern einer Klasse angewendet, die angeblich unter »Wahrnehmungsstörungen« litten. Bereits nach kurzer Zeit waren diese nach Meinung ihrer Klassenlehrer wesentlich weniger gehan- dicapt als zuvor. Und dies ungeachtet der Tatsache, dass diese Klasse vermutlich erheblich mehr unter Stress stand als so manche andere, die ich kannte, oder wie dieser Professor sie selbst gestal- tet hätte, wenn er nicht in relativ kurzer Zeit Ergebnisse hätte vor- weisen müssen. An anderen Orten und zu anderen Zeiten hatte ich noch weitere Fragen gestellt, die ich bei dieser Gelegenheit nicht stellen wollte. Als ich erstmals davon hörte, dass Jungen vier bis fünf Mal so häufig unter »Wahrnehmungsstörungen« oder »Lernbehinderungen« litten wie Mädchen, stellte ich in einem Brief, der an eine landesweit publi- zierte Zeitschrift gerichtet war, die Frage, ob es bereits Untersu- chungen gab über mögliche Verbindungen zwischen dieser vier- bis fünffachen Häufigkeit und dem Geschlecht der Lehrperson. Bisher 213 habe ich noch von keiner derartigen Untersuchung gehört. Es wäre jedoch gewiss interessant zu erfahren, welche Zusammenhänge möglicherweise zwischen dem Auftreten von »Wahrnehmungs- störungen« bei Kindern und der messbaren Angst ihrer Lehrer beste- hen. Soweit ich weiß, gibt es auch darüber noch keine Untersuchung. Mittlerweile haben wir guten Grund, dem Fachwissen von Exper- ten, die derartigen Fragen ausweichen, äußerst skeptisch gegen- überzustehen Noch eine weitere Anmerkung zu dieser LB-Konferenz. Auf einem der vielen Büchertische gab es auch Kopien eines Newsletters, der von einer führenden LB-Vereinigung herausgegeben wurde. Als ich einen davon durchlas, stieß ich im Artikel der ehemaligen Präsiden- tin der Vereinigung auf einen überaus ungewöhnlichen Satz. Sie sagte, dass LB-»Spezialisten« entschieden darauf beharren sollten, dass die Ursachen für diese Lernbehinderungen immer neurologi- scher Natur seien. Gleichzeitig gestand sie ein, dass es bislang nur sehr wenige Hinweise gäbe, die diese Theorie stützten. Dann fügte sie den bemerkenswerten Satz hinzu: »Wir dürfen nicht das Fehlen von Beweisen als Beweis für ihr Fehlen annehmen.« Anders ausge- drückt: Nur weil es keine Beweise für unsere Theorie gibt, bedeutet das nicht, dass wir sie nicht weiter propagieren sollen. Die Hypothese des »Riickwirtssehens« wird von LB-Fachleuten heute nicht mehr herangezogen, um Dyslexie zu erklären. Darüber hinaus hat man viele Studien durchgeführt, um der Frage auf den Grund zu gehen, warum einigen Menschen das Lesen so schwer fällt. Bislang hat man also noch keine definitive Antwort auf die Frage gefunden, ob Lern- behinderungen ausschließlich als neurologisches Problem betrachtet wer- den sollen. Trotzdem ist Holts Aufruf; auch die Lernumgebung zu berücksichtigen, bestenfalls eine Fußnote in derartigen LB-Studien, obwohl viele Studien ergeben haben, dass LB, das ADS-Syndrom und ADHS-Verhalten außerhalb des Klassenzimmers häufig nicht sichtbar sind. Bevor Sie Ihrem Kind Medikamente wie Ritalin verabreichen, soll- ten Sie - wenn möglich - Ihr Kind selbst unterrichten oder es an einer Schule einschreiben, die Geduld und Erfahrung hat im Umgang mit Spät- lesern oder stark energiegeladenen Kindern. Heute gibt es eine Vielzahl an Literatur von Psychiatern wie Dr. Peter Bregin von der Johns Hopkins University (Talking Back to Ritalin: What Doctors Aren’t Telling You about Stimulants and ADHD), Erziehungspsychologen wie Dr. Thomas 214 Armstrong (Das Märchen vom ADHS-Kind: 50 sanfte Möglichkeiten, das Verhalten Ihres Kindes zu verbessern - ohne Zwang und ohne Psycho- pharmaka) und anderen, die über die Verzehnfachung der Verschreibun- gen von Ritalin seit Mitte der 80er Jahre für Kinder - und vor allem für Jungen - beunruhigt sind. Wie Holt bestreiten auch diese Ärzte nicht, dass es Kinder gibt, die übermäßig energiegeladen, wild oder schwierig sind; sie sagen lediglich, dass der Einsatz von Medikamenten bei diesen Kindern nicht die vorrangige Methode sein sollte, um den Kindern zu helfen, mit ihren »Lernbehinderungen« fertig zu werden.®® RECHTS UND LINKS Viele Erwachsene machen sich übertriebene Sorgen, wenn ihr Kind rechts und links verwechselt, einen Buchstaben seitenverkehrt schreibt oder einige Buchstaben in der falschen Reihenfolge liest, was darauf schließen lässt, dass es im Hinblick auf rechts und links verwirrt ist. Das Ganze nennt sich dann »gemischte Dominanz«, »Wahrnehmungsstörungen« oder »Lernbehinderungen«. Dem Kind wird rasch das Gefühl vermittelt, »ein ernstes Problem zu haben«. Spezialisten werden herbeigerufen (sofern diese bezahlbar sind), um der Sache Herr zu werden. Mir hat einmal ein Kind eine vollkommen überraschende Frage gestellt, aus der ich den Schluss zog, dass der Grund für die häufige Rechts-links-Verwechslung möglicherweise nicht bei ihnen liegt, son- dern bei uns Erwachsenen und der Art und Weise, wie wir über rechts und links sprechen. Daraus wird für uns die Verwirrung der Kinder verständlich und wir können sie leichter ausräumen. Jüngere Kinder in einer Grundschule arbeiteten gerade an einem Projekt, als ich etwas aus meinem Schreibtisch brauchte und ein Kind bat, es für mich zu holen. Es erklärte sich gerne bereit und fragte, wo es suchen solle. Ich sagte: »In der oberen rechten Schub- lade«. Daraufhin folgte eine Pause. Dann fragte das Kind: »Bei wes- sen rechter Hand, meiner oder der des Tisches?« Einen Augenblick lang war ich perplex. Dann sah und verstand ich. Das Kind sah in dem Tisch eine lebende Kreatur, die es an- schaute. Deshalb sagte ich: »Bei deiner rechten Hand.« Daraufhin ging das Kind davon und kehrte mit dem von mir gewünschten Gegenstand wieder. Und das war es. 215 Später überlegte ich mir, dass vermutlich viele kleine Kinder Ani- misten sind und Gegenstände als Lebewesen betrachten. Ich fragte mich, wie viele Kinder wohl dieselbe Frage im Kopf hatten, ohne sie je zu stellen. Und wenn sie nicht fragten, wie sollten sie je die Antwort erfahren? Vermutlich aus Erfahrung. Sie gingen zu dem Tisch, blick- ten in die vom Tisch aus betrachtet rechte Lade und fanden nichts, sahen in der von ihnen aus rechten Lade nach und fanden das Gesuchte. Auf diese Weise lernten sie genau wie das Kind, das ich in meinem Buch Wie kleine Kinder schlau werden beschrieb. Dieses Kind bat die am Tisch Sitzenden, ihm Salz, Pfeffer und Butter zu geben. Wurden ihm die Dinge gegeben, lernte es somit die Bedeu- tung der Worte. Einige Kinder könnten das Erlebnis mit dem Schreibtisch auch anders deuten. Sie könnten annehmen, der Erwachsene hätte sich in Bezug auf die Lade geirrt. Oder sie könnten glauben, dass sie selbst einen Fehler gemacht hätten, was rechts und links betraf. Kin- der, die sich sorgten, wenn sie Fehler machten, weil sich ihre Eltern oder Lehrer darüber sorgten, könnten sich bereitwillig selbst die Schuld für ihre Verwirrung geben. Als ich kürzlich eingehender darüber nachdachte, erkannte ich, dass unsere Erwachsenenregeln für rechts und links verwirrender sind, als ich angenommen hatte. Wenn wir ein Kind bitten, etwas aus der rechten Manteltasche zu nehmen, meinen wir wirklich die rechte Seite des Mantels und nicht die des Kindes. Wenn wir über den rech- ten Scheinwerfer eines Autos sprechen, tun wir das aus der Wind- schutzscheibenperspektive (in Fahrtrichtung rechts). Aber die rechte Schublade ist gegenüber unserer rechten Seite und nicht an der vom Schrank aus gesehenen rechten Seite. Mitunter sprechen wir Erwach- senen über Dinge, als wären sie Menschen und mitunter nicht. Diese Differenzierung hat für Kinder weder Hand noch Fuß. Warum sollte ein Auto, ein Schiff oder ein Zug eine eigene rechte Seite haben, ein Schrank aber nicht? [Anm. d. dt. Hrsg.: Eine mögliche Erklärung ware: Auto, Schiff oder Zug können sich fortbewegen, ein Schrank aber nicht - doch was ist mit dem Mantel?] Unter Gruppenfotos finden wir Texte wie »von links nach rechts: Jones, Smith, Brown usw.«. Das Kind hort einen Betrachter sagen: »Der dort rechts bin ich.« Vom Betrachter oder von der Gruppe aus rechts? Die Menschen auf der rechten Seite, sind in Wirklichkeit die auf der linken Seite und umgekehrt. 216 Doch wie werden wir das je lernen? Meist auf dieselbe Weise, wie wir die Grammatik unserer Sprache erlernen, die so kompliziert ist, dass man sie bislang noch keinem Computer beibringen konnte. Kinder lernen sehr früh, dass sich die Worte »ich, du, er, sie, es« USW. auf unterschiedliche Menschen beziehen, in Abhängigkeit von der Person, die sie sagt. Wenn man darüber nachdenkt, ist dies auch keine leichte Sache. Aber niemand hat es ihnen je erklärt. Und auch sie selbst sagen sich nicht als Kind: »/ch bezieht sich auf die Person, die spricht; du bezieht sich auf die Person, die angesprochen wird; wir bezieht sich auf ich und du gemeinsam; er, sie, es bezieht sich auf Personen oder Dinge, über die gesprochen wird.« Sie verwenden die Worte einfach in dieser Weise und es funktioniert. Ebenso denken die wenigsten Kinder: »Autos, Boote, Mäntel, Züge, Flugzeuge haben alle eine eigene rechte Seite, während Bücher, Fotos, Schreibtische und Häuser keine eigene rechte Seite haben.« Sie lernen einfach aus Erfahrung, was wie verwendet wird, und machen sich keine Gedanken über Widersprüche - ebenso wenig wie sich französische Kinder fragen, warum ein Haus weiblich ist, aber ein Gebäude männlich, ein Mantel männlich und ein Hemd weiblich, und deutsche Kinder fragen sich nicht, warum es das Tor und die Tür heißt. Die meisten Kinder machen sich keine Gedanken über diese Widersprüchlichkeiten, andere schon, ohne sich weiter darum zu kümmern oder einen Sinn darin erkennen zu wollen - so und nicht anders ist es einfach. Aber manche Kinder sind Philosophen. Sie untersuchen alles. Sie erwarten und wollen, dass die Dinge einen Sinn ergeben, und wenn dem nicht so ist, wollen sie den Grund dafür in Erfahrung bringen. Wieder andere fühlen sich durch diese Verwir- rung und dieses Paradox beeinträchtigt, besonders wenn sie sehen, dass die Menschen handeln, als ergäben die Dinge einen Sinn, wo keiner erkennbar ist. Auf einer tieferen Ebene ihres Seins fragen sie sich: »Bin ich verrückt?« Ich vermute, dass der Großteil der Kinder, die in der Schule und im Leben ständig Schwierigkeiten mit links und rechts haben, letz- terer Gruppe angehört. Nachdem sie mehrere Rechts-links-Fehler gemacht haben, die ihnen nur unterlaufen sind, weil sie unsere ver- rückten Regeln für rechts und links noch nicht begriffen haben, glau- ben sie allmählich: »Ich muss dumm sein. Die Sache mit rechts und links werde ich nie begreifen.« Schon bald geraten sie in Panik, 217 sobald sie die Worte nur hören. Werden sie nach rechts und links gefragt, versuchen sie durch geschicktes Taktieren, andere Hinweise herauszulocken. Allgemein nehmen sie an, dass mit ihnen selbst etwas nicht stimmt. Wenn sich dies wirklich so verhält, was können wir dann dage- gen unternehmen? Zunächst sollten wir es uns nicht zur Aufgabe machen, die Regeln für links und rechts zu »lehren«. Die meisten Kin- der haben auch ohne Unterweisung herausgefunden, wo links und WO recht ist. Man hat ihnen lediglich im Kleinkindalter gesagt: »Das ist deine rechte Hand, das ist dein linker Fuß« usw. Sie sollen ruhig auf diese Weise weiterlernen. Aber wenn ein Kind in dieser Hinsicht verwirrt oder ängstlich wirkt, können wir die Regeln ein wenig ver- deutlichen indem wir sagen: »Ich meine deine rechte Hand und nicht die rechte Seite des Schreibtischs« oder »Ich meine die rechte Seite des Mantels, nicht deine rechte Seite.« Vielleicht fügen wir auch noch hinzu: »Ich weiß, dass es ein wenig verrückt klingt, aber so sehen wir die Dinge. Mach dir keine Gedanken, du wirst dich schon daran gewohnen.« OST UND WEST Als ich uber rechts und links nachdachte, fiel mir die Geschichte eines Geografielehrers von einer Uberaus interessanten und uber- raschenden Entdeckung ein. Manche Kinder haben keine Schwierigkeiten im Umgang mit Karten und Himmelsrichtungen, andere hingegen reagieren wie die Kinder, die ich in meinem Buch Aus schlauen Kindern werden Schüler beschrieben habe. Sollen sie auf der Landkarte den Osten ausfindig machen, fahren sie mit den Handen in alle Richtungen, wobei sie sorgfaltig im Gesicht des Lehrers nach Hinweisen suchen, ihre diesbezuglich fahigen Klassenkameraden beobachten oder sonst wie tricksen. Die meisten Lehrer lassen es dabei bewenden und denken: »Gute Schuler, schlechte Schuler, man bekommt von jeder Sorte welche.« Aber irgendwo bemerkte ein Lehrer etwas Auffalliges. Wenn Kinder aufgefordert werden, auf einer Karte den Osten zu zeigen, deuten einige wenige immer in die falsche Richtung, aber dabei auch immer in dieselbe Richtung. Nahere Untersuchungen haben ergeben, 218 dass ein geringer Prozentsatz an Menschen - zu denen sowohl Kin- der als auch Erwachsene gehören - einen ausgeprägten Orientie- rungssinn besitzt. Es ist, als hätten sie einen Kompass im Kopf, oder als wäre der Boden unter ihren Füßen mit Richtungslinien versehen. Ob ihr Kompass und ihre Richtungslinien korrekt gekennzeichnet waren, und ob ihr Osten mit dem tatsächlichen Osten überein- stimmte, erzählte mir mein Informant nicht. Aber wenn man sie nach einer bestimmten Richtung fragte, deuteten sie immer in dieselbe Richtung. Meine Mutter besaß einen derartigen Orientierungssinn. Wenn wir auf einer unbekannten, gewundenen Straße durch die Vororte fuhren, und die Übrigen längst die Orientierung verloren hatten, wusste sie immer noch, wo wir waren, in welche Richtung wir fuhren, und welche Straße wir nehmen mussten, um an unser Ziel zu gelan- gen. Ein angeborenes Talent? Vielleicht, auch wenn man es vermut- lich erlernen kann. Für Kinder mit diesem Talent kann die Frage: »Wo ist Osten?« nur bedeuten: »Wo ist der wahre Osten, der Weltosten?« Sobald wir dies begreifen, können wir auch zwischen dem Weltosten und dem Landkartenosten unterscheiden (was wir in jedem Fall tun sollten). Sobald Kinder begreifen, welche Beziehung zwischen Land- karten und den darauf abgebildeten Gebieten besteht, was wir ihnen erleichtern können, indem wir Landkarten von ihrem Zimmer, dem Haus, dem Garten, dem Block oder dem Wohnviertel, usw. herstellen, können wir ihnen auch weiterführende Fragen stellen wie z. B.: »Wenn du hier wärest« - und dabei auf einen Punkt auf der Karte zeigen - »und du nach Osten gingest, wohin würdest du dann auf der Karte gehen?« Oder wir könnten zunächst den Weg tatsächlich abgehen und dann auf der Landkarte nachsehen, wohin wir gegangen sind. Wenn wir dies ein paar Mal machten, wäre ein Kind imstande, auch den Landkartenosten, Landkartennorden usw. zu zeigen. Als ich mit einem befreundeten Lehrer (er unterrichtet Mathe- matik) darüber sprach, lachte er und sagte, er habe als Kind jahre- lang geglaubt, dass der Norden, und damit meinte er den Weltnor- den, direkt nach oben ginge, und der Weltsüden direkt nach unten, weil er es so auf allen Landkarten gesehen hatte, die in der Schule an der Wand aufgehängt waren. Nach und nach kam er von selbst darauf, wie es wirklich war. Diese Gedanken über Osten und Westen führten mich vor kurzem zu einem neuen Gedanken. Angenommen, es gäbe einige 219 Menschen, die glaubten, dass sich rechts und links, wie Osten und Westen, auf etwas in der Welt selbst bezog, dass somit rechts ein Weltrechts bezeichnet und links ein Weltlinks. Wie könnten diese Menschen anhand unseres Gesprächs über rechts und links je he- rausfinden, was was ist? Einmal ist das Weltrechts hier, dann ist es dort. Wir können uns ihre Verwirrung und vermutlich auch ihr Ent- setzen nur schwer ausmalen. Die meisten würden wohl nach kurzer Zeit glauben, dass sie einfach zu dumm seien, um etwas herauszu- finden, das allen anderen anscheinend leicht fällt. Allerdings ließe sich die Verwirrung rasch lösen, wenn sie, oder wir, nur die richtigen Fragen stellten. Was ist zu tun, wenn ein Kind im Hinblick auf rechts und links anscheinend verwirrt ist? Zunächst sollten wir ruhig bleiben und nicht in Panik geraten. Vor allem sollten wir dem Kind ausreichend Zeit las- sen, um es selbst herauszufinden. Wir können aber auch durch kleine Hinweise helfen. Wenn wir Kindern die ersten Male sagen, wel- che Hand unsere rechte Hand ist und welche unsere linke, wäre es vermutlich günstig, dabei in dieselbe Richtung zu sehen wie das Kind. Das Kind könnte dabei vor uns stehen, oder auf unserem Schoß sit- zen. Oder wenn wir einmal in dieselbe Richtung sehen, könnten wir beide ein Spielzeug in die rechte Hand nehmen und sehen, dass unsere rechten Hände auf derselben Seite sind, solange wir in die selbe Richtung blicken, aber dass sie auf unterschiedlichen Seiten sind, sobald wir einander gegenüber stehen. Vermutlich wäre es bes- ser, nicht zuviel darüber zu reden, während wir dies tun. Zeigen Sie es dem Kind nur gelegentlich als eine weitere interessante Tatsache auf dieser Welt. Außerdem sollten wir nicht annehmen, dass Kinder, nur weil sie ihre rechte und linke Hand kennen, verstehen, was wir mit rechten Schubladen oder Manteltaschen meinen - oder dass sie damit auch all unsere seltsamen Regeln zu rechts und links begreifen. Wenn wir über derartige Dinge sprechen, sollten wir noch eine ganze Weile zusätzlich andeuten, welche Seite wir wirklich meinen. Wenn ein Kind damit offenbar keine Mühe hat, besteht keine Notwendigkeit, etwas darüber zu sagen, und ist es sogar klüger, nichts zu sagen. Wenn ein Kind jedoch übermäßig verwirrt oder ängstlich wirkt, sollten wir ihm unsere Regeln zu rechts und links deutlicher erklären. 220 10 Kinder und Arbeit DIE PASSENDE ARBEIT FINDEN In seinem Buch Aufwachsen im Widerspruch spricht Paul Goodman ein wichtiges Thema an: »Die zentrale Frage lautet, was bedeutet es, mit der Tatsache aufzuwachsen, dass ich während meiner pro- duktiven Jahre täglich acht Stunden darauf verwenden werde, etwas Sinnloses zu tun.« Später schrieb er in einem Essay, der in einer Sammlung seiner Werke unter dem Titel Nature Heals veröffentlicht wurde: Wenn Jugendliche in einer Welt aufwachsen, in der sie keine Beziehung zwischen Aktivität und Leistung erkennen können, glauben sie, dass man alles mit Blendwerk erreicht, dass man Prüfungen durch Schwindeln besteht, dass Leistung nur unter Druck erbracht wird, dass man Güter an ihrer Verpackung erkennt und dass man einen Menschen nach seinem Äußeren beurteilt. Jene Missetäter, die ohne lesen zu können die Schule verlassen und dadurch noch schlechter imstande sind, an solchermaßen geregelten Aktivitäten teilzunehmen, beweisen viel Gefühl und Leben, wenn sie direkt nach der Belohnung für diese Aktivitäten streben - nach Geld, Glamour und Berühmtheit ... Es ist wahrlich entmutigend, mit einer Gruppe Jugendlicher zusammen zu sein, die einfach nicht wissen, was sie mit sich und ihrem Leben anfan- gen sollen. Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann? Sie haben einfach kein Ziel und nicht genug Fantasie, um sich eines auszu- denken. Aber es stimmt nicht, dass es ihnen einerlei ist. Ihr »Na und?« offenbart Verletzlichkeit, ihr Blick ist schrecklich scheu und flehentlich. 221 (Wenn ich »entmutigend« sage, meine ich, dass mir dabei die Tränen kom- men, und selbst als Anarchist und Pazifist habe ich in diesem Fall das Gefühl, dass sie in der Armee besser aufgehoben wären.) Paul Goodman schrieb hier über arme Jungen. Doch schon in den 60er Jahren galt dasselbe für wohlhabende Jugendliche. In jenen Tagen wurde ich häufig aufgefordert, auf High-School-Versamm- lungen zu sprechen, die zumeist in den reichen Vororten von Groß- städten stattfanden. Nahezu immer sprach ich dabei auch über den Unterschied zwischen Job, Karriere und Arbeit: Bei einem Job erle- digst du für Geld etwas Vorgegebenes, was du vermutlich ansonsten nicht tun würdest, für Geld aber schon. Eine Karriere ist eine Anein- anderreihung von Jobs. Wenn du deinen vorherigen Job eine Weile gut gemacht hast, kannst du einen besser bezahlten Job bekommen, der vielleicht auch etwas interessanter und weniger mühevoll ist. Wenn du auch diesen Job eine Weile gut erfüllt hast, könnte dir dein Boss oder ein anderer einen noch etwas besseren Job geben usw. Die Summe daraus ist das, was man eine »Karriere« nennt. Unter Arbeit verstehe ich etwas anderes, was auch als Berufung bezeichnet werden kann - etwas, das wir um seiner selbst willen tun, weil es wertvoll erscheint und wofür wir uns gerne entscheiden, selbst wenn es eine schlechte oder sogar keine Bezahlung gibt. Ich fuhr dann fort, dass es in diesem Sinne eine unserer wichtigsten und schwierigsten Aufgaben im Leben sei, die passende Arbeit zu finden, und dass wir uns - selbst wenn wir sie gefunden haben - nach eini- ger Zeit erneut auf die Suche machen müssen, weil diese Tätigkeit nach einer gewissen Zeit möglicherweise nicht mehr die richtige ist. Ich fügte hinzu, dass die zentrale Frage: »Was will ich wirklich tun? Was erscheint mir wertvoll genug, um meine Zeit dafür aufzubrin- gen?« nicht von Schulen (oder anderen Erwachsenen) gestellt wird, und wir von diesen zumeist auch keine Unterstützung erhalten. Sie betrachten es lediglich als ihre Aufgabe, uns auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes vorzubereiten - auf Jobs und Karriere, egal ob ein- fach oder höherrangig. Wir müssen also selbst herausfinden, welche Arbeit getan werden muss und in dieser Welt getan wird, und wo und auf welche Weise wir daran teilnehmen können. Während ich all dies sagte, beobachtete ich die Gesichter meiner Zuhörer, um herauszufinden, wie sie sich bei meinen Worten fühlten. Was ich üblicherweise sah und in den anschließenden Fragen hörte, 222 machte auf mich den Eindruck, dass diese Schüler vor allem dach- ten: »Dieser Kerl muss direkt vom Mars gekommen sein; eine Arbeit, die man nicht ausschließlich des Geldes wegen tut?« Für die mei- sten war dies unvorstellbar und alle anderen dachten ebenso. Arbeit war etwas, was man für eine Belohnung von außen tat - für ein Gehalt, wenn man zur Durchschnittsbevölkerung zählte, oder für Reichtum, Macht und Berühmtheit, wenn man zu den Privilegierten gehörte. Von keinem dieser jungen Leute, zu denen ich sprach, bekam ich je eine hoffnungsvolle, positive, enthusiastische Reaktion auf meine Worte. Ich erinnere mich auch nicht, von all diesen Schülern, die zu den jungen Menschen mit den günstigsten Startbedingungen im (zumindest damals) reichsten Land der Welt zählten, auch später jemals einen Brief in der Art bekommen zu haben: »Mr. Holt, dies oder das interessiert mich sehr und ist mir wichtig, auf welche Weise kann ich Arbeit in diesem Bereich finden?« WIE MAN ECHTE ARBEIT FINDET Ich war an Bord des U-Bootes U.S.S Barbero westwärts auf dem Weg nach Pearl Harbor, als wir die Nachricht von der Atombombe beka- men. Schon damals war mir klar, dass innerhalb kürzester Zeit jedes Land, das dies wollte, derartige Waffen herstellen konnte und würde. Mir erschien es einleuchtend, dass es nur eine Möglichkeit gab, eine weltweite Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, und damit den Atomkrieg zu beenden. Und dies war eine Art Weltregierung. Als wir im Oktober 1945 in die USA zurückkehrten, um unser U-Boot »ein- zumotten« , versuchte ich, Menschen aufzuspüren, die in der einen oder anderen Weise ebenfalls für eine Weltregierung arbeiteten. Zur Mitte des darauffolgenden Sommers beschloss ich, dass es not- wendig war, diese Arbeit hauptberuflich zu tun. So erkundigte ich mich bei drei Weltregierungsorganisationen nach einem Job. Zwei hatten nichts für mich. Die dritte hatte im Augenblick nichts, erklärte jedoch, dass der junge Mann aus der Postabteilung im Herbst aufs College zurückgehen würde, und ich seinen Job für 35 Dollar pro Woche bekommen könnte. Ich sagte zu. Im Herbst begann ich zu arbeiten. Ich verpackte und verschickte Informationsmaterial, stempelte die Post, führte die Mitgliederdatei, bediente die Adress- 223 beschriftungsmaschine und erledigte jeden anderen anspruchslosen Job, der anfiel. Eines Tages sagte man mir, dass die Junior Chamber of Commerce in Bayonne/New Jersey eben einen Vortragsredner angefragt habe, dass aber an diesem Tag all unsere Vortragenden beschäftigt seien. Ob ich die Aufgabe übernehmen würde? Ich schluckte und sagte zu. Dies war die erste von etwa sechshundert Reden, die ich für diese Organisation hielt. Später verließ ich die Post- abteilung und arbeitete als »Feldorganisator«. Ich reiste umher, hielt Reden und versuchte, lokale Gruppen aufzubauen. 1952 verließ ich die Organisation und verbrachte den Großteil des nächsten Jahres damit, möglichst kostengünstig in Europa zu leben und umher zu reisen. Als ich zurückkehrte, überlegte ich, in die Landwirtschaft zu gehen, weil ich schon damals sehr an dem interessiert war, was wir heute Ökologie nennen. Meine Schwester, die mich erfolglos zu überreden versuchte, Lehrer zu werden, brachte mich dazu, ein kleines Internat für Mädchen und Jungen zu besu- chen. Die Colorado Rocky Mountain School, die John und Anne Hol- den vor kurzem in Carbondale in Colorado eroffnet hatten. Da diese Schule beabsichtigte, sowohl die Gebaude selbst zu errichten, als auch die Nahrung selbst herzustellen, konnte ich ihrer Meinung nach wahrend dieser bezahlten Arbeit viel von dem lernen, was ich wis- sen musste, um mich selbst mit Landwirtschaft zu befassen. Ich dachte: »Es kann ja nicht schaden, mir das einmal anzusehen«. So besuchte ich die Schule zwei Wochen nach ihrer Eröffnung, ver- brachte einen Tag dort, lebte das Leben der Schule mit, besuchte ein paar Kurse, sprach mit den Schülern, half einigen mit ihren Arbeiten und spielte in der Freizeit ein wenig Fußball mit ihnen. Es gefiel mir. Und meine innere Stimme flUsterte mir dieselbe Botschaft zu wie vor Jahren, als ich erstmals mit einem U-Boot ab- tauchte: »Das ist richtig. Das ist der richtige Platz fur dich.« Am nachs- ten Tag, kurz bevor es Zeit wurde zu gehen, sagte ich zu John Holden: »Wissen Sie, es gefällt mir hier und ich würde gerne hier bleiben und arbeiten.« Er antwortete mir auf eine Weise, die einigen ablehnend erscheinen könnte: »Nun, wir freuen uns, Sie hier zu haben. Da gibt es nur ein Problem. Wir haben keinen Platz, wo wir Sie unterbringen können, kein Geld, um Sie zu bezahlen, und an und fur sich nichts, was Sie tun kdonnten.« Ich antwortete daraufhin: »Wenn Sie mir nur ein Dach Uber dem Kopf besorgen, ist es mir egal, wo Sie mich unter- bringen. Und wenn ich hier essen darf, kann ich vermutlich auch ohne 224 Geld leben. Zumindest für eine Weile. Und ich bin ziemlich sicher, dass ich etwas zu tun finde.« Dieses Angebot konnte er nicht zurück- weisen. »Wenn Sie bereit sind, auf dieser Grundlage hier mitzuar- beiten, sind Sie willkommen«, antwortete er lachend. Zwei Wochen später kehrte ich zurück. Ein bis zwei Monate lang wohnte ich in einem kleinen Gebäude, das einst ein Getreidespei- cher gewesen war und nun in eine Krankenstube umgebaut wurde. Ich schlief auf einem Feldbett neben einer Tischsäge, musste über Berge von Sägemehl steigen, um zu Bett zu gehen, und lebte aus dem Koffer. Ich fand auch viel zu tun. Zunächst bereitete ich täglich das Frühstück für die Schule, unterrichtete einzelne Schüler in Öko- nomie, Trigonometrie und Lesen und leitete das Fußballtraining. Als eine andere Lehrerin nach ihrer Heirat fortging, übernahm ich ihr Zimmer und ihr Gehalt (etwa 1750 Dollar pro Jahr). Im nächsten Jahr gab ich regelmäßig Kurse in Englisch und Mathematik und war zusätzlich Geschäftsführer der Schule. Als man im Jahr darauf einen hauptberuflichen Geschäftsführer einstellte, unterrichtete ich neben Englisch und Mathematik auch Französisch. Ich unterrichtete dort vier Jahre, arbeitete hart, hatte eine großartige Zeit und lernte eine Menge. Das wichtigste an derartigen Geschichten ist, dass viele Men- schen, die in dieser Welt ernsthafte Arbeit leisten (im Gegensatz zu schlichtem Geldverdienen), überarbeitet sind und zu wenig Hilfe bekommen. Wenn ein junger, oder nicht mehr ganz so junger Mensch Zu ihnen sagt: »Ich glaube an Ihre Arbeit und will Ihnen in jeder erdenklichen Weise helfen, und ich würde gerne jede Arbeit machen, die Sie mir zuweisen, oder die ich selbst finde, für eine geringe Ent- lohnung, oder ganz ohne Bezahlung, solange ich Verpflegung und Unterkunft bekomme«, werden vermutlich viele sagen: »Gerne, fang gleich an!« Durch die gemeinsame Arbeit wird der Neuling allmäh- lich lernen, was sie tun, erhält selbst immer interessantere und wich- tigere Aufgaben, und wird vielleicht so wertvoll, dass man Mittel und Wege findet, seine Arbeit zu bezahlen. Auf jeden Fall lernt man durch diese Zusammenarbeit und die Gemeinschaft mit derartigen Men- schen mehr als in jeder Schule und jedem College. 225 EIN FALSCHER START Ich habe einen engen Freund, den ich noch von der High School kenne. Er hatte ausgezeichnete Zensuren, kam aus wohlhabenden Verhältnissen, und als er die High School beendete, war es für ihn selbstverständlich, auf ein »gutes« College zu gehen. Weil er in Eng- lisch immer schon gut war, wählte er es als Hauptfach. Vier Jahre und 20 000 Dollar später hatte er einen Collegeabschluss. Was kam als nächstes? Seine Zensuren waren immer noch gut, er hatte immer noch Zeit, seine Eltern hatten immer noch Geld, deshalb ging er auf eine »gute« Graduate School (Hochschule für Aufbaustudien), um sei- nen Doktortitel in Englisch zu machen (was mittlerweile notwendig ist). Während all dieser Jahre blieben wir gute Freunde. Als er sämt- liche erforderlichen Kurse für seinen Abschluss absolviert und seine Doktorarbeit geschrieben hatte, fragte ich ihn: »Wenn du dies alles hinter dir hast, was wirst du dann tun?« Die Frage schien ihn zu über- raschen. Nach einer Pause sagte er: »Ich weiß nicht. Vermutlich werde ich an irgendeinem College Englisch unterrichten.« Daraufhin hakte ich nach: »Ist das wirklich das, was du tun willst?« Diese Frage schien ihn noch mehr zu erstaunen. Nach einer Weile sagte er: »Nein, nicht wirklich, aber was kann ich sonst tun?« Das wiederum über- raschte mich. Ist das alles, wofür ein Doktortitel gut ist? Er begann Englisch zu unterrichten an einer kleinen, staatlichen Universität im westlichen Bergland, das er sehr liebte. Schon bald fand er heraus, dass seine Studenten nur aufs College gingen, um ihren Abschluss zu machen, und keinerlei Interesse hatten an dem, was er gelernt hatte und sie lehren wollte. Sie wollten nur wissen und fragten auch sehr höflich: »Was müssen wir tun, um den Kurs zu bestehen?« Das nahm seiner Lehrtätigkeit jeglichen Sinn. Eine Zeit lang versuchte er, seine Stunden abzusitzen, sein Gehalt einzustrei- chen und sich auf die Landwirtschaft, die Jagd, das Angeln, Wan- dern, Campieren und Skifahren zu konzentrieren, was er alles gerne tat, und sich nicht darum zu kümmern, was seinen Studenten gefiel oder nicht. Es funktionierte nicht. Er hielt es mehrere Jahre aus, wobei es ihm von Jahr zu Jahr schwerer fiel. Schließlich kündigte er. Nach einigen schwierigen Jahren ist er heute Zimmermann und Bau- unternehmer. Er arbeitet sorgfältig und fachmännisch in einer Stadt, in der es genug Bedarf an seiner Arbeit gibt, so dass er immer beschäftigt ist und seine Arbeit gefunden hat. Allerdings ist es 226 schade, dass er fünfzehn Jahre seines Lebens und 40 000 Dollar seiner Eltern aufwenden musste, um herauszufinden, dass er kein Englischprofessor sein wollte. Dennoch hatte er das Glück, genug Geld im Rücken zu haben, um das Risiko eingehen zu können, seinen Job aufzugeben und sich nach einer Arbeit umzusehen, die ihm wertvoll erschien. Für die meisten Menschen gestaltet sich dieser Weg erheblich schwieriger. Eine junge Frau, die kurz vor ihrem Lehrabschluss stand, sagte mir einst: »Nun, ich habe hier zwei Dinge gelernt: Erstens, dass ich keine Kinder mag, und zweitens, dass ich nicht gerne unterrichte.« Auf meine Frage, warum sie dann weitermache, antwortete sie: »Weil ich muss. Ich habe zu viel Zeit und Geld in das Erlernen dieses Berufes investiert. Ich kann mich nicht einfach umdrehen und etwas Neues anfangen.« Wenn mich meine Schüler fragten, ob sie aufs College gehen sollten, antwortete ich damals wie heute, dass ein Collegeabschluss kein Zauberschlüssel sei, der jede Tür öffnet. Er öffnet wohl einige, aber bevor man viel Zeit und Geld investiert, um einen solchen Schlüssel zu bekommen, wäre es günstig herauszufinden, welche Türen er überhaupt öffnet und was dahinter liegt. Wenn einem dies gefällt, sollte man überlegen, ob es nicht auch einfachere Wege dort- hin gibt. ERWACHSEN WERDEN, VIELLEICHT NICHT ABSURD Wie viel jungen Menschen das Wissen bedeuten kann, dass es dort draußen in der Welt Arbeit gibt, die ihnen wertvoll erscheint, lässt sich an den Briefauszügen einer High-School-Schülerin aus Massa- chusetts ablesen: Obwohl ich im Lauf der Zeit eine sehr negative Haltung der Schule gegen- über entwickelt habe, war ich dennoch sehr unglücklich und besorgt wegen meiner schulischen Leistungen. Lernen interessierte mich zwar immer noch, ich empfand es aber im Klassenzimmer als langweilig. Obwohl in sämtlichen Kursen Anwesenheitspflicht herrschte, begann ich, den Unter- richt zu schwänzen. Dabei war ich nicht die Einzige. Eine ganze Gruppe von uns hing in der verdreckten Mädchentoilette herum, weil es in der Schule keinen Aufenthaltsraum gab. Das gesamte Schuljahr war eine Kata- strophe. Bis zum Beginn des vierten Terms [das Schuljahr in den USA ist 227 in vier »Terms« unterteilt] war ich aus allen - bis auf zwei - Kursen aus- gestiegen. Diese Kurse legte ich auf den Vormittag, so dass ich immer schon um 11 Uhr mit der Schule fertig war ... Ich lernte schon im dritten Jahr Spanisch, als ich ausstieg, weil ich in einer feindseligen Atmosphäre nicht lernen konnte. ... Oft suchte ich Zuflucht, indem ich während der Schulzeit Marihuana rauchte. Damit durchbrach ich die Monotonie des Schulalltags. Es wirkte sich nicht negativ auf mein Studium aus, da ich mich außergewöhnlich gut konzentrieren konnte, während ich »high« war. Allerdings hat es meine Einstellung vollkommen ruiniert, vor allem, als es Zeit wurde zu entschei- den, ob ich in die nächste Klasse gehen sollte oder nicht. ... Auch die Beziehung zu meinen Eltern litt darunter ... Außerhalb der High School traf ich mich häufig mit älteren Jugendlichen ... Meine Eltern machten diese für meine geänderte Haltung verantwortlich. Vielleicht waren sie es wirklich bis zu einem gewissen Grad. Einige hatten die High School abgebrochen, und kein einziger von ihnen ging aufs College, bis auf einen Jungen, der nach zwei Jahren aufgab. Sie schienen überhaupt keine Ziele zu haben ... Nun, hier bin ich. Ich hoffe, dass ich aufs College gehen kann, obwohl das bei meiner High-School-Akte nicht sicher ist. Jugendliche neigen dazu, in ihrer Abschlussklasse alles zu vermasseln. Ich werde hart arbeiten, um die Fehler meines letzten Jahres wieder gutzumachen. Aber ... ich fühle mich in der Schule, zu Hause und sogar von meinen »Freunden« ausge- schlossen. ... Ich wüsste gerne, ob Sie Vorschläge haben. Ich interessiere mich für Ökologie, Naturschutz, Englisch, Schriftstellerei, Geschichte, Gärtnern, Fotografie (obwohl ich keine Kamera besitze), die Herstellung von Silber- schmuck (ich habe schon einen Anfängerkurs absolviert), alternative Ener- giequellen (vor allem für Sonnenenergie) ... In meiner Antwort schlug ich vor, dass sie während des Sommers das New Alchemy Institute in Woods Hole/Massachusetts besuchen solle. Die Neuen Alchimisten sind eine Gruppe von Menschen, die geleitet - oder besser gesagt zusammengeführt, inspiriert und koor- diniert - werden von John und Nancy Jack Todd, die nach Wegen suchen, wie die Menschen dort mit bescheidenem Komfort in großer Erdverbundenheit leben können. Das Institut ist eine kleine Experi- mentier- und Forschungseinrichtung, in der mit solarbetriebenen Gewächshäusern, Fischzucht, extensiver Nahrungsgewinnung, Forst- 228 wirtschaft, Windenergieanlagen, Kompostierung, biologischer Schäd- lingsbekampfung und Würmerzucht experimentiert wird. So klein es auch sein mag, erscheint mir dieses Unternehmen eine der wichtig- sten Arbeitsgruppen überhaupt zu sein. Es ist keineswegs eine Über- treibung, wenn ich behaupte, dass die Gesundheit und das Glück unseres Landes, der menschlichen Rasse und unseres Planeten zu einem Großteil davon abhängen, was dort gelehrt wird. Auf jeden Fall besuchte die Schülerin dieses Institut im Dezem- ber desselben Jahres und schrieb mir erneut: Mit diesem Brief will ich Ihnen vor allem für Ihren Ratschlag danken. Ich hatte geschrieben, dass ich mich für biologische Landwirtschaft interessiere, und Sie schlugen vor, dass ich das New Alchemy Institute besuchen solle. An einem Samstag setzten meine Mutter und ich Ihren Vorschlag in die Tat um. Und obwohl ich keine Gelegenheit hatte, mit einem der Alchimisten zu spre- chen, habe ich es sehr genossen, die Farm zu erkunden. Ich habe an einem Seminar zur Aufzucht von Regenwürmern teilgenommen und mir einen Film über die derzeitige Notlage kleiner Farmen in unserem Land angesehen. Im vergangenen Frühjahr brachte der Boston Globe einen Artikel über das New Alchemy Institute ... Ich habe ihn mit in die Schule genommen, um ihn meinem Freund und Schulberater zu zeigen. Ich habe ihm auch Ihren Brief gezeigt und kann ohne Übertreibung sagen, dass der Mann begeistert war ... Er hat das Institut noch nie besucht, hofft jedoch, im Frühjahr einen Besuch mit einer Gruppe von interessierten Schülern orga- nisieren zu können ... Während des Sommers verschlechterte sich meine Einstellung gegenüber der Schule gravierend. Ich wollte mein letztes High-School-Jahr im Zuge eines alternativen Lernprozesses absolvieren. Aber als der Schul- beginn im September näher rückte, beschloss ich, dass ich innerhalb des Systems arbeiten müsse, wenn ich einen halbwegs zufriedenstellenden akademischen Abschluss für das College erreichen wollte. Der Besuch im New Alchemy Institute hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlas- sen und meine Entscheidung beeinflusst, als Hauptfach auf dem College Biowissenschaft und Landwirtschaft zu wählen. Ich will jedoch nicht nur für das College meine akademischen Fähigkeiten verbessern, sondern mir auch selbst beweisen, dass ich immer noch imstande bin, eine gute Schülerin zu sein, auch wenn sich meine Einstellung einer strukturierten und traditionellen Ausbildung gegenüber geändert hat. Die schulischen Niederlagen des letzten Jahres haben beinahe mein Selbstwertgefühl zerstört. 229 Ich habe mich in fünf Hauptfächern eingeschrieben (zusätzlich noch in Sporterziehung), obwohl ich nur fünf Scheine und ein Jahr Sport benötigt hätte, um das Diplom zu bekommen. Ich bin derzeit eingeschrieben in einen Spezialkurs Spanisch Ill, Latein I, Meeresbiologie und Tierverhalten, Ökonomie und ein Fortgeschrittenenpraktikum in Englisch! Sie dürfen mir glauben, das ist eine echte Änderung meiner akademischen Ausbildung im Vergleich zum letzten Jahr ... DER DIREKTE WEG Aus einem Artikel der Sports Illustrated (vom 17. Dezember 1979) geht hervor, dass man auch direkt auf seine gewahlte Arbeit zusteu- ern kann: Eines der jungsten und erfolgreichsten Designteams im heutigen Hoch- seeregattasport wird von dem 32-jahrigen Ron Holland, einem sehr unge- wohnlichen Chef, geleitet. Holland hatte in seiner Heimatstadt Auckland in Neuseeland die Abschlussprufungen der Secondary School [entspricht in Deutschland etwa der Realschule] nicht bestanden, war mehrmals in Mathematik durchgefallen (was man eigentlich als Yachtdesigner braucht) und besitzt keinerlei offizielle Qualifikationen auf dem Gebiet des Schiffs- baus. Er hat sogar seine Lehre als Schiffsbauer abgebrochen. Dennoch will heute jeder ein Holland-Design. ... Mit 16 verließ er die Secondary School, weil sie ihm »zu akademisch« war, wie er sagte, und erzahlte seiner Mutter erst spater davon. Doch schon damals schien er zu wissen, dass Boote seine Berufung werden sollten. Bis ihm sein Grundschullehrer das Buch Im Schwalbental von Arthur Ransome vorstellte, eine klassische Kindergeschichte uber einen Segelurlaub in den englischen Norfolk Broads, hatte Holland noch nie etwas gelesen. Seine Lehrer hatten ihn immer wieder in den Lese-Forderunterricht geschickt. Aber nach Schwalbental wurde er zum Bucherwurm. Er segelte seit seinem siebten Lebensjahr, als sein Vater ihm ein 2,10 Meter langes Dinghi gekauft hatte, und hatte sich auch nicht entmutigen lassen, als er bei seiner ersten Regatta Vierter und somit Letzter wurde. Holland stieg als Lehrling in den Yachtbau ein und warf den Job schon bald wieder hin, weil ihm sein Boss nicht freigeben wollte, um an Hoch- seeregatten teilzunehmen ... Annahernd drei Jahre arbeitete er mit amerikanischen Designern, zu- nächst mit Gary Mull und schließlich mit dem extravaganten Charlie Morgan. 230 Im Jahr 1973, nach weniger als drei Jahren sporadischer Design- erfahrung, wechselte Holland erneut den Kurs. Er verließ Morgan, um sich für seinen eigenen Vierteltonner Eygthene bei der Weltmeisterschaft im englischen Weymouth einzusetzen. Das radikale Design basierte auf Intuition, nicht auf »reiner Arithmetik«, wie Holland heute eingesteht. Die Eygthene siegte. Gerade noch rechtzeitig, denn er lebte mit Laurel, die er 1971 gehei- ratet hatte, an Bord des vollgestopften Vierteltonners. Ein möglicher Ver- kauf war eben erst gescheitert, und sein Bankkonto war leer. Ron Holland ist ein gutes Vorbild für all jene Menschen, die selbst versuchen, ihre Arbeit zu finden. Wer seine Berufung kennt, sollte auf möglichst direktem Weg darauf zusteuern. Wenn Sie eines Tages Boote bauen wollen, sollten Sie dorthin gehen, wo man Boote baut und so viel wie möglich darüber lernen. Wenn Sie alles gelernt haben, was die Menschen dort wissen oder Ihnen vermitteln können, sollten Sie weiterziehen. Selbst in einem technisch so hochentwickelten Bereich wie dem Yachtbau werden Sie schon bald feststellen, dass Sie ebensoviel wissen, wie die anderen, und genug, um alles damit zu tun, was Sie tun wollen. Wenn jedoch in dem von Ihnen gewählten Arbeitsbereich nie- mand bereit ist, Sie ohne einen entsprechenden Schulabschluss ein- treten zu lassen, müssen Sie vielleicht ein wenig Zeit und Geld in eine Ausbildung investieren, um das gewünschte Zertifikat zu erhal- ten. Auch wenn Sie feststellen, dass es vieles gibt, was Sie wissen wollen oder müssen, was die Menschen, mit denen Sie zusammen- arbeiten, Ihnen aber nicht vermitteln können, mag der Besuch einer Schule sinnvoll sein. Aber Sie dürfen nicht annehmen, dass die Schule der beste oder der einzige Weg ist, um etwas zu lernen, ohne sich vorher gut informiert zu haben. Möglicherweise gibt es schnel- lere, kostengünstigere und effektivere Wege. Hier einige weitere Beispiel. Dieses stammt aus Solar Age vom Dezember 1979: Im Alter von 22 Jahren ist Ken Schmitt Leiter der Forschungs- und Ent- wicklungsabteilung von Alternative Energy Limited (AEL), einem kleinen, neu gegründeten Unternehmen ... das ab kommendem Jahr [Alkohol-] Destillate verkaufen will ... Mit 17 besaß er ein Bauunternehmen, das ihm »das nötige Kapital für Experimente lieferte«. Während der letzten beiden Jahre hatte Schmitt mit 231 Solarsystemen experimentiert. Seine Pilotanlage zur Methanolsynthese (Holzgeist) könnte der Vorläufer einer Anlage werden, die pro Tag knapp zwei Millionen Liter für die Kraftfahrzeuge von Los Angeles erzeugt; und fünf ausländische Staaten werden möglicherweise die Rechte für einen Pyrolyseprozess erwerben, den er entwickelt hat. Und dieses aus The Boston Monthly vom Dezember 1979: Der Leiter der Boston Computer Society, einer Gruppe, die regelmäßig einen Newsletter herausbringt und Versammlungen abhalt, um Computer- ideen und -informationen kennenzulernen und auszutauschen, ist 16 Jahre alt. Die Techniker vieler lokaler Computergeschafte sind High-School- Schuler. Computerland in Wellesley hat einen ehrenamtlichen Fachmann mit gigantischem Computerwissen, der fur seine Kundenbetreuung mit unbegrenzter Computernutzung bezahlt wird - er ist zwölf Jahre alt. ERNSTHAFTE ARBEIT Eine mir bekannte Familie reiste in einem umgebauten Bus durchs Land und blieb immer eine Weile in einer Stadt, die sie interessierte, oder in der sie sympathische Menschen kannte, ehe sie weiterzog. Vor nicht allzu langer Zeit schrieb der Vater: Mein Freund Sam wurde vor kurzem »Kurzzeitinhaber« eines Lebens- mittelgeschaftes, weil der Eigentümer Urlaub machen wollte. Sam be- schloss, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen und aus seiner ein- woOchigen »Inhaberschaft« den Ertrag eines Monats zu machen. Er heuerte mich an, um wahrend der Abwesenheit des Eigentumers verschiedene Elektro- und Tischlerarbeiten zu erledigen. Man musste Eindruck schin- den. Viele Verbesserungen. Wer den Scheck ausschreibt, der hat die Macht - heuern und feuern - Chef fur einen Tag! Wir mussten lange vor Öffnung des Ladens beginnen. Ich rittelte die Kinder um sechs Uhr wach und fuhr mit ihnen los. Die Kids kamen mit mir und dem Werkzeug in den Laden. Sam erlaubte ihnen, im Laden zu spielen, und die Vorstellung, einen Supermarkt ganz fur sich allein zu haben, gefiel ihnen ausgezeichnet. Supermarkte sind meist voller Men- schen - vor allem voller Erwachsener. Kinder sind eher unerwünscht. Ubli- cherweise werden sie von den Müttern gemafiregelt, wenn sie nach den Süßigkeiten greifen, die vom cleveren Management sorgfältig in ihrer Reichweite platziert werden. 232 Nun, nicht an diesem Morgen - da gehörte ihnen der Laden ganz allein. Einige Zeit sausten sie durch die Gänge und genossen den freien Raum. Innerhalb einer Stunde fühlten sie sich wie zu Hause und setzten sich in der Delikatessenabteilung an einen Tisch, um ein mitgebrachtes Buch zu lesen. Kurz darauf tauchte Sam in Panik auf! Die Fruchtsaftproduktion im Nebenraum war zwei Stunden hinter den Zeitplan zurückgefallen, weil die Behälter nicht rechtzeitig geliefert worden waren. Die verschiedenen frisch gepressten Säfte waren der Verkaufshit des Ladens und wurden jeden Morgen frisch zubereitet. Panik! Die Kunden würden kommen und es gäbe keinen Fruchtsaft. Man würde Geld verlieren und die Moral würde sinken. Als »Kurzzeitinhaber« stellte Sam geringere Qualifikationsanforderungen als ein durchschnittlicher Supermarktmanager. So fragte er: »Wer will einen Job?« Frank und George waren ohnehin knapp bei Kasse und sagten zu. »Wascht euch die Hände und kommt mit.« Gemeinsam gingen sie in die kleine Saftfabrik, wo Sam die neuen Helfer dem Saftproduzenten vor- stellte. Als ich etwa eine halbe Stunde später vorbeischaute, bot sich mir ein erstaunliches Bild. Ich hatte Frank und George noch nie mit solcher Begeis- terung bei der Arbeit gesehen. Frank füllte Flaschen mit Karottensaft, die George abwischte, etikettierte und mit einem Preisschild versah. Der Saft- produzent steckte Karotten bündelweise in eine große Schälmaschine, dann in den Häcksler und schließlich in eine Hydraulikpresse. Literweise floss der Karottensaft heraus, während die Jungen mit aufgerissenen Augen zusahen und ihre Hände so schnell arbeiteten, dass die Bewegun- gen vor ihren Augen verschwammen. Bisher existierten Karotten für sie nur in Reihen mit ein paar Zentimetern Abstand in der Erde oder gebün- delt in Plastikbeuteln. Diese Maschinen fraßen Karotten wie ein giganti- scher Dinosaurier. Das Tempo war atemberaubend. Der Saftproduzent kannte seine Arbeitsabläufe aus dem Effeff, und die Jungen übernahmen seinen Rhythmus. Es war ein Tanz, bei dem man Schritt halten musste. Kommandos wurden in knappen Sätzen erteilt und ausgeführt. Keine Zeit für Diskussionen oder Erklärungen; echte Arbeit - ein echtes Produkt - ein echtes Klassenzimmer. Innerhalb weniger Minuten wurden Säcke von Karotten zu Saftflaschen a 85 Cent. George sagte: »Mir ist es egal, ob uns Sam bezahlt oder nicht. Das macht Spaß.« Drei Stunden später war ich dann fertig, der Laden geöffnet, und die Jungen hatten immer noch Spaß. Drei große Eimer mit trockenem Karottenmus standen vor der Tür zur Saftküche. Franks T-Shirt war vom 233 orangefarbenen Saft durchtränkt. George zeichnete eine Kiste Flaschen neu aus, weil er sie mit 58 Cent anstatt 85 Cent etikettiert hatte. Kein Tadel wegen des Fehlers - einfach neu auszeichnen. Immerhin musste auch der Saftproduzent eine ganze Ladung Karotten wegwerfen, die vor dem Schälen im Häcksler gelandet war. Menschen machen nun einmal Fehler. Leider sind sie an Schultischen verboten. Als ich gerade mein Frühstück im Bus beendet hatte, kamen beide mit jeweils drei Dollar in der Hand herein. Sie hatten in diesen drei Stunden härter gearbeitet, als ich es je zuvor bei ihnen beobachtet hatte, und sie waren geradezu ekstatisch. Sie hatten neues Wissen erworben, neue Würde (immerhin hatten sie den Tag gerettet) und eigenes Geld verdient. Mein Lohn war es, sie dort zu sehen. Eine Mutter berichtet: John (4) hat einen weiteren Quantensprung gemacht. Wir sind Marktgärt- ner. Er hat um ein eigenes Beet gebeten und es bekommen. Es wurde (nach seinen Anweisungen) mit einem Band gekennzeichnet. Im Treibhaus züch- tet er die Radieschenpflanzen, die er später verkauft. Dies alles gehört ihm. Dennoch versuchen wir, ihm dabei zu helfen, seine Vorstellungen und Ideen umzusetzen. Das bedeutet auch, dass ich ihm auf sein Bitten hin helfe, seine Radieschen zu verziehen, weil er »zu müde« ist. Als ich jedoch gestern beständig Pflanzen umsetzte, nahm er eine Gartenhacke und hakte dort, wo ihm dies notwendig erschien. Er arbeitete ungefähr eine Stunde lang hart, und zwar genauso gut wie ich. Wenn er etwas gut macht, lobe ich ihn üblicherweise. Aber diesmal wäre es geradezu lächerlich überflüssig gewe- sen. Als würde ich meinem Mann sagen, was für ein guter Junge er sei, weil er so hart arbeite. Während dieser Zeit war John mir im Unternehmen gleichgestellt. Ich war begeistert. Eine Mutter aus Manitoba schreibt: Einer der besten Augenblicke in den ersten beiden euphorischen Monaten ohne Schule war eine Marathonsitzung in dem Biochemielabor, in dem ich arbeite. Ich hatte ein 48-Stunden-Experiment in Gang gesetzt, das mitten in der Nacht überprüft werden musste. In der ersten Nacht begleitete mich Joel. Wir hatten Schwierigkeiten mit einer der Maschinen, einem Fraktio- nensammler, der die Teströhrchen unter ein langes dünnes Rohr hält, das langsam das zu sammelnde Material ausspuckt. Wir blieben bis fast fünf Uhr früh, und Joel beschäftigte sich zumeist damit, mit Hilfe einer Stopp- uhr die Tropfenrate aus dem Rohr zu prüfen, die Bewegungsgeschwindig- 234 keit der Röhrchen und des Kontrollstiftes einer anderen Maschine - all diese Arbeiten waren notwendig, um die Aufgabe zu erfüllen - und er genoss es, diese Arbeiten zu erledigen. Wir verließen das Gebäude, als die letzten Sterne am Himmel ver- blassten. Auf einer nahe gelegenen Weide grasten in völliger Stille Schafe und Rinder. Nur die Vögel waren zu horen. Joel war erstaunt, dass er tatsächlich all die Nachtstunden durchgehalten hatte, ohne zu schlafen. Ich dachte an all die Kinder, die nie dieses Glücksgefühl haben, nur weil sie an die Stunden gebunden sind, die ihnen von den Schulen vorge- schrieben werden. Wir schliefen den ganzen Vormittag und kehrten für die nächsten Prü- fungen erst am Nachmittag ins Labor zurück, und dann wieder in der Nacht und am folgenden Tag. Joel wollte bis zum Ende dabei sein, und das war er auch. In dieser kurzen Zeitspanne lernte er die unterschied- lichsten Dinge über Volumen- und Zeiteinheiten, Multiplikationen und Divi- sionen, Brüche, Lichtabsorption, Magnete, Lösungen und viele andere Dinge mehr. Und das war derselbe Junge, der in der Schule den Mathe- matikunterricht gehasst hatte und von einigen sogar als »langsam« und »faul« bezeichnet worden war. Eine Mutter aus New Hampshire schreibt: T., A. und ich ... verdienen den Großteil unseres Einkommens durch Sai- sonarbeit auf Obstplantagen, indem wir gegen Ende des Winters zwei Monate lang Äpfel pflücken. Wir verlassen unser Zuhause und arbeiten an verschiedenen Orten. ... Im Alter von 5 Jahren begann A., aus eigenem Antrieb zu pflücken. Sie drehte ihre Regenjacke um und verwendete die Kapuze als Früchte- korb. Sie war sehr stolz auf sich. Sie arbeitete den ganzen Tag und pflückte drei Scheffel. Am nächsten Regentag fabrizierten wir für sie aus einem Müllsack und einem abgeschnittenen Hosenbein einen Viertel-Eimer. Genau wie bei unseren Eimern öffnete sich zum Entleeren der untere Teil aus Stoff. T baute für sie eine drei Meter lange Leiter (er baut und ver- kauft Pflückleitern). Sie pflückte an der Unterseite unserer Bäume und wir zahlten ihr, was wir pro Scheffel vor Abzug von Verpflegung und Miete verdienten. Heute, 5 Jahre später, besitzt sie einen maßgefertigten Halbeimer und eine fünf Meter lange Leiter. Sie arbeitet an den meisten Tagen zwei oder mehr Stunden, pflückt nach denselben Qualitätsstandards wie wir und erhält ihre eigene Abrechnung. Und wenn wir mit der Crew unterwegs sind, 235 bezahlt sie ungefähr die Hälfte ihrer Lebenshaltungskosten aus ihrem Ein- kommen. Sie kann gut mit der Leiter umgehen und pflückt so viel wie mög- lich an der Oberseite der Baumkrone. Wie viel Geld sie erhalten soll und wie viel sie arbeiten soll, hat zu eini- ger Verwirrung geführt. Es erschien uns nicht richtig, ihr weiterhin mehr pro Scheffel zu bezahlen, als alle anderen verdienten, ohne etwas für die Auslagen abzuziehen. Aber wenn wir ihre Auslagen vollständig abgezogen hätten, hätte sie überhaupt nichts verdient. So schlossen wir einen Kom- promiss. Geld zu verdienen ist nicht ihre Hauptmotivation, aber es gefällt ihr, bezahlt zu werden, und es scheint ihr gut zu tun, Geld zu haben, das sie ausgeben kann. Wenn sie ihre Produktion weiter steigert, wird sie schon bald imstande sein, all ihre Auslagen gegenüber der Crew zu bezah- len und noch eine hübsche Summe übrig zu haben. In vielen armen Kulturen tragen Kinder mit ihrem Einkommen zum Gesamteinkommen der Familie bei. Wir müssen genug verdienen, um das ganze Jahr über davon leben zu können. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass sie, wenn sie älter wird, auch während des übrigen Jahres für ihre Auslagen aufkommen und zu all den Dingen beitragen wird, die wir gemein- sam nutzen. Bei uns ist es nicht Tradition, dass Kinder viel arbeiten oder viel zum Familieneinkommen beitragen. Und wir sind auch nicht so knapp bei Kasse, dass unser Überleben von ihrem Beitrag abhinge. Deshalb entscheiden wir uns im Zweifelsfall für den üblichen Weg (wie auch wir aufgewachsen sind). Ich glaube, wenn wir mit der Crew unterwegs sind, arbeitet sie größtenteils aus eigenem Antrieb. Sie sagt, sie will etwas ver- dienen, um der Crew all ihre Auslagen bezahlen zu können. Ich halte nicht viel davon, Kinder zu zwingen, etwas zu lernen, was sie nicht wollen, aber ich halte viel davon, dass sie je nach ihren Fähigkeiten und den Bedürfnissen der Familie arbeiten. Da Kinder ohnehin den über- waltigenden Wunsch haben, das zu tun, was die älteren Familienmitglie- der tun, ist dies kein Problem. Manchmal weigert sich unsere Tochter jetzt, die eine oder andere Aufgabe zu erfüllen (»das ist langweilig«, »der oder die mussen es auch nicht tun«). Aber wir bestehen darauf. Wenn du es warm haben willst, musst du auch Feuerholz tragen. Sie scheint zu erkennen, dass dies nur fair ist, und lenkt schnell ein. Sie hilft auch beim Schneiden. Mittlerweile besitzt sie eine eigene Sage und kann mit etwas Anleitung einen ganzen Baum schneiden. Aber diese Aufgabe ist schwieriger zu erlernen. Ich glaube, das Leben in einer Arbeitsgruppe hat uns als Familie wirklich gut getan. Es half mir, Grenzen zu setzen, und ermutigte uns zu 236 akzeptieren, dass wir auch Zeit ohne einander verbringen. Gleichzeitig haben wir Gelegenheit, auch zusammen zu sein, wenn wir es brauchen. Schon sehr früh akzeptierte A., dass ich arbeiten muss, und lernte, sich selbst zu unterhalten. Ich glaube, diese Art von Einsamkeit ist für jeden wichtig. Sie hat nicht so viel geklammert und von mir verlangt, und ich lernte zu entscheiden, welche ihrer Forderungen ich erfüllen würde. Bevor ich mit der Crew lebte, hatte ich das Gefühl, ihr immer alles geben zu müs- sen, was sie wollte. Indem ich in ihrer Nähe arbeitete, lernte sie zu akzep- tieren - und profitierte sogar davon -, dass sie manchmal etwas selbst lösen musste. Das führte dazu, dass jeder von uns seine Eigenständigkeit stärker fühlt, und dass wir, wenn wir zusammen sind, einander näher sind. Außerdem harmoniert unser Zusammensein nun besser mit T.s Lebens- weise. Ihre Einstellung zur Arbeit (ebenso wie meine) hat stark von dieser Arbeitssituation profitiert. Die meisten in der Crew arbeiten größtenteils gern und mit einer Begeisterung, die ansteckend ist. Mit T. arbeitet sie här- ter und länger als mit mir, weil er es genießt, sich selbst herauszufordern. Weil ich bei den letzten Arbeitseinsätzen als Buchhalterin fungierte, hat sich auch ihr Interesse an Mathematik stark gesteigert. Sie hilft mir bei der Lohnliste und berechnet das Nettoeinkommen jedes Einzelnen. Sie scheint ein solides Grundlagenwissen im Lesen und in der Mathematik zu haben. Auch wenn sie sich nicht allzu häufig damit befasst, verfolgt sie beharrlich ihr Ziel, wenn sie etwas wirklich interessiert. Ich antwortete ihr: Sie fragen sich, wie A. im Vergleich zu anderen Kindern ihres Alters abschneidet? Ich vermute, dass ein Vergleich sehr gut ausfallen würde. Vermutlich ist sie klüger, selbstbewusster, ernsthafter, besonnener, moti- vierter, unabhängiger und ehrlicher. ' Menschen werden klug, wenn sie sich ständig mit konkreten Einzel- heiten des Alltaglebens auseinandersetzen. Indem sie Probleme lösen, die real und wichtig sind, wo eine gute Antwort einen echten Unterschied ausmacht, und wo ihnen das Leben und die Natur rasch sagen, ob etwas gut oder schlecht ist. Die Wälder sind ein solcher Ort, ebenso das Meer oder jeder andere Ort, an dem echte, qualifizierte Arbeit getan wird - wie etwa auf der kleinen Farm, auf der Jud Jeromes Tochter arbeitet, oder in Ihren Obstplantagen. Vor zwei Jahren arbeitete ich im Sommer einige Zeit auf einer kleinen Farm in Nova Scotia. Sein Besitzer war Nachbar und Freund meiner Freunde, bei denen ich zu Besuch war. Er besaß einen großen Garten, in 237 dem er nahezu seinen gesamten Bedarf an Gemüse zog, ungefähr fünf Hektar Wiese und eine Weihnachtsbaumplantage. Zusätzlich hatte er ein kleines Waldgrundstück, wo er Holz für den Eigenbedarf und für den Ver- kauf schnitt. Mit seinen 72 Jahren erledigte er alle Arbeiten selbst mit Hilfe von zwei Pferden. Das Fachwissen, die Präzision, das Urteilsvermögen und die Wirtschaftlichkeit seiner Bemühungen, die er bei seiner täglichen Arbeit bewies, waren bewundernswert. Der Freund, den ich besuchte, ist selbst ein hochintelligenter, gebildeter Mann und gewiss keine Stadtmensch, son- dern ein echter Mann vom Land, der lange Zeit einen Großteil seiner Lebensmittel selbst erzeugt hatte und sein Vieh selbst geschlachtet, das Fleisch zerlegt, geselcht oder tiefgefroren hatte. Und dennoch sagte er ohne jede falsche Bescheidenheit, dass er mit etwas Glück und guten Rat- schlägen möglicherweise in fünfzehn oder zwanzig Jahren die Landwirt- schaft so beherrschen würde wie sein alter Nachbar. LAUBSAMMELN Wieder und wieder haben mir Kinder bewiesen, wie gerne sie etwas Nützliches tun. Vor zwei Jahren habe ich ein kleines Experiment in städtischer Landwirtschaft begonnen. Im Herbst wird das Laub im Stadtpark von Gärtnern zu großen Haufen zusammengeblasen und später weggefahren. Solange sie noch aufgehäuft sind, hole ich mir einige Körbe davon und schichte das Laub im Hof hinter meiner Sou- terrainwohnung auf. Dann übergieße ich es täglich mit Wasser, um damit die Würmer zu füttern, die ich züchte. Sobald das Laub eine dicke Schicht auf der Erde bildete, begann ich, es aufzusammeln. Frühmorgens packte ich dafür zwei Eimer auf einen kleinen Leiterwagen und machte mich auf den Weg in den Stadtpark, um erneut Laub zu holen. Eines Morgens stapelte ich mehr als ein Dutzend Wagenladun- gen. Weil Regen in der Luft lag, wollte ich noch einige Fuhren machen, um vier weitere Eimer zu füllen, solange das Laub noch trocken war. Als ich den Stadtpark erreichte, sah ich vier Jungen (zwischen acht und zehn Jahren, wie ich später erfuhr), die Laub zusammenharkten und in einen ausgetrockneten Teich warfen, der sich um ein kleines Denkmal erstreckte. Als sie mich entdeckten, kamen sie zu mir und fragten, ob sie sich meine Eimer ausleihen dürften, um sie mit Blät- tern zu füllen, weil das rascher ginge, als jeweils nur einen Arm voll 238 zu nehmen. Ich sagte, dass dies zwar eine gute Idee sei, aber ich die Eimer selbst bräuchte, weil ich sie mit Blättern füllen und nach Hause fahren würde. »Wofur?«, fragten sie. »Um daraus Humus zu machen«, sagte ich. Darüber dachten sie einen Augenblick lang nach. Dann fragten sie, ob sie sich die »Schubkarre« ausleihen könnten. »Sicher«, sagte ich, aber wenn meine Eimer voll wären, würde ich sie wieder benötigen. Sie stimmten zu und zogen mit dem Wagen davon, den sie dazu verwendeten, Laub in den leeren Teich zu transportieren. Als ich fertig war, rief ich zu ihnen hinüber, und sie brachten mir den Wagen zurück. Ich fuhr die Eimer nach Hause, schüttete das Laub über die Mauer und fuhr für eine weitere Ladung in den Park zurück. Diesmal kamen die Jungen, um mich zu fragen, ob sie mir helfen könnten, indem sie einen Teil des Laubes, das sie im Teich gesam- melt hatten, in meine Eimer füllten. Ich meinte, dass noch genug Laub auf dem Boden läge, und dass ich ihnen nichts von ihrem scho- nen Haufen wegnehmen wolle. Weil sie jedoch darauf beharrten, wil- ligte ich ein und bedankte mich. Während sie die Eimer füllten, rechte ich noch mehr Laub zusammen. Nach wenigen Minuten kamen sie mit den vollen Eimern zurück, redeten wild durcheinander und stell- ten jede Menge Fragen. Als ich das Laub in den Eimern mit den Füßen zusammenstampfte, stellten die Jungen erstaunt fest, wie sehr sich die Blätter verdichten ließen. Nun füllte ich die Eimer mit dem Laub auf, das ich inzwischen zusammengerecht hatte. Wieder boten die Jungen ihre Hilfe an, und ich willigte ein. Während wir gemeinsam arbeiteten, sagte ich ihnen, dass ich das Laub benötigte, um die Würmer zu füttern, die ich züchtete. Das faszinierte sie. Wel- che Würmer? Wie viele hatte ich? Woher bekam ich sie? Wie viel kosteten sie? Was fraßen sie? Wie fütterte ich sie? Wo hielt ich sie? Warum tat ich es überhaupt? Als die Eimer gefüllt und auf den Wagen geladen waren, fragten die Jungen, ob sie mir helfen könnten, sie nach Hause zu fahren. Wie- der stimmte ich zu und dankte ihnen. Nach einer kleinen Auseinan- dersetzung bildeten sie ein Viermannteam, um den Wagen zu fah- ren. Zwei schoben ihn und zwei hielten ihn an den vorderen Ecken, um ihn »zu führen«, wie sie sagten. Zu diesem Zeitpunkt waren sie schon so neugierig auf die Blätter und die Würmer, dass ich beschloss, sie ihnen zu zeigen. Sie sagten, dass man ihnen gesagt habe, dass sie nur im Park bleiben dürfen. Daraufhin meinte ich, dass ich nur wenige Blöcke entfernt wohne und gleich wieder mit 239 ihnen zurückkehren würde, was ihren Müttern sicher nichts ausma- chen würde. So schoben sie den Wagen an die Mauer, wo ich ihn ent- lud. Einer der Jungen bat mich, ihn hochzuheben, damit er den Laub- haufen im Hof sehen könne. Ich tat es, und er war erstaunt, wie groß der Haufen war. Bald schon kletterten alle über die Mauer oder wur- den von mir auf die Mauer gehoben, und so sahen sie mir zu, wie ich das Laub ablud. Als sich die Blätter im Eimer verfingen, half mir einer der Jungen, sie herauszuholen. Und die ganze Zeit über stellten mir die Jungen Fragen. Was ich tue? Ich sagte, dass ich Artikel und Bücher schrieb. Welche Art von Büchern? Bücher über Kinder und Schule und so weiter. Als wir in den Hof gingen, beharrten zwei Jungen darauf, die lee- ren Mülleimer hinunter zu tragen, während der dritte den Wagen einige Stufen hochzog - was ihn beträchtliche Mühe kostete -, um ihn zu verstauen. Dann gingen wir hinaus, um uns den Laubhügel anzusehen. Ich fand einen Wurm und zeigte ihn den Jungen. Sie bra- chen in lautes Geschrei aus: »Ihhh! Wie schleimig!« Aber nach weni- gen Sekunden wollten ihn alle halten. Ich suchte und fand auch einige Eier. Auf einem entdeckten wir sogar einen frisch geschlüpften Wurm, der kaum dicker war als ein Bindfaden. Die Jungen waren fas- ziniert, sprachen durcheinander und stellten eine Unmenge an Fra- gen. Bald schon fragten sie, ob jeder von ihnen einen Wurm haben könne. Sicher doch, sagte ich, gab jedem einen Wurm und ein wenig Erde, in die sich der Wurm verkriechen konnte. Dann bedeckte ich die Erde noch mit Blättern und steckte alles in einen Papiersack, damit sie es besser tragen konnten. Während wir zum Stadtpark zurückgingen, fragten sie mich, wie Würmer mehr Würmer machten. Ich erklärte ihnen, dass Würmer Zwitter seien, Männchen und Weibchen gleichzeitig, und dass zwei beliebige Würmer zusammenkommen und einander befruchten konnten, worauf beide Eier legen könnten. Bald waren wir wieder bei dem Denkmal und ihrem Laubhaufen. Nachdem wir noch ein wenig geplaudert hatten, sagte ich, dass es mir leid tue, aber dass ich nun nach Hause gehen und ein wenig arbeiten müsse. Es gefiel mir gar nicht, diese klugen, freundlichen, neugierigen, begeisterten und hilfs- bereiten Kinder zu verlassen. Ich arbeitete gerne mit ihnen zusam- men, zeigte ihnen Dinge und beantwortete ihre Fragen. Ich glaube, es tat ihnen genauso leid, mich zu verlassen. Ich erinnere mich, als sie den beladenen Wagen (der ziemlich schwer war) zu meiner Wohnung 240 zogen, sagte einer der Jungen zu einem anderen - nicht zu mir - und zwar in einer Stimme, die man nicht vortäuschen konnte: »Es macht Spaß, das zu tun!« Alle stimmten zu - es machte wesentlich mehr Spaß, einem Erwachsenen bei einer ernsthaften (wenn auch myste- riösen) Arbeit zu helfen, als nur in einem Laubhaufen herumzuspie- len. Ich hoffe, dass sie noch öfter Gelegenheit bekommen, mit mir zu arbeiten, oder mit einem anderen Erwachsenen, dem das, was er tut, wichtig ist. Ich will gar nicht daran denken, dass sie eines Tages zu gelangweilten, trotzigen, wütenden, destruktiven Teenagern wer- den könnten, wie jene, die Tag für Tag am Parkeingang in der Boyls- ton Street herumhängen. Einen Tag darauf schrieb mir eine junge Person: »Ich will gerne mit Kindern arbeiten.« Solche Briefe bekomme ich häufig. Meist lösen sie in mir den Wunsch aus zu sagen: »Was Sie wirklich meinen ist, dass Sie gerne an Kindern arbeiten wollen. Sie wollen Dinge an ihnen tun oder für sie tun - zweifellos wundervolle Dinge - Dinge, von denen Sie glau- ben, dass sie den Kindern helfen werden. Vor allem aber wollen Sie diese Dinge tun, ob es den Kindern selbst gefällt oder nicht. Warum glauben Sie, dass die Kinder Sie so dringend benötigen? Wenn Sie wirklich mit Kindern arbeiten wollen, warum suchen Sie nicht eine wertvolle Aufgabe, eine Arbeit, die Sie um ihrer selbst willen tun wol- len, und suchen dann nach Möglichkeiten, wie Kinder - wenn sie dies wollen - mit Ihnen zusammenarbeiten können?« Der Unterschied ist entscheidend. Für diese Jungen war meine Arbeit mit dem Laub und den Würmern deshalb interessant und auf- regend, weil es meine Arbeit war, etwas, das ich für mich tat, nicht für sie. Es war nicht eine Art von »Projekt«, das ich mir ausgedacht hatte, weil sie möglicherweise daran interessiert waren. Ich habe nicht im Park Laub gerecht, weil ich hoffte, dass mich einige Kinder sehen und sich mir anschließen würden. Ich hatte sie auch nie um Hilfe gebeten, nicht einmal mit dem kleinsten Hinweis; sie hatten darauf beharrt, mir zu helfen. Ich habe lediglich eines für sie getan - was vielleicht mehr ist, als viele Erwachsene getan hätten: Ich habe ihnen gesagt, dass sie mir gerne helfen dürften, wenn sie es sich so sehr wünschten. Ich würde gerne sehen, dass die Erwachsenenwelt allen Kindern genau diese Möglichkeit bietet. 241 FREIWILLIGENARBEIT Eine 12-jährige schrieb uns über ihre Freiwilligenarbeit in einem Büro: Im Juli 1978 ersuchte man meine Mutter, im Büro eines Verbandes für Geburtsvorbereitung (Childbirth Education Association) zu arbeiten. Damals hatten wir ein drei Monate altes Baby namens C. Deshalb bat mich meine Mutter, ins Büro mitzukommen und auf C. aufzupassen, während sie arbeitete. Aber als ich kam, schien C. immerzu zu schlafen, außer wenn sie hungrig war. So begann ich, kleine Arbeiten zu erledigen. Mrs. L. gab mir ein paar kleine Jobs, und ihre Tochter R. (die heute eine gute Freundin von mir ist) half mir, mit größeren Aufgaben klarzukommen. Sie brachte mir bei, wie man Registrierungspakete machte. Selbst heute noch mache ich pro Woche ungefähr 100 Stück zu Hause. Sie erklärte mir, wie man die Faltmaschine betätigte, um das Papier für die Registrie- rungspakete zu falten und auch für die Memos. Dabei hatten wir viel Spaß. Ich kann es sogar besser als meine Mutter, bei der sich immer wieder das Papier verklemmt. Ich lernte auch, wie man sich am Telefon meldete, obwohl es mir schwer fiel, »Childbirth Education Association« in einem Atemzug auszusprechen, und ich mitunter Gespräche trennte, statt sie in die Warteschleife zu schalten. Die Literaturbestellungen werde ich nie vergessen. Sie waren das Beste. Damit hatten wir wirklich Spaß. Erst mussten wir die richtigen Papiere finden und abzählen. Dann machte es jede Menge Spaß, die Rechnungen zu schreiben und die Umschläge zu adressieren. R. und ich wussten genau, welche Broschüren auf Lager waren und welche nicht, so dass wir derartige Fragen besser beantworten konnten als unsere Mütter. Am Ende des Tages musste ich auch die Postabrechnung machen. Dafür versuchte ich immer, Mrs. L’s Rechenmaschine zu verwenden, aber mitunter musste ich die Summe auch im Kopf zusammenrechnen. Dann gefiel es mir weniger. Aber nicht alles war Arbeit; mitunter spielten R., ihr Bruder und ich auch ein Spiel oder gingen in die Bibliothek. Ich freute mich wirklich darauf, ins Büro zu kommen. Aber schon bald kam der schlechte Teil. Ich musste wieder in die Schule gehen. Doch sobald ich meinen Stundenplan hatte, schickte ich eine Notiz mit allen Tagen, an denen ich schulfrei hatte und ins Büro kommen konnte. Jetzt warte ich auf die Sommerferien, damit ich wieder im Büro aus- helfen kann. 242 Vor nicht allzu langer Zeit bekamen wir so viele Briefe von Lesern der Zeitschrift Growing Without Schooling, die uns über Homeschooling befragten, dass wir nicht alle beantworten konnten. Daraufhin bat ich unsere Leser um Unterstützung. Viele boten uns ihre Hilfe an, unter anderem die Mutter von Lea, einem Kind mit Down-Syndrom. Sie fragte, ob es in Ordnung sei, wenn Lea die Briefe, die sie getippt hatte, (handschriftlich) mit der Adresse auf den Umschlägen versähe. Ich sagte erfreut zu und schickte ihnen einen Packen mit Briefen, die getippt und mit säuberlich adressierten Umschlägen zuruckkamen. Dann schickte ich ihnen einen noch größeren Stapel Briefe aus dem ganzen Land, die wir zwar schon beantwortet hatten, die aber für den Versand noch nach Staaten geordnet werden mussten. Leas Mutter schrieb mir daraufhin Folgendes: ... Lea war begeistert von dem gesamten Projekt und tief beeindruckt, dass sie auf dem Anschreiben mit ihrem Namen angesprochen wurde. Sie über- nahm das Sortieren und Ablegen mit großer Freude. Ich hatte nicht erwähnt, dass dies ebenfalls Teil unseres »Programms« war, denn ich hatte die Schule immer wieder zu überreden versucht, etwas »Reales« zu tun. Aber sie ließen sie weiterhin das Alphabet auf Papier malen, anstatt ihr Karteikarten, Rezepte, Broschüren usw. zu geben, wie ich es wollte. Ohne jeglichen Erfolg. So hatten wir dieses Jahr mit unseren Plänen begonnen. Ich hatte für sie mehrere Aktenordner vorbereitet, für jeden Kurs und jede geplante Aktivität einen, in die sie Rezepte, Broschüren und anderes Mate- rial abheftete. Außerdem bewahren wir auf diese Weise auch ihre Unter- lagen für Geld auf, für arithmetische Aufgaben, Sätze usw. Weil ich zudem meine Tage ein wenig strukturieren will und eine chronische Listenschrei- berin bin, haben wir auch für sie Tagespläne ausgearbeitet (damit sie ihre Aufgaben erledigen kann, ohne mich immer wieder zu fragen, was sie wirk- lich genießt - ich meine, die Unabhängigkeit dabei). Wenn diese Tagespläne über die übliche Routine hinausgehen, kommen sie ebenfalls in die Ordner. So war sie dieses System bereits gewohnt. Sie bastelte Ordner (wobei ich ihr beim Auflisten der Staaten mit ihren verschiedenen Abkürzungen half). In der ersten Runde unterstrich ich die Staaten auf den Briefen. Bei der zweiten Runde sah ich sie nur durch, um sicher zu gehen, dass sie tatsächlich eine lesbare Adresse hatten. Ich unterstrich sie jedoch nicht mehr - das machte sie schon selbst. Auf jeden Fall liebt Lea die- sen Job und kann es gar nicht abwarten, damit zu beginnen, selbst noch am Abend. All dies ist für Lea ideal - es ist eine Arbeitserfahrung und 243 zusätzlich setzt sie sich auseinander mit der Ablage, dem Alphabet, den Namen der Staaten, deren Abkürzungen usw. - und dies alles ohne for- melle »Anweisungen«. Sie tut es einfach. Das ist einfach perfekt, auch wenn es besonders für sie ein schwieriger Weg war. [Anmerkung des Autors: in einem späteren Brief erzählt diese Mutter, dass Lea einen bezahlten Halbtagsjob gefunden hat.] 244 11 Homeschooling in den USA P Bei der Überarbeitung dieses Buches habe ich erneut festgestellt, dass es sich bei diesem Werk nicht nur um einen polemischen und prak- tischen Leitfaden zum Thema Homeschooling handelt, sondern auch um einen groß angelegten Versuch, die politischen und gesetzlichen Themen anzusprechen, mit denen Homeschooler Anfang der 80er konfrontiert waren - und vermutlich auch heute noch sind und in der Zukunft sein werden. Holt beschreibt, wie notwendig Verbündete sind: Wie Schulen und Homeschooler zum Wohl der Gesellschaft zusammenarbeiten kön- nen, und wie auch unterschiedliche Gruppen zusammenarbeiten können, selbst wenn sie in Bezug auf Bildung verschiedene Ansichten vertreten ... Einige Leser erschraken angesichts von Holts ausführlichen rechtlichen Erklärungen, obwohl Holt durch die Erläuterungen der bestehenden Schwierigkeiten zwischen Homeschooling und Gerichten das Gesetz ent- mystifizieren und keineswegs die Öffentlichkeit verängstigen wollte. Er wollte den Menschen das Gesetz näher bringen und verwendete in der Originalausgabe viel Zeit darauf, die einzelnen nationalen, bun- desstaatlichen und lokalen Gerichtsentscheide zu beschreiben, die sich mit dem Recht auf Homeschooling befassen. Als John Holt das Buch Teach your own schrieb, bewegte sich Homeschooling in einer Grauzone innerhalb des Gesetzes. Entgegen anders lautenden Gerüchten gab es nie Statuten, die Homeschooling in irgendeinem Bereich der USA verboten. Normalerweise wurden Home- schooler nur dann vor Gericht gebracht, wenn sie sich über die Gesetze zur Schulpflicht hinweggesetzt hatten oder ihnen eine Vernachlässigung ihrer Bildungspflicht gegenüber dem Kind angelastet wurde, nicht aber wegen Homeschooling. In einigen Staaten gibt es keine Gesetze zu 245 Homeschooling, andere haben vernünftige Gesetze und wieder andere haben restriktive Gesetze. Auch wenn es Unstimmigkeiten darüber gibt, wie Homeschooling aussehen soll und wie man es in den einzelnen Staaten beschreibt, ist es überall gesetzlich erlaubt, die eigenen Kinder zu unterrichten, auch wenn man es nicht explizit als »Homeschooling« bezeichnet. In Alabama kann man zum Beispiel nur dann Homeschooling betrei- ben, wenn man eine Lehrerausbildung vorweist oder sein Zuhause als Kir- chenschule betreibt. Viele Familien lassen thr Zuhause als Kirchenschule registrieren oder schreiben einfach andere Familien in ihren Kirchen- schulen ein, weil derartige Schulen von sämtlichen in Alabama gültigen staatlichen Ausbildungsanforderungen befreit sind, allerdings unter der Bedingung, dass eine Schuleintragung stattfindet und dass Anwesen- heitsformulare ausgestellt werden. 2008: Kalifornisches Gericht hebt Homeschooling-Limitierung auf (Einschub des deutschen Hrsg.) (Recht galt nur fiir Kinder mit pädagogisch qualifizierten Eltern) Ein großer Sieg für Tausende von Homeschooling-Familien in Kalifornien und US-weit war die revidierte Rechtsprechung eines kalifornischen Beru- fungsgerichts am 8. August 2008, dass Eltern in der Tat das Recht haben, ihre Kinder in Homeschooling-Modellen lernen zu lassen, auch wenn sie keine Lehr- befugnis oder -qualifikation haben. Das aus drei Richtern bestehende Gremium erhielt noch im Februar natio- nale Aufmerksamkeit und Kritik, als es urteilte, dass »Eltern verfassungsgemäß kein Recht« hätten, ihre Kinder selbst zu unterrichten. Die Entscheidung wurde auf Basis eines 80Jährigen Gesetzes in der kalifornischen Rechtsprechung gefällt. Jedoch sei, so das Gremium nun am 8. August, in den Jahrzehnten seit diesem Gesetz auch Homeschooling implizit in der Rechtsprechung als legal akzeptiert worden. »Wir ... stellen fest, dass die kalifornischen Rechtsgrundsätze Homeschoo- ling als eine Art privater Schulbildung erlaubens, schrieben die Richter in ihrem einstimmigen Urteil. Im Februar des Jahres lautete die richterliche Entscheidung in einem spe- ziellen Fall noch, dass Eltern thre Kinder nur dann selbst unterrichten dürf- ten, wenn sie »ein gültiges Staatsexamen fiir den Unterricht des betreffenden Jahrgangs« haben. Etwas, was viele, wenn nicht sogar die meisten Eltern nicht besitzen. Im März verkündete das Gericht, es würde den Fall revisionieren, 246 nachdem der Gouverneur von Kalifornien, Arnold Schwarzenegger, die ur- sprüngliche Entscheidung heftig kritisiert und eine Gesetzesänderung ange- kündigt hatte für den Fall, dass der Beschluss nicht korrigiert werde. Ebenso der Staatsschulminister Jack O’ Connell, der sagte, er unterstütze die Rechte der Homeschooler. Am 8. August stellte das Gericht nun fest, dass Homeschooling im Jahre 1929 zwar aus den Landesgesetzen verbannt wurde und dass auch 1953 und 1961 in Rechtsprechungen »bestätigt« worden sei, dass Kinder nur mit aus- gebildeten Tutoren unterrichtet werden dürften. Seitdem aber seien die Grundsätze durch die Rechtsauslegung überholt worden, dass Homeschooling legal sei, urteilte nun das Rechtsgremium. Quelle: BP News Network (USA) am 09.08.2008 Wie Holt anmerkt und der semantische Stepptanz der Bildungsgesetze zeigt, sind sich weithin nicht einmal die Schulen selbst bewusst, dass die Familie das Recht hat, die Ausbildungsform ihrer Kinder selbst zu wählen. Heute ist die Situation weniger verwirrend als zu der Zeit, als Holt die Originalausgabe von Teach Your Own verfasste. Einige von Holts Beob- achtungen zu dem Thema, wie man um sein Recht auf Homeschooling kämpfen und dieses erhalten soll, sind heute, wo wir in das 21. Jahr- hundert eintreten, jedoch noch wichtiger, als damals, als er sie erstmals niederschrieb. Charter-Schulen, Fernunterricht und verschiedenste Arten von Ein- zelunterricht und Bildungsdiensten lassen die Grenze zwischen Zuhause und Schule, zwischen schulisch erworbenen und auferschulischen Diplo- men, zwischen Lernen durch Engagement und gemeinnütziger Arbeit verschwimmen. Das Positive daran ist die Vielzahl flexibler Möglichkei- ten, die diese Dienste Homeschoolern bieten können. Das Negative daran ist, dass viele dieser Optionen mit schulischen Ideen verbunden sind, die festlegen, wann, was und wie Kinder lernen sollen. Listen und Lehrpläne, was wann gelernt werden soll, dominieren ohnehin schon unsere Schulen. Und je mehr wir Regulatoren gestatten, auch unser Zuhause in Schulen zu verwandeln - indem wir denselben Listen und Lehrplänen folgen, bewertet und auf dieselbe Weise zur Verantwortung gezogen werden - umso unwahrscheinlicher wird es, dass wir etwas ande- res ausprobieren als das, was uns das Gesetz und die Schulrichtlinien für unsere Kinder vorgeben. Zu den größten rechtlichen Herausforderungen des Homeschoolings im nächsten Jahrhundert wird es zählen, diese Bildungsform eigenständig 247 zu erhalten und vor anderen Formen von privater oder öffentlicher Bil- dung zu schützen. Nicht nur zum Wohl der Familie und der Privatsphäre, sondern auch, um den Lehrern und Schülern in der Schule eine Mög- lichkeit offen zu halten: nämlich die Möglichkeit zu »unschoolen« und einen Lernprozess zu durchlaufen, der nicht dem üblichen Schulalltag gleicht.®® EINE ZWEIFELHAFTE ANKLAGE Wir haben bereits darüber geschrieben, dass Schulen behaupten, nur sie allein seien imstande, Kinder zu unterrichten. Zumeist stellen sie diese Behauptung uneingeschränkt auf. Wenn sie jedoch vor Gericht angeklagt werden, weil sie nicht getan haben, was sie behaupten, dass nur sie allein es tun können, werden sie plötzlich sehr bescheiden. Ein sehr aufschlussreicher Artikel über das Fehlverhalten eines Lehrers erschien in der Zeitschrift der amerikanischen Lehrerverei- nigung American Educator. Ein Auszug davon besagt Folgendes: Im Jahr 1972 brachten die Eltern eines Absolventen des öffentlichen Schul- systems in San Francisco eine Klage über 500 000 Dollar gegen den Schulbezirk ein, weil ihr Sohn nach einem regelmäßigen Schulbesuch von insgesamt 13 Jahren nicht imstande war zu lesen. Während seiner Schuljahre war er den für den Fall zusammengestell- ten Informationen zufolge immer im Mittelfeld seiner Klasse, erhielt durch- schnittliche Zensuren und war auch nie in etwas verwickelt, das zu größe- ren disziplinären Maßnahmen Anlass gegeben hätte. Die Eltern behaup- teten, dass sie während der Jahre, die ihr Sohn die öffentliche Schule besuchte, in ihren Versuchen behindert wurden, Informationen über den Fortschritt ihres Sohnes zu erhalten. Stattdessen hätten ihnen Schulmit- arbeiter und Lehrer versichert, dass er sich auf dem Niveau seines Jahr- gangs befände. Kurz nachdem der Jugendliche seinen Abschluss gemacht hatte, wurde er von Fachleuten einem Lesetest unterzogen, bei dem sich he- rausstellte, dass der Junge im Lesen nur dem Stand der fünften Schul- stufe entsprach ... Das Berufungsgericht des Staates Kalifornien wies die Klage der Eltern zurück, dass das Schulsystem es vernachlässigt habe, ihren Sohn auszubilden. Das Gericht erklärte, dass es für jede Person unmöglich sei 248 —- vor allem aber für die Gerichte - Richtlinien zu erstellen für »ange- messene« akademische Schemata, die sämtliche Schulen und Lehrer befolgen müssen. »Im Gegensatz zu Aktivitäten auf dem Highway oder dem Markt, ermög- licht es die Klassenmethodik nicht, allgemein annehmbare Standards für Sorge, Ursache oder Verletzung dieser festzulegen. Die Pädagogik selbst ist überladen mit unterschiedlichen, einander widersprechenden Theorien darüber, wie und was ein Kind lernen soll, und jeder Laie kann und wird auch im Allgemeinen seine eigenen emphatischen Ansichten zu dem Thema haben«, heißt es in der Stellungnahme des Gerichts. Selbstverständlich hat das Gericht mit dieser Meinung Recht. Aber was wird dann aus der von den Schulen ständig aufgestellten Behauptung, dass nur sie allein wüssten, wie man Kinder unterrich- tet? Eltern, die mit Schulen in Konflikt stehen, könnte es eine Hilfe sein, diese Worte der kalifornischen Richter zu zitieren. ’) Dasselbe Thema kam erneut zur Sprache. Diesmal in England. Im Oktober 2001 klagten die Eltern der 19-jährigen Katherine Norfolk das Hurstpierpoint College auf »entgangenen Verdienst, Beeinträchtigung der Berufsaussichten und persönliches Leid«, weil sie von ihrem Lateinpro- fessor schlecht unterrichtet wurde. Der erste Satz, der über diesen Fall in The Guardian erschien, spiegelt die beträchtlichen Ängste der Schulen bei diesem Thema wider: Schulleiter von Privatschulen mahnten Eltern gestern, keine Klage einzubrin- gen, wenn ihre Kinder enttäuschende Prüfungsergebnisse erzielten. Und dies, nachdem bekannt geworden war, dass eine Schule in Sussex von der Familie einer Musterschülerin, die in Latein keine Bestnote erhalten hatte, auf 150 000 Pfund verklagt worden war. Die Sorge ist meiner Meinung nach unbegründet. Dennoch verweist sie auf eine beträchtliche Unsicherheit seitens der Schulen. Wie Holt anmerkte, würden die Gerichte nicht zulassen, dass die Schulen in dieser Sache unterliegen, und dies aus einer Vielzahl von Gründen. Ich glaube, dass sich die Öffentlichkeit in der Frage der Verletzung der Berufspflicht durch Lehrer augenblicklich auf die Seite der Schulen stellen würde. So las ich zum ersten Mal von dem Norfolk-Fall in einer Humor-Kolumne, in der echte Nachrichten unter dem Titel »News of the Weird« (Bizarre Nachrichten) vorgestellt werden, was nur zeigt, wie ernst die Öffentlich- 249 keit diese Klage nimmt. Aber Holts Grundaussage, dass selbst teure Schu- len nicht garantieren können, dass sie wissen, wie man Kinder am besten unterrichtet, wird von Erziehungswissenschaftlern zweckdienlich igno- riert. Sie beharren darauf, die unqualifizierten, nicht diplomierten Unschooling-Eltern hätten keine Ahnung, wie sie ihre Kinder angemessen unterrichten miissten. Vielleicht verraten uns diese Erziehungsexperten dann mal ihr Geheimnis?®® ALLGEMEINE GERICHTSSTRATEGIE Wie Justice Cardozo in seinem überaus wertvollen Buch The Nature of the Judicial Process (Das Wesen von Gerichtsprozessen) heraus- strich, berücksichtigen Richter bei ihren Entscheidungen eine Reihe von Dingen: Rechtsphilosophie und rechtliche Grundsatze, rechtli- che Prazedenzfalle, den Willen der Gesetzgebung, wie er im Gesetz- buch ausgedrückt wird, und die möglichen oder wahrscheinlichen gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Entscheidungen. Wie wir bis- her gezeigt haben, wurden Eltern, die Klage gegen eine Schule ein- brachten, weil ihr Kind dort nichts gelernt hatte, vor Gericht abge- wiesen, weil sich rasch eine Flut von Klagen ergeben konnte, welche die Schulen ruinieren wurden. Wir können mit Sicherheit annehmen, dass die Gerichte in absehbarer Zukunft keine Entscheidungen tref- fen werden, die ihrer Meinung nach zu einer Zerschlagung des offent- lichen Schulsystems und einer Beendigung des Pflichtschulwesens führen würden. Wenn wir derartig weitreichende Entscheidungen anstreben, werden wir abgewiesen werden. Deshalb müssen wir, wenn wir spezifischere Entscheidungen erreichen wollen, oder wenn wir über Fälle sprechen, die wir mögli- cherweise gewinnen werden, sorgsam darauf achten, in der Öffent- lichkeit nicht lautstark damit zu prahlen und den »Untergang des Pflichtschulwesens« zu verkünden. Erstens wären derartige Prahle- reien unsinnig, denn selbst wenn die Gerichte durch ein Wunder das Pflichtschulwesen abschafften, würde es eine wütende Mehrheit der Bevölkerung rasch wieder errichten, wenn nötig sogar durch eine Ver- fassungsänderung. Zweitens würden derartige Prahlereien unsere Chancen beträchtlich schmälern, auch in spezifischen Fällen von den Gerichten eine Entscheidung zu unseren Gunsten zu erhalten. Drit- tens verängstigen derartige Prahlereien häufig die Schulen, die 250 ohnehin schon angstlicher sind, als es sein müsste, und die wir schon aus Eigeninteresse beschwichtigen sollten. >) Man sollte nicht unterschätzen, wie wichtig Holts wiederholter Rat- schlag ist, »wie ein Richter zu denken«, sobald man beabsichtigt, vor Gericht zu gehen. Ich habe bereits einige Homeschooler erlebt, die sich mit einer mageren rechtlichen Strategie entschlossen, die Pflichtschulge- setze herauszufordern, indem sie darauf vertrauten, dass die Richter auf grund des gesunden Menschenverstands »das schon irgendwie einsehen« und zugunsten des Homeschoolings und gegen das Pflichtschulsystem entscheiden würden. Richter ziehen es jedoch vor, enge, fallspezifische Entscheidungen zu treffen, wie Holt immer wieder hervorhob. Wenn ich von einem Rechtsfall hore im Stil von: »Wenn wir gewinnen, wird das ein großer Sieg fiir die Homeschooling-Bewegung«, zucke ich zusammen; nach zweiundzwanzig Jahren auf diesem Gebiet habe ich sehr wohl Siege in unserer staatlichen Gesetzgebung fiir das Homeschooling gesehen, aber noch mehr Niederlagen und Pattsituationen als eindeutige Siege vor Gericht. Richter scheinen Schule und Bildung als wichtiges Instrument in ihrem Sortiment an Loésungsmoglichkeiten zu betrachten, und Home- schooler werden - wie überzeugend ihre jeweiligen Fille auch sein mögen - Richter nicht davon abbringen, das Schulwesen als disziplinire Maß- nahme anzusehen und darauf zu vertrauen. Wie Holt sagt: »Ich sehe keinen Sinn darin, den Behörden direkt gegeniiberzutreten, wenn ich 1thnen auch ausweichen kann.« Nur wenn es nicht mehr möglich ist auszuweichen, dann ist es oft besser, sich an die Gesetzgeber des jeweiligen Bundesstaates zu wenden, als bei Gericht eine Klage einzubringen. Holts Stellungnahme zur Gesetzgebung und seine Beschreibung einer Anhörung, die im Weiteren folgen, sind Beispiele dafür, wie solche Aktionen fiir Homeschooler positiv ausgehen kénnen. €€ STRATEGIEN ZUR GESETZGEBUNG Anfang der 80er Jahre wurde ich vom Bildungsausschuss des Repréa- sentantenhauses von Minnesota eingeladen, bei Anhorungen aus- zusagen, die sie uber Hausunterricht und Privatschulen abhielten. Ich sagte, dass ich gerne dazu bereit sei, und schickte ihnen vorab eine Erklarung meiner Position. Was ich diesem Ausschuss sagte, könnte sich bei jeder anderen gesetzgebenden Behörde - sei es 251 eines Bundesstaates oder einer Provinz - die sich mit Homeschoo- ling auseinandersetzt, ebenfalls als nützlich erweisen. Das Statement lautete: Da die Zeit kurz ist, sollten wir sie nicht mit Diskussionen darüber ver- geuden, ob öffentliche Schulen gute Arbeit leisten. Eine derartige Ausein- andersetzung lässt sich hier nicht lösen. x * * Gestatten Sie mir, meine Position kurz zusammenzufassen: 1. Sowohl kurzfristig als auch langfristig ware es im Interesse der Schulen und der allgemeinen Öffentlichkeit günstig, wenn die Schulen die wachsende Homeschooling-Bewegung nicht als Bedrohung betrachteten, sondern als Moglichkeit und potenziellen Aktivposten, und ihr nicht Wider- stand entgegensetzten, sondern sie im größtmöglichen Rahmen unter- stutzten. 2. Auch fur die Gesetzgebung ware es gunstig, wenn sie in samtlichen Bildungsgesetzen, die sie verabschiedet, sehr stark das Recht der Eltern, ihre eigenen Kinder zu unterrichten, betonte und unterstutzte, und wenn sie es den Schulen erleichterte, sie bei diesen Bemuhungen zu unter- stutzen. 3. Den gegenteiligen Versuch zu unternehmen, das heißt, es den Men- schen schwerer oder unmoglich zu machen, ihre eigenen Kinder zu unter- richten, ware ein schwerer bildungspolitischer, rechtlicher und politischer Fehler. Was hat das Gesetz zu alledem zu sagen? Hierbei mussen wir anmer- ken, dass »das Gesetz« nicht nur aus Gesetzen und Statuten besteht, sondern auch aus der Art und Weise, wie die Gerichte diese Gesetze inter- pretieren. Gemäß den wiederholten Gerichtsentscheidungen gibt es hier (wie an vielen anderen Orten auch) einen Konflikt zwischen den verfassungsmafig geschutzten Rechten der Eltern und den ebenfalls geschutzten Rechten der Staaten. Die Gerichte haben in unzahligen Entscheidungen bestatigt, dass ver- schiedene Staaten im Rahmen der ihnen Ubertragenen Polizeibefugnisse fordern durfen, dass alle Kinder eine Ausbildung erhalten, und dass sie dadurch das Recht haben, Gesetze zur Schulpflicht zu erlassen und durch- zusetzen. 252 Der U. S. Supreme Court (Oberste Gerichtshof der USA) hat jedoch ebenfalls festgehalten, erst in Pierce gegen Society of Sisters, und später in Farrington gegen Tokushige, dass der Staat zwar fordern darf, dass alle Kinder eine Ausbildung erhalten, dass er aber nicht bestimmen darf, dass alle Kinder auf dieselbe Weise ausgebildet werden müssen, und dass im Gegensatz dazu Eltern das verfassungsmäßig geschützte Recht hätten, für ihre Kinder eine Ausbildung zu wählen, die mit ihren Prinzipien und Glaubensgrundsätzen übereinstimmt. Anders ausgedrückt besitzt der Staat weder das Monopol auf Bildung, noch auf Schulen oder Methoden. Die Eltern haben ein Recht zu wählen, und dies nicht nur bei Nebensäch- lichkeiten, sondern auch in den wichtigen Fragen. Nachfolgende Entscheidungen staatlicher Gerichte unter anderem in Illinois, New Jersey, Massachusetts und lowa haben festgelegt, dass sich dieses Recht der Eltern, die Ausbildung ihrer Kinder zu kontrollieren, auch auf das Recht erstreckt, sie selbst zu unterrichten. In zumindest einem Staat haben die Gerichte festgelegt, dass die Beweispflicht, ob die Eltern fähig sind, ihre Kinder zu unterrichten, nicht bei den Eltern liegt, sondern dass es im Gegenteil die Pflicht des Staates sei nachzuweisen, dass die Eltern nicht dazu imstande sind. * * * Einige weitere rechtliche Punkte sollten hier hervorgehoben werden: 1. Die Gerichte haben nur aus einem einzigen Grund daran festgehal- ten, den Staaten das Recht zuzugestehen, Kinder zu einer Ausbildung zu zwingen: Kinder seien ohne Ausbildung nicht geeignet, einen Arbeitsplatz zu finden und wurden dadurch der Allgemeinheit zur Last fallen. Daraus folgt, dass die Staaten nur unter diesem einen Aspekt ein bestimmtes Aus- bildungsprogramm - sei es von den Eltern oder einer Privatschule - als unzulanglich erachten durfen. Die Gerichte haben zum Beispiel nie erklart, dass die Schulpflicht notwendig sei, damit alle Kinder ein »Sozialleben« hätten. Dies ist ein positiver Nebeneffekt - sofern es überhaupt ein posi- tiver Effekt ist. Deshalb dürfen die Staaten ein Bildungsprogramm auch nicht ausschließen, weil es den Schülern kein adaquates Sozialleben ermogliche. In diesem Bereich haben die Staaten kein Recht, hier sind die Rechte der Eltern vorrangig. 2. Ein Kammergericht in Massachusetts hat jungst festgehalten, dass das Recht der Eltern auf Unterrichtung ihrer Kinder nicht nur im ersten und vierzehnten Zusatz zur Verfassung verankert ist, sondern auch im neunten. 253 3. Ein Bezirksgericht in Kentucky erklärte in einer Entscheidung, die später vom obersten Gerichtshof des Staates bestätigt wurde, dass ein Staat zum Beispiel erst dann fordern dürfe, dass alle potentiellen Lehrer einen Fachabschluss vorweisen müssten, wenn er Beweise vorlegen kann, aus denen hervorgeht, dass Lehrer mit Fachabschluss besser unterrichten als Lehrer ohne Fachabschluss. Wortwörtlich hieß es in der Gerichtsent- scheidung, dass der Staat nicht imstande war, »auch nur die Spur« eines solchen Beweises vorzulegen. Was höchstwahrscheinlich auch keinem anderen Staat gelingen wird. Für das Gegenteil ließen sich jedoch jede Menge Beweise finden. So beschäftigen die selektivsten, anspruchsvolls- ten und erfolgreichsten Privatschulen, in welche die reichsten und gebildetsten Menschen ihre Kinder schicken, kaum bis überhaupt keine Lehrer, die eine Lehrerbildungsanstalt besucht oder ein Diplom in Pädago- gik erworben haben. 4. Als 1972 in San Francisco Eltern die Schule verklagten, weil ihr Sohn nach 13 Jahren Schulbesuchs nur auf dem Stand der fünften Schulstufe lesen konnte, wies das Berufungsgericht des Staates Kalifornien die Klage ab, indem es erklärte: »Im Gegensatz zu Aktivitäten auf dem Highway oder dem Markt, ermöglicht es die Klassenmethodik nicht, allgemein annehm- bare Standards für Sorge, Ursache oder Verletzung dieser festzulegen. Die Pädagogik selbst ist überladen mit unterschiedlichen, einander wider- sprechenden Theorien darüber, wie und was ein Kind lernen soll ...« Es fol- ~ gerte daraus, dass es niemandem möglich sei, Richtlinien zu erstellen für »angemessene« akademische Standards, die von sämtlichen Schulen und Lehrern befolgt werden müssen. Wie können Schulen, wenn sie wegen Nachlässigkeit angeklagt werden, sich damit verteidigen, wie es in diesem Fall geschehen ist, indem sie behaupten, niemand wüsste in Wirklichkeit, wie Kinder unterrichtet werden sollten, und im nächsten Atemzug behaup- ten, dass sie die Einzigen seien, die es wüssten? Wenn die Gesetzgebung versucht, den Eltern das Recht, ihre eigenen Kin- der zu unterrichten, zu verwehren oder auch nur unangemessen zu beschränken, werden diese Gesetze gewiss in den bereits überlasteten Gerichten angefochten werden und nicht standhalten. * * * Moglicherweise hat man Ihnen aber das Gegenteil gesagt, dass derartige Gesetze nicht notwendig seien, um die öffentlichen Schulen zu »retten«. Die 254 | Zahl jener Eltern, die ihre Kinder aus der Schule nehmen wollen, um sie zu Hause zu unterrichten, ist gering - und wird es auch bleiben, selbst wenn eine Genehmigung einfach zu erreichen wäre. Denn nicht viele Menschen genießen die Gesellschaft ihrer Kinder so sehr, oder wollen ihren Interes- sen und Sorgen so viel Aufmerksamkeit schenken, oder wollen so viel Ver- antwortung für ihre Entwicklung übernehmen. Dort, wo Schulen vor Gericht gegangen sind, um Eltern davon abzu- halten, ihre Kinder selbst zu unterrichten, sagten sie dem Gericht, dass dieses, falls es zugunsten der Eltern entschiede, eine »wahre Flut auslö- sen« werde, »einen negativen Präzedenzfall schaffen« und »einen Erdrutsch in Gang setzen« werde. Nirgendwo haben sich diese düsteren Prophezei- ungen bewahrheitet, nicht einmal in jenen Gemeinden, in denen die Eltern, die jeweils viel Publicity bekamen, ihren Fall gewonnen haben. Wenn sich die öffentlichen Schulen tatsächlich selbst retten wollen, sofern sie überhaupt in echter Gefahr sind, wäre wohl der beste Ansatz, erst einmal jene Probleme zu lösen, die sie bereits innerhalb der Mauern ihrer Schulgebäude haben. Bei der Suche nach geeigneten Lösungsmög- lichkeiten für diese Probleme könnten sie vielleicht von jenen Menschen etwas über effektive Lernmethoden erfahren, die ihre Kinder selbst unter- richten. Zusätzlich könnten sie Hilfe von vielen jener Kinder erhalten, die sich freiwillig entschließen, auf Teilzeitbasis für bestimmte Aktivitäten, die sie besonders interessieren, zur Schule zu gehen - wie dies auch heute schon der Fall ist. Das Beispiel dieser unabhängigen, eigenmotivierten Schüler könnte einen mächtigen Effekt auf die anderen Schüler haben und auf die Schulen im Allgemeinen. Dem geltenden Recht von Minnesota zufolge besitzen die Schulauf- sichtsgremien das uneingeschränkte Recht, Eltern zu gestatten, ihre Kin- der zu Hause zu unterrichten, sofern sie dies wünschen. Kurz gesagt, genügt das geltende Recht, so wie es festgelegt ist, um Homeschooling zu erlauben. Auch wenn das Gesetz lokalen Schulbezirken und Strafver- folgungsbehörden gestattet, nach eigenem Ermessen jede Familie zu ver- folgen, die versucht, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten, sind sie nicht dazu verpflichtet, und dies aus zumindest drei Gründen: 1. Nach geltendem Recht können die Schulbezirke die Schulanwesenheit nach eigenen Wünschen definieren. Innerhalb vieler Gerichtsbezirke haben Schulbezirke verschiedene Fernstudienprogramme, Volontariats- oder Praktikumsprogramme eingerichtet, sowie Programme, die erfordern, dass Schüler in andere Städte oder Staaten reisen. Ebenfalls sind Schulen seit 255 Generationen imstande, den Kindern von im Ausland lebenden oder rei- senden Familien, oder solchen, die aus beruflichen Gründen im Inland rei- sen (z.B. Familien einer Zirkus- oder Theatertruppe) gültige akademische Zeugnisse auszustellen. Niemand hat je die Behauptung aufgestellt, oder könnte in diesem Sinn eine Behauptung aufrechterhalten, dass diese Schulen die staatlichen Gesetze zur Schulpflicht in irgendeiner Weise ver- letzten. Auch sind diese Schulen nicht verpflichtet, ihre Definition von Schulanwesenheit gegenüber einer anderen staatlichen Behörde zu ver- teidigen. In dieser Hinsicht sind sie berechtigt, nach eigenem Ermessen zu handeln. 2. Nach geltendem Recht sind die Schulbezirke bzw. der Staat berech- tigt, Privatschulen nach eigenen Vorstellungen zu definieren. Zum Glück ist es nicht erforderlich, dass die Lehrer von Privatschulen über ein Fachdi- plom verfügen müssen. Es wird lediglich gefordert, dass die »allgemein- bildenden Zweige« in englischer Sprache unterrichtet werden. Was die Lehrstunden anbelangt, hat es keinen Sinn, dass öffentliche Schulen jenen Kindern, die üblicherweise eine öffentliche Schule besuchen und aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls nicht imstande sind, dem Unterricht beizuwohnen, standardmäßig einen Tutor nach Hause schicken, damit sie in ihren schulischen Leistungen nicht zurückfallen. Denn wie viel Zeit diese Tutoren mit den Kindern verbringen, variiert von Bezirk zu Bezirk. Meine eigene, begrenzte Untersuchung hat ergeben, dass der Zeitraum zwischen einem Minimum von eineinhalb Stunden pro Woche bis zu einem Maxi- mum von vier Stunden pro Woche liegt. Es wäre für die Legislative inter- essant, die Schulpraxis in dieser Hinsicht im gesamten Staat zu prüfen. Viele Familien, die das Lehrmaterial von Fernschulorganisationen ver- wenden, haben mir berichtet, dass ihre Kinder imstande sind, das, was die Fernschule als schulische Wochenaufgabe bezeichnet, innerhalb weni- ger Stunden zu erledigen. 3. Nach geltendem Recht ist die Schulaufsichtsbehörde berechtigt, ein Kind von der Schulanwesenheitspflicht zu befreien, wenn es »aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht in der Lage ist, die Schule zu besuchen, oder nicht bereit ist zu lernen ...« Es ist unbestritten, dass viele Kinder in der Schule schlechte Leistungen erbringen, durchfal- len oder die Schule ganz abbrechen, weil sie gelangweilt sind; weil es ihnen in der Schule nicht gestattet ist, auf ihrem Niveau zu lernen; weil die Schule keine Programme anbietet, die ihren speziellen Interessen, Fähig- keiten und Bedürfnissen entsprechen; oder weil sie durch die konkur- renzbetonte bzw. bedrohliche Atmosphäre in der Schule und im Klassen- 256 zimmer daran gehindert werden, ihre Kapazitäten voll auszuschöpfen. In derartigen und anderen Fällen könnten wir uns vorstellen, dass es recht- lich zulässig und pädagogisch klug wäre, wenn Schulen Eltern solcher Kin- der, sofern diese dies wünschen, das Recht zugestehen, ihre Kinder in einer Art und Weise auszubilden, die besser harmoniert mit ihren Inter- essen, Temperamenten und Lernstilen, so dass bessere Ergebnisse erzielt werden. Das geltende Gesetz gesteht Schulaufsichtsbehörden dieses Recht zu und verpflichtet sie nicht, einer höheren Autorität für etwaige Ausnahmen Rechenschaft abzulegen. Kurz gesagt, ist das Gesetz imstande, Eltern zu gestatten, ihre Kinder zu unterrichten - und sollte meiner Ansicht nach diese Möglichkeit stärker hervorheben - ohne dass dafür eine Gesetzesänderung notwendig wäre. Erst wenn es die Absicht der Legislative ist, den Hausunterricht deutlich zu erschweren, oder gar zu verbieten, sind Gesetzesänderungen erforderlich. Wenn die Legislative das Recht der Eltern, ihre Kinder selbst zu unter- richten, zu bestätigen wünscht - während sie gleichzeitig ihr verfas- sungsmäßiges Recht ausübt, indem sie sicherstellt, dass alle Kinder eine Ausbildung erhalten, könnte sie Resolutionen ausgeben, die mehr oder weniger Folgendes besagen: 1. Es ist nicht die Absicht des Pflichtschulgesetzes dieses Staates, Eltern das Recht zu verweigern, für ihre Kinder eine Ausbildung zu wählen, die mit ihren innersten Wünschen und Prinzipien harmoniert, einschließlich des Rechts, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten, sofern sie dies wünschen. 2. Noch ist es die Absicht dieser Legislative, Schulbehörden zu autori- sieren, Schülern, die unter ihre Gerichtsbarkeit fallen, einen einheitlichen Lehrplan und einheitliche Lehr- bzw. Bewertungsmethoden aufzuerlegen. Unter Fachleuten und Laien gleichermaßen gibt es weitreichende und legi- time Meinungsunterschiede über die Gegenstände, in denen Kinder unter- richtet werden sollen, die zu verwendenden Lehrmaterialien und über die Bewertungsmethoden für diesen Unterricht und diese Art des Lernens. Und diese Meinungsunterschiede wird es auch in Zukunft geben. Nur wenn wir eine breite Palette an Ausbildungsmethoden gestatten und unterstüt- zen, können wir durch diese Erfahrungsfülle lernen, unsere Kinder wir- kungsvoller zu unterrichten. Es ist Absicht der Legislative, eine derartige Vielfalt zu gestatten und zu fördern. 3. Anstelle von detaillierten Richtlinien, die Homeschooling regulieren, oder der Errichtung spezieller administrativer Körperschaften zu diesem 257 Zweck, würden wir es vorziehen, wenn man den lokalen Schulbezirken die Verantwortung überträgt, nach pflichtgemäßem Ermessen Homeschoo- ling-Familien zu betreuen und unterstützend zu begleiten, stets unter Berücksichtigung des oben angeführten allgemeinen Ziels. Ich darf nochmals darauf hinweisen, dass, auch wenn die Legislative der- artige oder gleichlautende Resolutionen verabschiedet, viel Zeit vergehen wird, bis ebenso viele Kinder zu Hause unterrichtet werden, wie derzeit in den Schulen unserer Großstädte täglich dem Unterricht unerlaubt fern- bleiben. Wenn die Legislative beabsichtigt, auch in Zukunft Homeschooling im Vergleich zum heutigen Zustand nicht zu erschweren, wäre es klug, in ein Gesetz das aufzunehmen, was zumindest ein Gericht in Nebraska durch eine Entscheidung bereits bestätigte: Dass die Gesetze, die sich mit Ver- nachlässigung befassen, nicht als Bestandteil der Gesetze über die Schul- pflicht zu betrachten sind, und dass eine Anklage wegen Vernachlässi- gung, und die mögliche Folge der Entfernung des Kindes aus der Aufsicht der Eltern, nicht als natürliche und legitime Strafe dafür verstanden wird, dass die Kinder keine anerkannte Schule besuchen, oder sich weigern, dies zu tun. Hierzu einige Überlegungen: 1. Schulleute könnten behaupten, dass eine derartig ernste Drohung not- wendig sei, um zu garantieren, dass die Schulpflicht wahrgenommen wird. Dies verstößt jedoch gegen ein Grundprinzip des allgemeinen Rechts, das möglicherweise nirgendwo explizit festgelegt, aber allgemein anerkannt wird, dass die Strafe für ein Vergehen im Verhältnis zu diesem Vergehen stehen muss. Ausgehend von diesem Prinzip dürfte zum Beispiel eine Gemeindeverwaltung Falschparken nicht mit einer Gefängnisstrafe ahn- den, mit der Begründung, dass die sichere Erfüllung des Gesetzes ohne diese schwere Strafe nicht möglich sei. 2. Als die Legislative die Gesetze verabschiedete, die es dem Staat ermöglichen, im Fall einer Vernachlässigung Kinder aus der Obhut ihrer Eltern zu entfernen, dachte sie an Kinder, die hungern, nackt gehalten werden, grausam geschlagen und gefoltert werden, in Schränke einge- sperrt oder an Möbelstücke gekettet werden. Sie dachte nicht an Kin- der von gewissenhaften, hingebungsvollen Eltern, deren einziges Ver- brechen darin besteht, dass sie nicht einverstanden sind mit der Art von Ausbildung, welche die lokalen Schulen bieten. Diese Eltern mit echten Kindesmisshandlern in einen Topf zu werfen, wie es die Schulen schon 258 oft getan haben, ist eine schwerwiegende Pervertierung des Gesetzes und der Gerechtigkeit. 3. Zusätzlich ist anzumerken, dass selbst Menschen, die schwerwie- gende Verbrechen begangen haben - wie Körperverletzung, schweren Diebstahl, Totschlag und sogar Mord -, nicht automatisch das Sorgerecht für ihre Familien entzogen wird. Sobald derartige Kriminelle ihre Strafe verbüßt haben, warten ihre Familien und Kinder auf sie, sofern sie dies wollen. Zu sagen, dass gewalttätige Kriminelle sehr wohl fähig sind, ihre Kinder großzuziehen, aber Menschen, die ihre Kinder zu Hause unterrich- ten wollen, nicht, ist erneut eine Pervertierung der Gerechtigkeit. Es muss einmal kategorisch gesagt werden, dass mit den Gesetzen etwas grundlegend falsch wäre, wenn es tatsächlich so wäre (was ich bezweifle), dass die Einhaltung des Gesetzes über die Schulpflicht nur durch schwere und grausame Strafen durchgesetzt werden kann - wobei diese Strafen liebevolle Eltern wohl am härtesten treffen. Im Namen der Gerechtigkeit und Billigkeit sollten in jedem Fall die Durchsetzung dieser Gesetze, ebenso wie die Festlegung oder Vorwegnahme der Argumente, welche Ausbildung für Kinder die beste sei, aus den Händen der Schulen genom- men werden. In meiner Stellungnahme an den Ausschuss schlug ich vor, dass die Legislative einige einfache, allgemeine Resolutionen verabschieden sollte, falls sie Hausunterricht tatsächlich fördern und unterstützen wolle. Nach der Anhörung schrieb ich in einem Brief an den Verwal- tungsassistenten, dass meiner Meinung nach auch eine Resolution des Bildungsausschusses selbst - anstelle der gesamten Legisla- tive - genügen würde. Wenn die Schulbezirke lediglich eine Rück- versicherung wünschen, dass sie vom Gesetz her nicht gezwungen sind, alle Homeschooling-Familien zu verfolgen, würde ein diesbe- zügliches Statement des Ausschusses vermutlich als Bestätigung ausreichen. Die Anhörungen selbst waren sehr interessant. Bei der Eröffnung der Anhörungen verwies der Vorsitzende des Ausschusses darauf, dass einige Schulbezirke die Legislative ersucht hatten, das Gesetz Zu »bereinigen«. Was unter dieser »Bereinigung« zu verstehen sei, wurde schon bald klar. Zwei Zeugen, wovon einer Bezirksschulauf- seher und der andere ein Bezirksanwalt war, erzählten von den Schwierigkeiten, auf die sie stießen, als sie versuchten, einige Fami- 259 lien zu verfolgen, zu verhaften bzw. ihnen die Kinder zu entziehen, deren Wunsch es war, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten. Ihre For- derung an den Ausschuss lautete: »Entweder ihr schreibt diese Gesetze um und erklärt detailliert, was eine Privatschule ist und was nicht, damit wir diese Leute leichter und schneller verfolgen und verurteilen können, oder ihr hebt die Gesetze über die Schulpflicht gänzlich auf.« Zweifellos fordern auch Schulleute aus vielen anderen Staaten ihre Legislative auf, entweder keine Ausnahmen von der Schulpflicht zuzulassen (ausgenommen vielleicht bei reichen Leuten), oder die Idee gänzlich aufzugeben. In meiner Aussage gab ich mein Bestes, um den Ausschuss davon zu überzeugen, dass wir gar nicht vor dieser Wahl stehen. Mei- nem schriftlichen Statement fügte ich nur noch diese Punkte hinzu: (1) In immer mehr Rechtsfällen, in denen die Familien ihren Fall sorg- fältig vorbereitet haben, z.B. einen detaillierten Lehrplan ausgear- beitet, Zitate von Fachleuten für Pädagogik beigefügt und relevante Gerichtsaussprüche vorgelegt haben, sprächen sich die Gerichte immer häufiger zu ihren Gunsten aus. (2) Die Tendenz zu familien- zentrierter Bildung sei Teil einer wachsenden landesweiten Bewegung zu mehr Autarkie und geringerer Abhängigkeit von großen Institutio- nen, einer Bewegung, die von mehreren Standpunkten aus betrach- tet als gesund und bewundernswert betrachtet werden könnte, und die auf jeden Fall weiterwachsen werde. (3) Der Versuch, gegen Homeschooling-Familien hart vorzugehen, würde die Zahl und Kom- plexität der Rechtsfälle bei Gericht nicht verringern, sondern steigern. In diesem Zusammenhang hatte der junge Bezirksanwalt irgend- wann entrüstet gesagt, dass eine Familie lediglich die Bibel als Lehr- buch verwende. Ich fragte ihn, ob es seiner Meinung nach für ihn leichter werden würde, wenn er bei Gericht und vor einem Richter argumentierten müsste, wie gut sich eine Bibel als Lehrbuch eigne. Ich fügte hinzu, dass es wohl nicht allzu schwierig sei, stichhaltig zu beweisen, dass die Bibel ein wesentlich besseres Lehrbuch sei als so manches, das in den Schulen verwendet wird. Wolle er sich tatsäch- lich auf solche Auseinandersetzungen einlassen? Sein Gesichtsaus- druck bei meiner Frage deutete auf ein klares Nein hin. Ich sagte dem Ausschuss auch, dass er sich darüber im Klaren sein müsse, dass diejenigen, die heute aus den verschiedensten Gründen ihre Kinder aus der Schule nehmen, um sie zu Hause zu unterrichten, dies auch weiterhin tun werden, unabhängig davon, wel- 260 che Gesetzesänderungen die Legislative beschließen werde. Sie wer- den, solange sie können, vor Gericht kämpfen, verzögern, behindern und Berufung einlegen, wenn es sein muss auch jahrelang. Und wenn sie schlussendlich mit dem Rücken zur Wand stehen, werden sie ein- fach in einen anderen Bezirk übersiedeln, oder den Bundesstaat ver- lassen. Sie werden nur eines nicht tun: ihre Kinder wieder zur Schule schicken. Ist es ein derartiges Ergebnis wirklich wert, all die Zeit, die Energie und das Geld der Steuerzahler aufzuwenden, um einen Kampf auszufechten, der von vornherein verloren ist? Als der Schulaufseher über die schlechte Publicity sprach, die sein Bezirk erhalten hatte, während er eine Familie verfolgte, meinte er irgend- wann: »Selbst wenn wir gewinnen, verlieren wir.« Wollen die Schulen und der Staat tatsächlich diese Art von Publicity bekommen? Eines der Ausschussmitglieder stellte mir eine Frage, die ich in der einen oder anderen Form bei fast jeder Versammlung höre. Sie lautet etwa folgendermaßen: »Was würden Sie mit einer Familie tun, die selbst nichts weiß, die nicht will, dass ihre Kinder etwas wissen, und die ihre Kinder nur aus der Schule nimmt, um ihre Arbeitskraft auszubeuten usw.?« Ich erinnerte sie an eine alte Rechtsmaxime, mit der sie gewiss vertraut waren: Schwierige Fälle führen zu schlechter Rechtsspre- chung. Ich argumentierte, wenn wir unsere Gesetze so festlegten, dass sie auch den schlechtesten hypothetischen Fall abdecken - was wir nur allzu häufig tun - erhalten wir Gesetze, die lang, schwer- fällig und schwierig bis gar nicht durchsetzbar sind, und vermutlich eher gute Menschen davon abhalten, Gutes zu tun, als schlechte Menschen, Schlechtes zu tun. Vermutlich gäbe es tatsächlich Fami- lien, die den schlimmsten Vorstellungen entsprechen, aber diese seien wohl die letzten auf Erden, die daran interessiert sind, ihre Kin- der zu Hause zu unterrichten. Im Gegenteil sind sie nur allzu begie- rig, die Kinder wieder aus dem Haus zu haben, sobald das Ende der Schulferien naht: »Gott sei Dank, dass die Ferien vorüber sind. Ich kann es nicht erwarten, dass diese verdammten Kinder wieder in die Schule gehen«. Die Ausschussmitglieder lächelten. Offenbar kann- ten sie solche Leute. Abschließend meinte ich, dass der Macht der Regierungen Gren- zen gesetzt seien, die sie nicht überschreiten dürften, wollten sie nicht ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Man hatte in den USA schon ein- mal versucht, eine gute Sache durchzusetzen, weil man der Ansicht 261 war, dass es für uns als Land besser sei, wenn niemand Alkohol tränke. Aber das edle Experiment scheiterte, weil es dem Volk nicht gefiel, dass die Regierung ihre Nase so tief in sein Privatleben steckte, und sich weigerte, diesem Gesetz zu gehorchen. Die einzige Folge waren ein gewaltiger Anstieg der Korruption innerhalb der Regierung und eine allgemeine Missachtung des Gesetzes. Soweit ich den Gesichtern und Fragen der Ausschussmitglieder entnehmen konnte, waren sie sehr an dem interessiert, was ich sagte, und sind auch darauf eingegangen. Nur ein Mitglied wirkte durch meine Worte deutlich verärgert und bedroht. Die letzte Frage stellte der Vorsitzende selbst: »Meinen Sie damit, dass wir das Gesetz in keiner Weise abändern müssen, wenn wir den Menschen gestat- ten wollen, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten?« Ich versicherte ihm, dass ich genau das meinte. Falls noch ein Mitglied des Ausschusses an dem zweifelte, was ich gesagt hatte, dass immer mehr Menschen entschlossen seien, ihre Kinder nach ihren Ansichten zu unterrichten, so wirkte die nächste Zeugin vermutlich endgültig überzeugend. Sie vertrat eine Vereinigung für christliche Erziehung und prangerte in ihrer Aussage die öffentlichen Schulen heftig an (was ich sorgfältig vermieden hatte). Im Vergleich zu ihr muss ich überaus sanft und vernünftig gewirkt haben. Ich möchte gern davon ausgehen, dass am Ende der Anhörung zumindest einige Ausschussmitglieder dachten: »Vielleicht hat Holt Recht. Vielleicht wollen wir doch nicht die nächsten zehn Jahre damit verbringen, gegen diese Art von Leuten anzukämpfen. Vielleicht ist es klüger, sie sich selbst zu überlassen und stattdessen alles zu unternehmen, um unsere Schulen zu verbessern.« Für Min- nesota und jeden anderen Staat wäre dies der klügere Weg. 262 12 Die ersten Schritte zum freien Lernen VON PATRIK FARENGA »WIE FUNKTIONIERT HOMESCHOOLING?« Es gibt so viele Varianten, wie es freilernende Kinder gibt. Denn das, was dem einen Kind geholfen hat, Lesen oder Rechnen zu lernen, trifft nicht automatisch auf ein anderes Kind zu. Deshalb funktioniert Homeschoo- ling für jeden anders ... Die Erfahrung zeigt, dass viele Eltern gern so anfangen zu unterrichten, wie sie selbst unterrichtet wurden, und zu vor- gegebenem Unterrichtsstoff und Lehrmitteln greifen. Nach und nach pas- sen sie dann ihre Lehrprogramm den Interessen und Fähigkeiten ihrer Kinder an. Wenn sie sich dann allmählich von Schulbüchern lossagen und sich normalen Sachbüchern und echter Lebenserfahrung zuwenden, nehmen sie oft auch die Hilfe anderer Mentoren aus ihrer Umgebung in Anspruch. Manche Familien wollen einfach die »Schule zu Hause« haben und richten sich nach offiziellen Lehrplänen, wobei sie nur uner- wünschten Stoff auslassen. Meine Frau und ich betreiben Homeschooling lieber nach Holts Lehr- und Lernprinzipien, was auch »Unschooling« genannt wird. Die meisten Familien entwickeln sich von der »Schule zu Hause« hin zum »Unschooling«, jedoch in unterschiedlichem Tempo und mit unterschiedlicher Konsequenz. Wie letztendlich Homeschooling für Sie aussehen soll, können nur Sie selbst entscheiden, aber keine Ent- scheidung ist unumstößlich. Sicher können Sie eine Hausschule einrichten mit Stundenplänen und einer Unterrichtsgestaltung wie in der Regelschule. Aber solch eine 263 Kopie von Schule könnte Sie und Ihre Kinder einengen. Vielleicht wech- seln Sie auch wie viele mir bekannte Homeschooler zwischen vorge- schriebenem Unterricht und situationsbedingtem Lernen, was entspann- ter und individueller gestaltet werden kann. Dabei sollten Sie wissen, dass Homeschooling nicht bedeutet, dass Ihre Kinder den ganzen Tag zu Hause bleiben müssen und nur von ihren Eltern und mit Lehrmaterial ler- nen. Wir planen zum Beispiel mehrmals in der Woche für unsere Kinder Zeit ein, die sie mit ihren Freunden verbringen, die nicht unbedingt nur Homeschooler sein müssen, und wir helfen uns gegenseitig. Meine Frau leitete zum Beispiel jeden Mittwochabend in unserem Haus für acht Kin- der - sieben Homeschooler und ein Freund, der zur öffentlichen Schule ging - das sehr beliebte Treffen des »Detektivklubs«. Im Gegenzug betei- ligten sich unsere Kinder an Ausflügen, Theater- und Musikgruppen, die von anderen Homeschooling-Eltern geleitet wurden. Wir haben für unsere Töchter Möglichkeiten gefunden, sie an Unterrichtsstunden und Veran- staltungen teilnehmen zu lassen, die von Museen, Büchereien, Kirchen, Sportvereinen und Tanzschulen veranstaltet werden. In manchen Staaten können die Kinder sogar an bestimmten Unterrichtstunden der öffentli- chen Schulen teilnehmen; einen Versuch 1st das sicherlich auch für Sie wert. Manche Homeschooling-Gruppen haben Listen mit Mitgliedern, die bereit sind, als Hauslehrer oder Gesprächspartner von Kindern zu fungieren, die besonderes Interesse für thre Fachgebiete haben. Das Wichtigste ist, dass Ihre Kinder beim Homeschooling Zeit haben, selbst zu forschen und über die Dinge nachzudenken. Kinder, die selbst etwas herausgefunden haben, um ihre eigenen Ziele zu erreichen, werden dieses Wissen nie wieder verlieren und können darauf aufbauen. Wenn Ihr Kind zum Beispiel mehr über Archäologie lernen möchte, und Sie wissen nichts darüber (und interessieren sich auch überhaupt nicht dafür), dann können Sie ihm Zugang zu Büchern und anderem Material verschaffen. Eine engagierte Bibliothekarin in Ihrer örtlichen Bücherei kann zu einer äußerst wertvollen Verbündeten werden ... Als wir nach jahrelangem Leben in einer Wohnung in unser eigenes Haus zogen, gefiel es unserer damals sechsjährigen Tochter Lauren beson- ders gut, dass sie im neuen Garten hinterm Haus graben konnte. Sie ent- deckte einen ungewöhnlichen, runden Stein und zeigte ihn meiner Frau Day. Day dachte, es könnte vielleicht eine Musketenkugel aus der Kolo- nialzeit sein, was eine Welle von Lektüre und Unterhaltungen über die Kolonialzeit, Waffen und Archäologie ausléste. Day fand heraus, dass nicht weit von unserem Haus entfernt auf einem Gelände aus der Kolo- 264 nialzeit eine Ausgrabung durchgeführt wurde, und es gelang ihr, für Lau- ren einen Tag zu vereinbaren, an dem sie auf dem Gelände mithelfen durfte. Man muss nicht glauben, alles wissen zu müssen, um seinem Kind helfen zu können. Noch einmal: Homeschooling muss nicht wie Unter- richt in einer regulären Schule ablaufen und Sie müssen sich nicht wie ein typischer Lehrer verhalten. Im Gegenteil: Sie können auch auf Ihnen nicht vertrauten Gebieten gemeinsam mit ihren Kindern forschen. Madalene Axford Murphy aus Pennsylvania schreibt, wie sie das bei ihrem Sohn bewerkstelligt hat: Sehr früh stieß unser Sohn Christian in Naturwissenschaften und Mathematik an unsere Grenzen. Dabei wurde schnell offensichtlich, dass diese Bereiche in seinem Leben eine entscheidende Rolle spielen würden. Anfänglich erweiterte ich begeistert mein eigenes Wissen und lernte mit ihm zusammen, aber bald hatte ich weder die Zeit noch das Interesse daran, mit ihm Schritt zu halten. Wir gingen auf unterschiedliche Weisen mit dieser Situation um. Wir fanden fur Christian eine Astronomiegruppe, an der er einen Abend im Monat teilnahm. Er stellte fest, dass eines der Griindungsmitglieder in unse- rem Ortlichen Naturwissenschaftszentrum ein zwolfteiliges Seminar über Astro- nomie fur Erwachsene gab. Auf Empfehlung eines der dortigen Naturwissen- schaftler (einem seiner Freunde) durfte er daran teilnehmen, obwohl er erst elf Jahre alt war. Am ersten Abend kam er mit etwa zehn eng bedruckten Textsei- ten nach Hause, die er bis zum nächsten Mal lesen sollte. Dies sollte kein seich- ter, netter Wiederholungskurs von Mythen über Sternkonstellationen werden, in dem hie und da ein paar Fakten über Planeten etc. eingestreut wurden - nein: Es war eine Veranstaltung auf hohem wissenschaftlichen Niveau, ein uneingeschrankter Einstiegskurs in die technische Astronomie. Ich war darüber besorgt, Christian nicht. Er wiihlte sich durch die Texte und war enttäuscht, als der Kurs vorbei war. Hatte er alles verstanden? Nein, genauso wenig wie viele der teilnehmenden Erwachsenen, aber Begriffe wie »Parallaxe« und »Gradient« gehorten fortan zu seinem aktiven Wortschatz, und er wusste eine Menge mehr über Teleskope und die Wissenschaft der Astronomie als je zuvor. Eine andere Gruppe, genauer gesagt die Audubon Society, verhalf ihm zum Einblick in die Biologie ... Als sie zur Weihnachtszeit ihre jährliche Vogelzih- lung veranstaltete, nahmen Christian und ich daran teil ... Die Zählung war kein großer Erfolg. Die Vögel hielten sich bei eiskaltem Regen verborgen, und ich kam zu der Erkenntnis, dass ihre Intelligenz diesbezüglich der menschlichen überlegen war ... Der größte Erfolg dieser Aktion war die Freundschaft, die sich zwischen Christian und einem Biologen namens Bob entwickelte. Bob lud Christian zu | 265 anderen Vogelzählungen ein und nahm ihn in den letzten beiden Jahren zu fünfstündigen, von der Regierung unterstützten Vogelerkundungen mit. Christian kann jetzt sehr gut Vögel identifizieren und arbeitet daran, sie noch besser an ihren Stimmen erkennen zu können. Im darauffolgenden Sommer fand Christian heraus, dass er ehrenamtlich in dem Fischforschungslabor arbeiten konnte, wo Bob beschäftigt war, und verbrachte dort jede Woche zwei volle Arbeitstage ... Christian hat viel über Labortechniken gelernt und darüber, dass exakte Resultate viel mühsame Arbeit erfordern ... Alle diese Biologieaktivitäten fanden zu der Zeit statt, zu der Christian sonst vermutlich die High School besucht hätte, also zu einer Zeit, zu der Homeschooling-Eltern und manchmal auch die Kinder etwas nervös werden, ob sie nicht vielleicht doch den traditionellen Weg gehen sollten, besonders wenn die Kinder anschließend eine Hochschule oder Universität besuchen wol- len. Christian entschied sich, seine Wissenslücken in Naturwissenschaften mit Hilfe von Fachliteratur zu füllen, und Aktivitäten, wie ich sie gerade beschrie- ben habe, waren eine hilfreiche und nützliche Verbindung zur Realität. Carla Stein aus Massachusetts schreibt: Ich nahm 51 Blätter Papier und schrieb auf jedes Blatt eine Zahl von 0 bis 50. Diese legten wir dann nebeneinander auf den Fußboden in Kurven und Schlei- fen um die Möbel herum, so dass sie aussahen wie das Brettspiel »Candy Land« ... Dann hüpften wir den so entstandenen Pfad entlang, wobei wir mal nur auf die geraden, mal nur auf die ungeraden oder mal nur auf die Zahlen treten durften, die durch 3, 4, 5, usw. teilbar sind ... Das sorgte für viel Spaß, beson- ders wenn wir weiter als möglich mussten. Dann bekam jeder ein Stofftier und musste versuchen, dieses auf die richtigen Zahlenfelder zu werfen, was natür- lich nicht immer gelang und mit großem Gejohle einherging. Sue Smith-Heavenrich aus New York schreibt: Vor einiger Zeit führten meine Kinder »Mathe vor dem Frühstück« ein - eine Art Spiel, bei dem sie sich gegenseitig Fragen stellen, während ich Müsli und Saft hole. Coulter (7 Jahre alt) fragte zum Beispiel: »Wie viel ist ein Toby plus ein Toby?« Unserer vierjahriger Toby antwortete: »Acht!«. »Nein«, sagte Coulter. »Wie viel 1st ein Toby plus ein Toby?« »Acht!« antwortete Toby lauter und mit mehr Nachdruck. Plötzlich dämmerte es mir, das er recht hatte - jedenfalls was sein Alter anbetraf. Da waren für ihn zwei Tobys so viel wie 2 x 4, also 8. Darum fragte ich ihn, ob für ihn ein Toby 4 Jahre bedeutete. »Ja«, antwortete Toby. Darauf- 266 hin stellten sie Gleichungen mit dem Alter ihrer Freunde auf: »1 Joe (9) - 1 Kate (7) + 1 Isabell (6) = 2 Toby (8)« und so weiter. Ich frage mich, wie oft »falsche Antworten« in Wahrheit richtige Antwor- ten sind, wenn man die Frage anders versteht. Wenn Mathematik zum Ziel hat, Beobachtungen dieser Welt mit Symbolen zu bezeichnen, dann sollten wir unse- ren Kindern die Zeit geben, in diese Sprache der Mathematik hineinzuwachsen und sie zu entdecken. Als sie anfingen zu sprechen, haben wir auch nicht von thnen gefordert, jedes Wort korrekt auszusprechen oder gar die Grammatik richtig anzuwenden. Darum glaube ich, dass auch mathematisches Denken sich auf ganz natürliche Weise entwickeln muss. Ich habe als Kind Mathematik gehasst. Ich erinnere mich daran, wie mein Vater jeden Abend nach dem Essen mit mir die Karten mit den Rechenaufga- ben durcharbeitete. Ich hatte immer Angst, die falsche Antwort zu geben. So kam es, dass ich zwar immer besser lesen, sprechen und schreiben konnte, meine mathematischen Kenntnisse jedoch nicht zunahmen, obwohl ich mich durch ein Ubungsbuch nach dem anderen quilte. Ich hitte meine Schwester nie am Frihstiickstisch gefragt »Wie viel ist 1 Sue plus 1 Sue?«. Ich ging jeder Art von Mathematik aus dem Weg und war (wie meine Mutter sagte) der festen Meinung, ich sei »Mathesthenikerin«. Vielleicht »lehre« ich auch deswegen meine Kinder nicht Mathematik. Wir lösen unsere Aufgaben, machen Zahlenspiele und nutzen Mathematik als Hilfs- mittel in unserem täglichen Leben. Heute sortieren wir Kartoffeln fir den Markt und wiegen sie. Daraus entstehen alle möglichen interessanten Mathe- matikaufgaben. Das Gewicht der Schüssel, in der wir die Kartoffeln wiegen, betrug 250 Gramm. Manchmal bekommen wir eine Schüssel voller Kartoffeln, die etwa 3,75 Kilo wiegt. Ich habe den Kindern noch keine Bruchrechnung beigebracht, aber Coulter fand auch so heraus, wie viel die Kartoffeln wogen und gab verschiedene Gewichte hinzu, um auf das Ergebnis zu kommen. Sein Kommentar war: »Mensch, Mom, das macht Spaß! Wann graben wir wieder Kartoffeln aus?« In anderen Veröffentlichungen zum Thema Homeschooling in der großen, ständig wachsenden Anzahl von Homeschooling-Literatur finden Sie noch mehr Informationen, wie Homeschooling in den Familien funk- tiontert und wie Sie den für Ihre Familie passenden Weg finden können. Denken Sie immer daran, dass Sie nicht vor eine Klasse von dreißig Kindern stehen, sondern es nur - wie schon seit vielen Jahren - mit Ihren eigenen Kindern zu tun haben. Die Dynamik eines Schulunterrichts ist völlig anders als die der helfenden Begleitung beim Homeschooling. Ihre 267 Kinder verbringen so viel Zeit mit Ihnen, dass ihre Fragen natürlich und den ganzen Tag über aufkommen können. Wie alle Eltern wissen, stellen kleine Kinder ihre Fragen ständig und überall, wenn es ihnen nicht abgewöhnt wurde. Nur weil viele Menschen ihre Kinder in die Schule oder den Kindergarten schicken, heißt das nicht, dass das dafür aus- gebildete Personal den Wissenshunger der Kinder besser stillen kann als »unqualifizierte« Eltern. | In dem Buch Young Children Learning wird eine britische Studie beschrieben, die Tonbandaufnahmen mit Unterhaltungen von Eltern aus der Arbeiterklasse mit ihren vierjihrigen Kindern mit denen verglichen hat, die Erzieherinnen in Kindertagesstitten mit vierjahrigen Kindern geführt hatten. Es zeigt sich, dass die zuhause betreuten Kinder unzih- lige Fragen zu den unterschiedlichsten Dingen stellten und keine Hem- mungen hatten, neue Wörter oder Konzepte zu lernen. Die von qualifi- zierten Piadagoginnen betreuten Kinder hatten weniger breit gefacherte Ideen und stellten sehr viel weniger Fragen. Das Washingtoner Homeschooling-Forschungsprojekt The Relati- onship of Selected Input Variables to Academic Achievement among Washington’ s Homeschoolers (Das Verhältnis von selektierten Lernin- halten zu akademischen Erfolgen von Washingtons Homeschoolern) von John Wartes beschiftigte sich mit Homeschooling-Kindern, die teilweise von Eltern mit staatlich anerkannter Lehramtsbefugnis ausgebildet wor- den waren und teilweise von Eltern ohne diese Qualifikation. Beide Grup- pen wiesen keinerlei Unterschiede im Lernergebnis auf, und der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass »der Kontakt mit einem ausgebildeten Leh- rer keine unerlissliche Voraussetzung fiir akademische Erfolge ist. Politi- sche Entscheidungen, die einen Kontakt mit einem qualifizierten Lehrer zur Bedingung von Homeschooling machen, werden von diesen For- schungsergebnissen nicht gestiitzt.« Viele Privatschulen verlangen von ihrem pädagogischen Personal keine staatlich anerkannte Lehrerausbildung, sondern legen größeren Wert auf Lehrer, die ein gutes, fundiertes Wissen in threm Fach mitbringen. Warum legen diese Schulen keinen so großen Wert auf eine Lehrerausbildung? Weil sie wissen, dass die Freude am Unterrichten, die Liebe und Begeiste- rung fiir den Unterrichtsstoff und Verantwortung fiir die Kinder nicht nur bei qualifizierten Lehrern zu finden sind. Dasselbe gilt für Homeschooling. Fernschulen bieten seit Jahrzehnen Fernstudienkurse für im Ausland lebende Amerikaner und Homeschooler an. Alaska gründete ein Fern- studienzentrum, das Centralized Correspondence Study Programm 268 (CCS), das ebenfalls seit Jahrzehnten existiert. Der Staat verschickt ein Fernstudienprogramm an Eltern, die das Material dann gemeinsam mit ihren Kindern durcharbeiten. Es hat in all diesen Jahren keinerlei Anzei- chen dafür gegeben, dass zu Hause unterrichtete Kinder mit diesen Pro- grammen weniger gut gelernt hätten als ihre in Schulen unterrichteten Altersgenossen in Alaska oder anderswo auf der Welt. Homeschooling ermöglicht Lernen in einem anderen als dem von der Schule vorgeschrieben Tempo, da Sie und Ihre Kinder unendlich viel Zeit haben, sich die Dinge auf differenziertere Weise zu erarbeiten, als in der von der Schule vorgeschriebenen Art, was natürlich zu unterschied- lichen Ergebnissen führt. Manche Eltern richten sich streng nach dem offiziellen Lehrplan, während beispielsweise meine Frau und ich nicht die Rolle von Aufsehern einnehmen wollen, die für die strenge Einhaltung von Lehrplänen sorgen; wir fördern unsere Kinder einfach nur nach unse- ren Möglichkeiten und versuchen, gute Eltern zu sein. In seinem Buch Das Verschwinden der Kindheit schreibt Neil Postman, wie sich die nach einem Schulkonzept organisierte Kindesentwicklung abspielte: ... Indem sie aufeinander aufbauende Schulbücher schrieben und Schulklassen nach Jahrgängen einteilten, teilten die Schulmeister die Kindheit sozusagen in verschiedene Stufen ein. Unsere Meinung, was ein Kind lernen kann oder ler- nen sollte, und in welchem Alter das zu geschehen hat, gründet sich weitest- gehend auf dem Konzept von Lehrplanabfolgen, sozusagen auf dem Konzept von zu erfüllenden Voraussetzungen... Es geht darum, dass die Beherrschung des Alphabets und all der anderen Fähigkeiten und ein vorgeschriebener Wissenstand nicht einfach nur einem Lehr- plan zu folgen hat, sondern dass mit diesem Lehrplan die Kindesentwicklung vor- geschrieben wird. Indem sie das Konzept einer Hierarchie von Wissen und Fähig- keiten erstellten, haben die Erwachsenen die Kindesentwicklung strukturiert. Homeschooler, die diese Strukturierung der Kindesentwicklung nicht anwenden, entdecken, dass Kinder auf unterschiedlichste Weise lernen. Manche Homeschooler lernen zum Beispiel erst im Alter von zehn oder elf Jahren lesen, andere viel früher. Schulkinder müssen in der Regel spä- testens in der dritten Klasse lesen können oder können dem in jeder höhe- ren Stufe vermehrt von Büchern bestimmten Unterricht nicht mehr fol- gen; aber wenn man diese behördlichen Vorschriften ignoriert, wird es etwas deutlicher, dass Kinder in sehr viel mehr Alterstufen gut lesen ler- nen konnen, als es die Schule erlaubt. Eine 1999 veroffentlichte Studie Educating Children at Home von Alan Thomas zeigt auf, dass viele 269 Homeschooler erst im Alter von zehn oder elf Jahren lesen lernen, was aber, »soweit es nachgewiesen werden konnte, keine negative Auswirkung auf die intellektuelle Entwicklung oder den Selbstwert hatte oder gar zu Analphabetentum führte.« Die »späten« Leser holten schnell auf und überholten beim Lesen nicht selten ihre zur Schule gehenden Altersge- nossen. Dr. Thomas weist außerdem darauf hin, dass im Gegensatz zu Schulkindern im selben Alter, »diese Spätleser genauso wie die meisten anderen zu Hause lernenden Kinder anschließend äußerst große Freude am Lesen hatten.« ERSTE SCHRITTE Grob gesagt vollzieht sich der Start ins Homeschooling in drei Schritten: 1. Studieren Sie die Gesetze und Vorschriften Ihres Landes. Um die Gesetze und Vorschriften Ihres Landes zu erfahren, nehmen Sie am besten Kontakt mit anderen Homeschoolern in Ihrer Umgebung auf. Sie verfügen meist über Informationsmaterial, besonders über Gesetze und Vorschriften. Im Anhang finden Sie Organisationen und Initiativen, die Sie unterstützen können. Den genauen Gesetzestext mit juristischen Hintergrundinformationen Ihres Landes finden Sie im Internet. Home- schooling-Gruppen sind nicht nur eine gute Informationsquelle für Gesetze und Regulierungen, sondern auch eine gute Hilfe, um sofort andere Menschen zu treffen, die im selben Boot sitzen, und um über die entsprechenden regionalen Aktivitäten zu erfahren. Sie organisieren Tref- fen, Ausflüge oder was auch immer den betroffenen Familien gefällt. 2. Stellen Sie einen eigenen Lehrplan auf. Aus meiner Sicht brauchen Sie keinen vorgefassten Lehrplan, um erfolgreich Homeschooling zu praktizieren. Sie können Ihren eigenen Lehrplan erstellen, der auf Philosophie und Bildung Ihrer Familie basiert und den sie jederzeit nach Bedarf verändern können. Sie brauchen nicht gegen Bildungsautorititen anzutreten. Viele Privatschulen haben Unter- richtspldne, die sich grundsätzlich von denen öffentlicher Schulen unter- scheiden. In Waldorfschulen, die sich auf die Philosophie von Rudolf Steiner stützen, lernen die Kinder erst dann zu lesen, wenn sie ihren letz- ten Augenzahn verloren haben. Zu dem Zeitpunkt sind die Kinder oft alter, als die Kinder in öffentlichen Schulen, wenn sie lesen lernen. Andere Alternativschulen arbeiten überhaupt nicht nach festgelegten Lehrplinen - und die brauchen Sie auch nicht. Nutzen Sie Ihre regionalen Moglich- 270 keiten: Büchereien, Museen, historische Stätten, Betriebe, Behörden, Umweltzentren etc. Ziehen Sie Erwachsene hinzu, die eine besondere Fähigkeit weitergeben und Fragen beantworten können. Erlauben Sie Ihren Kindern, diesen Menschen bei deren Arbeit zuzuschauen oder zu helfen. Denken Sie an all die Aktivitäten, die zum täglichen Leben gehören: Briefschreiben, Umgang mit Geld, Messen von Gegenständen und Vorgängen, Beobachtungen in der Natur, das Gespräch mit älteren Menschen usw. Dies sind nur einige wenige Möglichkeiten, wie Home- schooler Schreiben, Mathematik, Naturwissenschaften und Geschichte lernen können. Wenn Sie sich mit anderen Homeschoolern unterhalten, werden Sie von weiteren Möglichkeiten erfahren. Einige Eltern legen größten Wert darauf, beim Homeschooling streng nach Lehrplan vorzugehen. Dieser kann heute per Internet für jedes Land problemlos eingesehen werden. Ich empfehle jedoch, diesen Lehrplan nur als groben Leitfaden zu betrachten. Einer der größten Vorteile des Home- schooling besteht ja gerade darin, nicht so streng vorgehen zu müssen wie die Schulen, also auch nicht nach demselben Lehrplan. Auch für Lehrmaterialien brauchen Sie nicht mehr Geld auszugeben, als Sie sowieso für die Interessen und Aktivitäten Ihres Kindes aufwenden würden. Homeschooler nutzen oft Büchereien und andere kostenlose oder kostengünstige Quellen an ihrem Wohnort und tauschen Unterlagen und Fähigkeiten untereinander oder mit anderen Menschen aus. Ältere Homeschooler halten ehrenamtliche Hilfe für eine gute Möglichkeit, von Erwachsenen außerhalb ihrer Familie zu lernen, und das ist oft weniger teuer, als kostspieligen Unterricht zu nehmen oder hochwertige Aus- rüstungen zu kaufen. 3. Erfreuen Sie sich an Ihrer Familie. Vergessen Sie bei all Ihren Bemühungen nicht Thre Familie. Es ist leicht, Lehrer zu ersetzen, aber nicht die Eltern. Einige verausgaben sich in ihrem Bestreben, zu manchen Zeiten »professionelle« Lehrer und zu anderen Zeiten mitfiihlende Eltern zu sein. Das Umschalten zwischen diesen beiden Rollen kann zu einer Last werden. Seien Sie Ihren Kindern einfach ständig liebende Eltern. Unsere Kinder zu unterrichten und ihnen beim Lernen zu helfen gehört zum Elternsein dazu. Leider scheinen wir das zu vergessen, wenn wir die Kinder zur Schule schicken. Wir müssen beim Homeschooling nicht das Verhalten und die Techniken von Lehrern übernehmen - außer in Situationen, in denen wir das ausdrücklich tun wollen. Wenn Sie im Wald spazieren gehen wollen, einfach weil es ein herrlicher Tag 1st, dann tun Sie das. Der Lehrplan kann warten. Vielleicht 271 entdecken Sie in den Wäldern etwas, was Sie zum Unterrichtsgegenstand machen wollen, vielleicht wird es aber auch nur ein schöner Spaziergang. Wenn Ihr Kind an einem Tag ein spannendes Buch zu Ende lesen möchte, statt seine Aufgaben zu machen, dann können Sie ihm das erlau- ben. Die Aufgaben kann es später machen. Beim Homeschooling können wir unsere eigenen Ziele setzen und unsere eigenen Stundenpläne erstel- len. Machen Sie sich frei vom Diktat der Lehrpläne und genießen Sie die Zeit, die Sie als Familie gemeinsam verbringen können. Versuchen Sie auch nicht, sich mit anderen Homeschooling-Familien zu vergleichen. Jede Familie ist anders. Manche Familien - besonders in ländlichen Gebieten - haben einen langsameren Lebensrhythmus und weniger Gelegenheiten, Museen, Kulturveranstaltungen oder ähnliches zu besuchen. Diese Familien haben dafür andere Vorteile. Aber auch einigen Stadt-Homeschoolern mag ein langsamerer Lebensrhythmus lie- ber sein als anderen, die ein sehr aktives Leben führen. Homeschooler müssen nicht an jeder nur erdenklichen Aktivität teilnehmen. VORGEHENSWEISEN BEIM HOMESCHOOLING Homeschooling verändert sich ständig und passt sich sowohl den Bedürf- nissen des lernenden Kindes an, als auch allen besonderen Umständen, die in der Familie auftreten können (Krankheiten, ein neues Baby, ver- änderte Arbeitszeiten für einen Ehepartner usw.). Verplanen Sie Ihr »Schuljahr« nicht bis ins Detail, aber gerade zu Beginn kann eine Art Plan oder Ideensammlung sehr hilfreich sein. Sie als Eltern sollten Ihre Vorgehensweise beim Homeschooling unter- einander abstimmen, und das nicht nur, um die diesbezüglichen Fragen von Skeptikern beantworten zu können, sondern auch, um nicht selbst gleich aus der Fassung zu geraten, wenn nicht alles nach Plan läuft. Auch sollten Sie sich darüber im Klaren sein, wo Sie weltanschaulich stehen. Dann können Sie auch gegenüber ablehnend eingestellten Schulvertretern Ihre Vorgehensweise offensiv vertreten. Der Begriff »Homeschooling« ist sehr flexibel und beinhaltet keine bestimmte Methode; eine zu Beginn des Jahres getroffene Entscheidung ist nicht unwiderrufbar. Sie können - und werden es sehr wahrscheinlich auch - die Dinge in ihrem Verlauf ändern und den Umständen anpassen. Sie werden auch viele Gelegenhei- ten haben, aus Ihren Fehlern zu lernen, jedenfalls ist es uns bei unserem eigenen Homeschooling so ergangen. Lernen bedeutet, Fehler zu machen! 272 Varianten außerschulischen Lernens | 1. Hausunterricht Eltern, die sich für diesen Weg entscheiden, machen sich meist keine Sorgen darüber, warum ihre Kinder bestimmte Dinge in einem bestimm- ten Alter lernen müssen; sie wollen ihren Kindern einfach das beibringen, wovon sie glauben, dass sie es lernen sollten - oder gemäß den Vorgaben des jeweiligen Lehrplans müssten. Familien mit dieser Erziehungsphilo- sophie arbeiten meist nach den entsprechenden Schulbüchern und Lehr- plänen. Der Lehrplan bestimmt, was und wann unterrichtet wird, die Eltern erstellen fest stehende Stundenpläne, und das Wissen der Kinder wird regelmäßig überprüft, um festzustellen, ob sie auch »auf dem Stand« sind. Eine Variante stellt das projektorientierte Lernen dar, das auf ein bestimmtes Thema aufbaut und mehrere Fachbereiche gleichzeitig abdeckt. Mit dem Erntedankfest können Sie zum Beispiel Geschichte (die Zeit der Pilgerviter), Biologie (welche Nahrung die Pilgerviter anbauten), Medizin (wie die Pilgerviter z. B. Krankheiten behandelten) und Mathe- matik (wie viel Land jede Person bei der Plymouth Plantation bekommen konnte) abhandeln. 2. Freilernen Diese Vorgehensweise wird auch interessengerechtes, kindorientiertes, natürliches, organisches, informelles, eklektisches (aus verschiedenen Quellen schopfendes), freies oder selbstbestimmtes Lernen genannt. In jungster Zeit wird mit »Unschooling« oder Freilernen zunehmend Home- schooling ohne festen Lehrplan assoziiert. Ich definiere es als eine Vor- gehensweise, die den Kindern so viel Lernfreiheit in dieser Welt einräumt, wie deren Eltern bequem ertragen können. Diese müssen sich also nicht verbiegen in dem Bemühen, jemand anderes - z.B. ein professioneller Lehrer - zu werden, der sein Wissen nach einem bestimmten Plan in das Gefäß Kind schiittet. Diese Eltern leben und lernen einfach zusammen mit ihren Kindern, beantworten Fragen und verfolgen Interessen, wenn diese auftauchen. Formelle Unterweisungen werden nur auf ausdrückli- ches Verlangen seitens der Kinder erteilt. So lernen wir alle, bevor wir in die Schule gehen und so lernen wir weiter, wenn wir die Schule wieder verlassen und ins Arbeitsleben treten. So kann zum Beispiel das Interesse eines Kindes an Autos dazu führen, dass es herausfinden will, wie der Motor funktioniert (Naturwissenschaften), wie und wann das Auto 273 gebaut wurde (Geschichte und Ökonomie) und welche Umweltauswir- kungen es hat (Ökologie). Das Kind wird vielleicht Texte lesen, Kurse besuchen oder an Projekten teilnehmen, aber der entscheidende Unter- schied zum formellen Lernen besteht darin, dass diese Aktivitäten vom Lernenden selbst gewählt und freiwillig verfolgt werden. Freilernen ist - in Ermangelung einer besseren Bezeichnung (bis die Menschen »Leben« als festen Bestandteil des Lernens verstehen) - die natürlichere Art zu lernen. Das heißt jedoch nicht, dass Freilerner nicht auch an traditio- nellem Unterricht teilnehmen oder lehrplanmäßiges Hilfsmaterial nut- zen können, wenn sie sich eigenständig dafür entscheiden. Lesen und Quadratgleichungen sind keine »natürlichen« Prozesse, aber Freilerner lernen sie trotzdem, wenn sie es für sinnvoll erachten und nicht, weil sie ein bestimmtes Alter erreicht haben oder von einer beliebigen Autorität dazu verdonnert werden. Darum ist es durchaus nicht ungewöhnlich, wenn Achtjährige Astronomie lernen oder Zehnjährige gerade erst anfan- gen zu lesen. Die beiden oben beschriebenen Ansätze (Hausunterricht und Frei- lernen) schließen sich nicht gegenseitig aus, obwohl es für manche Eltern unvorstellbar ist, ihren Kindern freizustellen, was sie lernen wollen, so wie es für manche Freilerner-Eltern unvorstellbar wäre, nach einem Lehr- plan vorzugehen. Sie selbst müssen das tun, womit es Ihnen gut geht. Genau wie Ihre Kinder werden auch Sie lernen und sich ändern, wenn Sie mehr Erfahrung mit außerschulischem Lernen haben. Sie können mit einem Paket Schulbücher und »lehrergeprüften Lehrplänen« (so nennen manche Herausgeber tatsächlich ihr Material) anfangen, und wenn Sie sich damit nicht wohl fühlen, zum projektorientierten Lernen oder zum Freilernen wechseln. Sie können auch je nach Fähigkeiten Ihrer Kinder und Ihrer eigenen Flexibilität beides praktizieren. Vielleicht beginnen Sie mit einem festen Programm und lockern es dann nach und nach, oder Sie beginnen mit völlig freiem Lernen und finden Ihr Kind irgendwann in einen festen Stundenplan für Musik- und Sprachunterricht eingebun- den und als pflichtbewusstes Vereinsmitglied. Sie können auch gemeinsam mit Ihren Kinder einen festen Jahresplan aufstellen. Susan Jaffer aus Pennsylvania schrieb uns dazu: Letztes Jahr stellte ich meinen Töchtern zu Beginn des Sommers eine meines Erachtens beiläufige Frage: »Was würdet ihr diesen Sommer über gerne lernen?« Sie antworteten mir ohne lange nachzudenken, und das kam dabei heraus: Suzanne (8) wollte mehr erfahren über Geschichten, Gedichte, Naturwissen- schaften, Mathematik, Kunst, Musik, Bücher, Menschen, Pflanzen, Tiere, Orte, 274 Nahrung, Farben, Felsen, Babys, Autos, Augen und Elektrizität. Gillion (6) interessierte sich für Samen, Knochen, Pflanzen, Bücher, Evolution, Dinosau- rier und Experimente. Ich nehme fast an, dass es daran lag, dass ich sie im Sommer gefragt hatte, als sie frei waren von einengenden Schulfächern. Ich war jedenfalls verblüfft, dass sie so viele Themen im Kopf hatten, ihre Listen bereits fertig waren und sie nur auf die entsprechende Frage warteten ... Mir gefällt Susans Erklärung für die breit gestreuten Interessen ihrer Kin- der: Sie waren »frei von den Einengungen der Schulfächer«. Das erinnert mich an einen Kommentar, den ich über Grace Llewellyn hörte, die frei- lernende Teenager unterstiitzt. Grace schrieb in einem Brief in GWS über ein Mädchen, das seinen Vater nach der Bezeichnung fiir einen Menschen gefragt hatte, der »Wale studiert« hat. Die Antwort lautete »Meeresbiologe«, und um ein solcher zu werden, miisse man das College besuchen. Doch Grace zeigte auf, dass Meeresbiologie nur einer der Wege fur Kinder und Erwachsene ist, mit Walen zu arbeiten. Die Familie könnte thre Tochter auch darin unterstützen, sich als Künstlerin, Musi- kerin, Nautikerin oder Naturforscherin mit Walen zu beschäftigen. Dies ist ein sehr wichtiger Aspekt, an den Sie sich erinnern sollten, wenn Ihre Kinder bei ihren Studien frustriert sind und einen anderen Weg suchen, sich mit einem Thema zu beschäftigen. Seltsamerweise stellen manchmal Eltern, die bei der Ausbildung ihrer Kinder alternative Wege gehen, fest, dass ihre Kinder sich konventionelle Lehrpläne wünschen und Freude an ihnen haben. Ein vierzehnjihriges Mädchen wünschte sich für thr Homeschooling unbedingt ein fertiges Lernprogramm und nervte damit ihre diesbezüglich erfahrene Mutter, die bei keinem ihrer anderen Kinder Lehrpläne benutzt hatte. Sie einigten sich schließlich darauf, es mit einem solchen Programm zu versuchen, und das Mädchen gedieh damit prächtig. Cindy Gaddis bringt diesen Aspekt sehr gut auf den Punkt, wenn sie schreibt: Ich bezeichne mich selbst als Freilerner-Mutter, obwohl meine Tochter Abbey Schulbücher liebt und mein Sohn Adam die meisten Dinge nur auf eine sehr strukturierte Weise lernen kann. Ich sage das, weil ich ihre Lernbedürfnisse respektiere und ihnen helfe so zu lernen, wie es für sie am besten ist. Ich würde auch einen älteren Homeschooler, der sich für eine strukturiertere Lernme- thode entscheidet, einen Freilerner nennen, weil er seine Fähigkeiten respek- tiert, in jeder Entwicklungsstufe seines Lebens zu wissen, was er braucht. 275 Kinder, die bereits eine Zeit lang die Schule besucht haben, fühlen sich für gewöhnlich von der vielen Freiheit überwältigt, die das Lernen zu Hause mit sich bringt. Es 1st wichtig, dass sich die Kinder nach und nach an die wiedergewonnene Freiheit gewöhnen können, indem ihnen mehr Zeit und Raum gegeben wird. Susannah Sheffer schreibt zu diesem Aspekt in GWS: ... Irgendwann lässt das Bedürfnis nach solch einer Verschnaufpause nach, und die Kinder sind wieder bereit für neue Aktivitäten und Interessen, woraufhin es sogar schwierig sein kann zu entscheiden, wo man anfangen soll. Um meinen Kindern bei diesem Prozess zu helfen, erstellte ich drei Listen. Eine mit offensichtlichen Selbstverständlichkeiten, eine weitere Liste mit Din- gen, die man jetzt schon gerne tun möchte, dafür aber noch Hilfe benötigt und eine dritte Liste für spätere Aktivitäten. Für mich liegt der Wert dieser Listen darin, dass sie den Kindern zeigen: (1) dass sie bereits lohnenswerte Dinge tun und nicht für alles und jedes Hilfe von außen benötigen; (2) dass es gleichzeitig völlig in Ordnung ist, in manchen Bereichen Hilfe zu brauchen und eine Liste mit Dingen zu haben, die man tun möchte, aber noch nicht weiß, wie; (3) dass es ebenfalls in Ordnung ist, man- che Dinge zurückzustellen. Das mag besonders für die Kinder wichtig sein, die mit bestimmten Fächern in der Schule schlechte Erfahrungen gemacht haben und auf die es sich positiv auswirkt, wenn sie feststellen, dass sie in ihrer neuen Situation die Dinge selbst in die Hand nehmen können. Die vierzehnjährige Marianne legte zum Beispiel großen Wert darauf, Aufsatzschreiben auf die dritte Liste zu setzen, weil sie in der Schule damit sehr unerfreuliche und ent- mutigende Erfahrungen gemacht hatte, und selbst die Kontrolle zu haben, hieß für sie: »Ich entscheide, mich damit jetzt nicht zu beschäftigen.« Mariannes zweite Liste war die längste, und das wird wohl bei den meisten Kindern so sein. Letztendlich ist dies die wichtigste Liste, denn aus dieser erwach- sen Ideen und Pläne. Dabei ist es wichtig zu merken, dass vieles von dem, was man bereits tut, bildenden Wert hat (in der Schule bekommen die Kinder keine Anerkennung für das, was sie freiwillig und begeistert von sich aus verfolgen). Aber es ist fur einen frisch gebackenen Homeschooler (oder Langzeit-Home- schooler, der etwas verändern möchte) genauso wichtig zu merken, dass es in Ordnung ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Angenommen, ein Teenager hat den unbestimmten Wunsch, etwas mit Tieren tun zu wollen, weiß aber nicht genau was, so könnte das auf die zweite Liste geschrieben werden. Wenn alle Listen fer- tig sind, sollte man sich zusammensetzen und jeden Punkt genauer unter die Lupe nehmen: Um welche Art von Tieren handelt es sich? Welche Art von Hilfe bräuchten wir, um den Wunsch zu erfüllen? Und so weiter. 276 Dasselbe gilt für eher schulische Themen. Angenommen der Homeschooler sagt: »Ich möchte mit den anderen Kinder Schritt halten, die in der Schule Algebra lernen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das allein regelmäßig schaffe.« Nun, das ist OK. Was könnte dir dabei helfen? Sollten wir nach einem anderen Erwachsenen Ausschau halten, der mit dir arbeiten würde? Hättest du Lust, dich regelmäßig mit einem anderen Homeschooler zusammenzusetzen, der Algebra lernt? Willst du eines der vielen guten PC-Programme für Mathe- matik benutzen? Oder würde dir ein Stundenplan helfen, damit du daran erin- nert wirst, dass du jede Woche etwas dafür tun möchtest? Manchmal bedauern die Menschen, dass es beim Homeschooling keine festen Zeiten und Verabredungen gibt, denn die Unbegrenztheit des Homeschoolings ist für Kinder, die schon einige Jahre zur Schule gegan- gen sind, sehr ungewohnt - keine Schulglocke, keiner, der sagt, dass jetzt Mathematik dran ist. Und es stimmt, dass wir betonen wollen, auf wel- che Weise Homeschooling den Kindern ermöglicht, sich alles zunutze zu machen ... Aber indem wir die Vorteile und die Weise betonen, in der sich Homeschooling von der Schule unterscheidet, vergessen wir manch- mal, dass der wichtigste Vorteil und Unterschied darin besteht, dass man beim Homeschooling selbst die Verantwortung trägt fiir seine eigenen Stundenpline, Verabredungen und Treffen. Jede Familie und jedes Kind ist anders, weshalb die eine Methode nicht unbedingt auch bei allen anderen Kindern funktionieren wird. Neben der Liebe für Ihr Kind benötigen Sie nur noch Vertrauen in sich selbst, dass Sie Ihren Kindern helfen können zu lernen, sowie das Ver- trauen in Ihre Kinder, dass diese auf ihre ganz eigene Weise lernen kon- nen. Sie müssen nicht so lehren, wie Sie es gewohnt sind. Viele Home- schooling-Familien haben nicht nur gutes Lernmaterial und Bücher, womit die Kinder selbst lernen konnen, sondern sie finden auch Tutoren. Das können neben ausgebildeten Lehrern genauso gut Menschen sein, die prak- tische Erfahrung auf dem Gebiet haben, das Ihr Kind lernen möchte. Als Eltern nehmen Sie eine Rolle ein, die sich grundsitzlich von der Lehrerrolle in der Schule unterscheidet. Sie sind mehr Helfer, »Fragensteller«, Reisebe- gleiter, Generalunternehmer und Berater denn Ausbilder, der Lektionen erteilt. Eltern von Homeschoolern lernen, fiir thre Kinder Lernmöglich- keiten aufzuspiiren. Sie werden sehr geschickt im Aufbau von Netzwerken mit Hilfe örtlicher Interessensgruppen, »gelber Seiten«, Zeitungen und loka- ler Aushidnge. Eltern müssen nicht die einzigen Lehrer ihrer Kinder sein. 277 Einige Homeschooling-Eltern gründen Vereine oder Lerngruppen rund um die Interessensgebiete ihrer Kinder und veranstalten regelmäßige Tref- fen an privaten oder öffentlichen Orten. Manche bieten ihre Fachkennt- nisse im Tausch gegen Geld oder andere Leistungen an, andere verlangen gar keine Bezahlung. Meine Frau und ich kennen eine alleinerziehende Mutter, die gegen eine geringe Bezahlung Kinder bei sich zu Hause in Mathematik unterrichtet. Eine andere Mutter bietet zehn Homeschoo- lern zweimal wöchentlich kostenlosen Literaturunterricht an. Beide Müt- ter sind übrigens ehemalige Lehrerinnen! Ein als Grafiker tätiger Vater bietet einmal pro Woche bei sich zu Hause einen Kunstkurs an, um seine Liebe zur Kunst mit seinen Söhnen und deren Freunden zu teilen. Wenn ganz normale Menschen auf ihr eigenes Potential zurückgreifen, können sie sehr gute Lehrer sein, indem sie ihre eigenen Interessen mit anderen Kindern teilen. Manche Homeschooler gründen eigene Zentren, in denen Home- schooler auf die dort gesammelten Hilfsmittel und Ressourcen zurück- greifen können. Im englischen London gründete Leslie Barson bei sich zu Hause den »Otherwise Club« (»Auf-andere-Weise-Verein«), wo Kinder zu- sammen an Projekten ihrer Wahl arbeiten können. Als ihre Kinder älter und der Verein größer wurde, wollte Leslie Barson ihr Heim wieder für sich haben. Sie fand ein Gemeindezentrum, wo sich ihre Gruppe an zwei Tagen in der Woche für eine geringe Miete treffen konnte. Also wurde ein Mitgliedsbeitrag erhoben, und dem Verein wurde die Gemeinnützigkeit zuerkannt. Sie schreibt: Der Verein bietet Raum für Workshops und Familienaktivitäten. Wir haben drei regelmäßige Workshops - Drama, Töpferei und Naturwissenschaft für jiin- gere Kinder -, und wir veranstalten viele andere Aktivitäten. Wir hatten in der Vergangenheit Folkloretanz-Workshops, Besuch von Polizeihunden und ihren Führern sowie Vorträge von Mathematik-, Bildungs- und Gesundheitsfachleu- ten. In jüngster Vergangenheit wurde afrikanisches Trommeln auf sieben ver- schiedenen Niveaus angeboten sowie ein Workshop über Shakespears Som- mernachtstraum, zu dem auch der anschließende Besuch einer Theatervorstel- lung gehörte. Der »Otherwise Club« betreibt eine kleine Cafeteria, in der wir hausgemachte vegetarische Gerichte, sowie Kaffee und Kuchen verkaufen. Sie ist zu einem Treffpunkt der Gemeinde geworden, und wir verdienen damit noch etwas Geld. Außerdem betreiben wir eine kleine Leihbücherei für alternative Ausbildung und stellen Informationen über Aktivitäten und Ausstellungen in London zur Verfügung. 278 Andere Homeschooler finden vor Ort Kurse und Angebote in Museen, historischen Sehenswürdigkeiten, Gemeindezentren und Sportvereinen. In Boston bieten das Harvard University’ s Peabody Museum und das Boston Museum of Science Kurse für Homeschooler an. Außerdem gibt es heute immer mehr Kurse im Internet - bis hin zum Schulabschluss weiterführender Schulen. Öffentliche Büchereien und Volkshochschu- len bieten ebenfalls eine reiche Auswahl an Fortbildungsprogrammen an. Die Teilnahme an all den genannten Angeboten ist weder Pflicht, noch wird sie benotet. Die Teilnehmer bekommen das, was sie in jede die- ser Aktivitäten einbringen, und sollten sie nicht in diesen Einrichtungen lernen wollen, wird das weder negativ vermerkt noch bestraft. Sie können jederzeit wieder zurückkehren und lernen, was sie brauchen und aufneh- men können, oder sie können neue Möglichkeiten erschließen. Eltern und Kinder errichten somit in ihrer Gemeinde weder eine neue Schule mit Pflichtunterricht, noch gründen sie alternative Schulen. Sie schaffen lediglich Alternativen zur herkömmlichen Schule. Wir dürfen nicht vergessen, dass einige Kinder auch zu Hause Alter- nativen brauchen, denn nicht jede Familie ist ausreichend motiviert, mit ihren Kindern so zu arbeiten, wie ich Homeschooling hier beschreibe. In der Regel ist für die meisten Kinder die Schule - neben ihrem Zuhause - der einzig mögliche Aufenthaltsort, auch wenn sie oft kein guter Ort für die Kinder ist. Wenn weder das Zuhause noch die Schule eine sicheres und förderliches Umfeld für Kinder bieten, dann sind die oben beschriebenen Einrichtungen so auszubauen, dass sie diese Kinder auch auffangen können. Indem wir diese Möglichkeiten weiter ausbauen, um es Kindern und Teenagern zu ermöglichen, die reale Welt zu erforschen oder in ihr als Lehrlinge zu agieren, helfen wir ihnen zu lernen, was sie brauchen, um in ihrem Leben zurecht zu kom- men. Kinder lernen so auch, mit anderen zusammenzuarbeiten, um eine Arbeit zu erledigen, und eine ungeliebte Arbeit aufzugeben, um sich eine geeignetere zu suchen. Diese Fähigkeiten werden in der Schule nicht nur nicht gelehrt, sie existieren dort nicht einmal. Hier wird der Kon- kurrenzkampf eingeübt, um bessere Zensuren zu bekommen als die anderen, und man wird bestraft, wenn man seinen Wissensvorsprung mit diesen teilt. Man lernt, seinen Job nicht aufgeben zu können, auch wenn man ganz offensichtlich für manche Kurse in der Schule weder die nötige Leistungsfähigkeit noch das Interesse mitbringt und lieber etwas anderes tun möchte. 279 Nicht alle Aktivitäten beinhalten auf den ersten Blick einen Lerninhalt, was aber nicht heißt, dass diese Aktivitäten nicht für die Kin- der wichtige Lernerfahrungen beinhalten. Spielen ist die »Arbeit« der Kinder, und sie brauchen Fantasiespiele nicht, um der realen Welt zu entkommen, sondern um in sie hineinzuwachsen. Wenn sie Doktor, Feuerwehrmann, Polizist oder Soldat spielen, erforschen sie mit ihrer Vorstellungskraft diese Rollen. Als meine eigenen Kinder klein waren, spielten sie oft Schule! Die Menschen ziehen ihr ganzes Leben lang Vorteile aus ihren Spielphasen, und manche finden oder erschaffen Erwachsenenarbeit, die ihren Ursprung in den Spielen ihrer Kindheit hat. Die Schule steht allzu oft im Widerspruch zum spontanen Spiel der Kinder, ein im Rhythmus von Prüfungen und Standardisierungen sich verstärkender Trend, und die Familien bewegen sich im Takt der pro- fessionalisierten nachschulischen Programme. Homeschooler müssen ihren Kindern keine Daumenschrauben anlegen, damit sie lernen; es besteht absolut keine Notwendigkeit, zu Hause Schulpraktiken anzu- wenden. LERNERFOLGE DOKUMENTIEREN Es gibt für Homeschooler zwei Arten von Nachweisen: eine, die seitens der Behörden verlangt wird und eine auf freiwilliger Basis. Natürlich kön- nen sich diese Aufzeichnungen überschneiden, aber im Grunde sind es sehr unterschiedliche Dokumentationsarten. Behörden stellen unter- schiedliche Forderungen an die Homeschooler, ihrer Nachweispflicht nachzukommen. Als Eltern müssen Sie also erst einmal herausfinden, was genau die Behörden von Ihnen erwarten. Egal welche Anforderungen an Sie gestellt werden, Sie werden Wege finden, sie zu erfüllen, ohne im Behördensumpf zu versinken oder sich unnötig zu sorgen, wie viel Ihre Kinder schaffen. In jedem Fall werden Sie wie viele andere Eltern fest- stellen, dass Sie selbst auf irgendeine Art und Weise Nachweis führen wol- len - zu Ihrer eigenen Beruhigung und um voller Freude die Entwick- lung Ihres Kindes zu dokumentieren - so wie Eltern schon immer einige der Zeichnungen, Geschichten und Basteleien ihrer Kinder aufgehoben haben. Katharine Houk, eine erfahrene Homeschoolerin aus New York, schrieb an GWS über mehrer Möglichkeiten, wie man Nachweise führen kann: 280 Zu Beginn eines jeden Homeschooler-Treffens werden häufig Fragen über das Führen von Nachweisen gestellt. Für diejenigen unter uns, die interessenorien- tiert und vielschichtig vorgehen, sind die vierteljährlichen Berichte zur Vorlage bei der Schulbehörde eine wahre Herausforderung, weil erwartet wird, dass Ler- nen in Fächer eingeordnet wird. Als unsere Familie im Staat New York mit Homeschooling anfing, waren die »Home Instruction Regulations« noch nicht in Kraft. Homeschooling war erlaubt und wurde von jeder Schulbehérde nach den Richtlinien des Erzie- hungsministeriums unterschiedlich gehandhabt ... In unserem Bezirk gab es lediglich eine Checkliste, die in regelmäßigen Abständen ausgefüllt werden musste. Trotzdem habe ich damals täglich die Lernaktivitäten meiner Kinder notiert, obwohl es nicht offiziell verlangt wurde. Ich war fasziniert von ihren Lernfortschritten, und es macht mir großen Spaß, all diese wundervollen Dinge, die sie taten, zu dokumentieren. Meistens lernten sie bei ihren Spielen, und sie spielten intensiv, glücklich und stundenlang. Ich machte es mir zur Aufgabe, ihre Aktivitäten zu übersetzen, sowie unsere Unterhaltungen und Erfahrungen in eine Form zu bringen, die in die Spalten meiner Dokumenta- tion passten. Als dann später die Nachweispflicht an Hand von Lehrplinen eingeführt wurde, war der Ubergang fiir uns leicht. Wir hatten ja bereits Buch gefiihrt. Es gibt zwar die Bestimmung, dass Homeschooler eine Art Anwesenheitsnachweis (!) erbringen müssen, aber keine Vorschriften, wie der Nachweis aussehen muss. Ich wusste jedoch, dass mir eine regelmäßige Dokumentation unserer Akti- vititen bei der späteren Zusammenstellung der Nachweise helfen würde. Ich hatte mich bereits daran gewöhnt und es bereitete mir große Freude, über die Lernerfolge meiner Kinder zu berichten. Ich hatte für jedes Kind ein Ringbuch angelegt. Im vorderen Teil heftete ich Seiten ab, die wie ein Stundenplan aussahen, weil ich den einzelnen Wochen- tagen bestimmte Themengebiete zuordnete. Samstag und Sonntag schrieb ich auch mit auf, weil Lernen kein Wochenende kennt. Auf anderen Seiten führte ich Berichte über Ausflüge, klebte Fotografien ein und heftete andere Unter- lagen ab. Das war uns nicht nur eine gute Hilfe, auch die Kinder schauten später gern hinein, lachten über ihre ersten Schreibversuche und schwelgten in Erinnerungen über Ausflüge und andere Aktivitäten früherer Jahre. Mit zunehmendem Alter der Kinder wurde ich es leid, ihre Lernfortschritte in Themenbereiche zu kategorisieren. Lernen ist ein allumfassender Prozess, und daher wire es mühsam, ihn künstlich aufzuteilen. Darum fügte ich linierte Blätter bei, auf denen ich täglich vermerkte, was an einem Tag getan worden war. Zum Ende eines jeden Monats schrieb ich dann thematische Zusammen- 281 fassungen. Wenn dann der vierteljährliche Bericht geschrieben werden musste, konnte ich darauf zurückgreifen. Jetzt, da meine Kinder sehr viel älter sind (12 und 15 Jahre), muss ich nicht mehr allein Buch führen. Sie sind beim Lernen so selbstständig und ich habe so viel zu tun, dass ich ihre Aktivitäten oft nicht mitbekomme und nicht weiß, welche Bücher sie lesen. Ich schreibe zwar ab und zu Dinge auf, die mir auffallen und von denen ich meine, sie sollten festgehalten werden, aber ich bitte die Kinder, ihre eigenen Aufzeichnungen zu machen. So respektiere ich ihre Pri- vatsphäre und sie dokumentieren ihrer Aktivitäten selbst. Wenn der offizielle Bericht geschrieben werden muss, gewähren sie uns Einblick in die Teile ihrer Aufzeichnungen, die sie für erwähnenswert erachten. Die Privatsphäre unserer Kinder ist uns zwar sehr wichtig, doch kann sie nicht immer respektiert werden, wenn die Schulbehörde einfach alles wissen will, was unsere Kinder erleben. Ich kenne einige Familien, die für den offiziellen Bericht bestimmten Nach- weise getrennt von ihren sonstigen Aufzeichnungen abheften ... Eine wie auch immer geartete Dokumentation wird Ihnen nicht nur helfen, die verlangten Berichte zu verfassen und die Vorgaben zu erfüllen, sie stellt auch eine schöne Chronik der Entwicklung Ihres Kindes dar. BEWERTUNGEN John Holt schreibt im letzten Kapitel über den Wert von Feedback anstelle von Bewertungen. Darum will ich mich hier auf den Hinweis beschränken, den Holt in seinem Buch What Do I Do Monday? (Kinder lernen selbstständig - oder gar nicht(s)) gibt. Er schreibt dort über den Sinn von Bewertungen außerhalb konventioneller Schulen: Bei der hier beschriebenen Art des Lernens ist weder Raum noch Bedarf für konventionelle Prüfungen und Bewertungen. Kinder beschäftigen sich mit The- men, die sie jetzt interessieren und nicht vielleicht in unbekannter, ferner Zukunft. ... Wie sinnvoll ist eine Durchschnittsnote im Englischunterricht? Ermitteln wir die Durchschnittsnote eines seriösen Schriftstellers, indem wir seine besten Arbeiten mit seinen schlechtesten vergleichen? Wenn ich eine Prüfungsaufgabe vergebe, und der Schüler löst sie schlecht, dann zeigt das lediglich, dass es die falsche Aufgabe war, bei der er seine Fähigkeiten nicht zeigen konnte. Die Lösung liegt darin, eine große Auswahl und Möglichkeiten zu bieten, um zu schreiben, zu lesen und zu reden, damit jeder die Chance hat, seine besten Talente zu zeigen ... 282 Nicht nur die Benotung an sich ist dumm, sondern die Absicht, eine ganze Klasse durch einen Lehrplan zu führen, als säßen alle Kinder im selben Zug. Kinder lernen die Dinge nicht zur selben Zeit, nicht gleich leicht und nicht gleich schnell.” Viele Homeschooler sind an Hochschulen zugelassen worden oder haben auch ohne Hochschulabschluss wertvolle Arbeit gefunden. Den Ergeb- nissen von Studien zufolge geht es erwachsenen Homeschoolern persön- lich und finanziell gut, und die Liste von Hochschulen, die Home- schooler aufnehmen, wird ständig länger. Homeschooler bewerben sich an Hochschulen wie jeder andere Student auch, nur dass sie ihre Bewerbungsunterlagen selbst zusammen- stellen und auflisten müssen, was sie getan haben, um ihre Qualifikation für ein Hochschulstudium unter Beweis zu stellen, die jeder andere Stu- dent ebenfalls nachweisen muss, um aufgenommen zu werden. Es gibt mehrere Bücher, Websites und Internetforen, die sich mit der Hoch- schulzulassung für Homeschooler befassen. Homeschooling-Teenager können manchmal an sogenannten »dual- enrollment«-Programmen (doppelte Einschreibung) teilnehmen, die von ihren lokalen High Schools angeboten werden. Statt High-School-Kurse zu besuchen, können entsprechend qualifizierte Teenager im Rahmen die- ses Programms College-Kurse ihrer Gemeinde besuchen. Wenn jedoch die Schule nicht kooperativ ist, können sie sich direkt an das College ihrer Gemeinde wenden und versuchen, am Unterricht teilzunehmen, der ihnen einen entsprechenden Abschluss ermöglicht. Unsere heute sech- zehnjährige Tochter Lauren hat an zwei Colleges in unserer Umgebung am Biologie- und Physikunterricht teilgenommen, wobei der Biologie- unterricht übrigens nur Homeschoolern im High-School-Alter angeboten wurde. Lauren wird also unter Beweis stellen können, dass sie auf College- Niveau arbeiten kann, und das auf sehr viel konkretere Art und Weise, als viele ihrer Altersgenossen es tun können, die nur einen High-School- Abschluss haben. Außerdem gibt es zum Beispiel von der Clonlara School - neben zahlreichen anderen - herausgegebene Lernprogramme für zu Hause, die auf einen High-School-Abschluss - und damit auch die Qualifikation für eine College-Zulassung - vorbereiten. Überdies stellen Homeschooler nicht nur die herkömmliche Mei- nung in Frage, dass alle Kinder die Schule besuchen müssen, sondern bezweifeln auch, dass das College für Teenager der beste Ort ist, um als 283 Erwachsene erfolgreich zu werden. Viele berühmte Persönlichkeiten, die Homeschooler waren oder keinen College-Abschluss in der Tasche hatten, haben wertvolle Beiträge für die Gesellschaft geleistet. Zu ihnen gehören zum Beispiel Susan B. Anthony, Pearl S. Buck, Andrew Carne- gie, Thomas Edison, Winston Churchill, Charles Dickens, Michael Fara- day, Benjamin Franklin, Jane Goodall, Alex Haley, Patrick Henry, Eric Hoffer, Claude Monet, General George Patton, Bertram Russell, Harry S. Truman, Woodrow Wilson, Gloria Steinem, Mark Twain und die Bri- der Wright. Um ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden und unsere Kultur zu bereichern, muss man weder Schule noch College besuchen. In diesem Kapitel habe ich zu zeigen versucht, wie Homeschooling sich von Grund auf vom herkömmlichen Schulunterricht unterscheidet. Wenn Sie erst einmal die Ressourcen (siehe dazu auch den Anhang) erkundet haben, mit Ihren Kindern über das Lernen sprechen und sich mit anderen Homeschooler treffen, werden Sie schnell selbst herausfin- den, wie ein Thema Sie zum nächsten führt, und Sie werden entdecken, dass Sie ganz nebenbei Ihren eigenen »Lehrplan« aufgestellt haben. Wich- tig 1st jetzt nur, es auch zu tun. Genießen Sie die Zeit mit Ihren Kindern, und der Rest ergibt sich von selbst. 284 13 Reaktion der Schule DER WERT DER ZUSAMMENARBEIT Wie sollten Schulen auf Eltern reagieren, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen? Schon angesichts ihrer ureigenen Interessen - Imagepflege in der Öffentlichkeit, Erhalt von Budgets und Jobs - wären Schulen gut beraten, eher zu helfen, als zu verhindern. Wie wir gesehen haben, setzen viele schulische Institutionen Homeschooling-Familien auch heute noch mit allen erdenklichen Mit- teln unter Druck, was bis hin zum versuchten Eingriff in das Sorge- recht führen kann. Diese Institutionen scheinen zu fürchten, dass auf einmal alle Familien ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen und alle Schulen somit überflüssig werden. Angesichts ihrer derzei- tigen Probleme und ihres miserablen öffentlichen Ansehens sind diese Sorgen zwar verständlich, jedoch völlig unrealistisch. Selbst unter optimalen Rahmenbedingungen ist es unwahrscheinlich, dass innerhalb einer Generation mehr als 10 Prozent der Familien mit Kin- dern im schulpflichtigen Alter diese zu Hause unterrichten würden. Die meisten Kinder im schulpflichtigen Alter würden immer noch eine Schule besuchen. Die Zahl der Eltern, die sich so viel Zeit und Mühe machen wollen, die Fragen ihrer Kinder zu beantworten und ihnen auf jede erdenkliche Weise zu helfen, ihr Potential zu entdecken und zu entfalten, wird nicht so rasant wachsen. Denn es ist nicht in erster Linie die Schulpflicht, welche die meisten Kinder in der Schule hält, sondern die Tatsache, dass fast niemand die Kinder anderswo haben will. 285 Eine vorherrschende Meinung lautet: »Wenn wir den Eltern gestatten, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten, werden alle Reichen ihre Kinder aus der Schule nehmen, und wir werden nur noch arme Kinder zu unterrichten haben.« Man könnte fragen: »Nun, was wäre so schlimm daran? Dann sind die Lehrer wenigstens imstande, die- sen armen Kindern ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken.« Tatsache ist aber, dass nur wenige Homeschooling-Familien der rei- chen Oberschicht zuzurechnen sind. Soweit ich es aus Briefen beur- teilen kann, verfügen Homeschooling-Eltern üblicherweise über ein durchschnittliches bis leicht unterdurchschnittliches Einkommen. Möglicherweise ist die Mehrheit von ihnen aufs College gegangen, aber viele sind es auch nicht. Viele von ihnen entschließen sich aus den unterschiedlichsten Gründen zu einem relativ einfachen Leben in einer Kleinstadt oder auf dem Land. Viele interessieren sich für Homeschooling, weil sie sich eine Privatschule nicht leisten könnten, selbst wenn es eine ihnen genehme in ihrer Umgebung gibt. Die Rei- chen werden vermutlich auch weiterhin ihre Kinder in bestausge- stattete private Eliteschulen stecken. Homeschooling stellt also keine ernsthafte Bedrohung für das Schulwesen dar, eher schon der momentane Geburtenrückgang, von dem anzunehmen ist, dass er weiter fortschreiten und sich die Zahl schulpflichtiger Kinder somit weiterhin verringern wird. Niemand kann die Zukunft vorhersagen, und vielleicht werden sich in den nächsten Jahrzehnten wieder mehr Menschen für Kinder entscheiden. Aber anhand dessen, was wir über die diesbezügliche Motivation junger Leute wissen, wollen diese - wenn überhaupt noch - immer weniger Kinder haben, meist nur eines oder zwei. Sie sind zutiefst besorgt um ihre eigene wirtschaftliche Zukunft sowie über die steigenden Kosten für das Aufziehen und die Ausbildung von Kindern. Abgesehen davon sind immer mehr weiße und nicht-weiße Eltern bestrebt, sofern es ihnen möglich ist, ihre Kinder in Privat- schulen unterzubringen. In den amerikanischen Großstädten sind immer mehr Schüler an Bekenntnisschulen weder katholisch noch weiß. Eine Mutter aus Chicago schreibt, dass ihr Sohn das einzige weiße Kind in solch einer Schule sei. Fundamentalistische Kir- chenschulen schießen in allen Teilen des Landes wie Pilze aus dem Boden. Ihre Bedeutung hat nach jahrelangem Rückgang wieder rapide zugenommen, und es besteht kein Grund zu der Annahme einer Trendwende. 286 99 Trotz der beträchtlichen Kosten von Privatschulen hat der Zustrom zu diesen im letzten Jahrzehnt - vor allem unter den in den USA leben- den sogenannten Minderheiten - mit der Wachstumsrate der öffentlichen Schulen Schritt gehalten. Der Website des Council on American Private Education ist Folgendes zu entnehmen: »Für Schüler katholischer Schu- len werden durchschnittlich 2178 Dollar verlangt, für Schüler anderer Bekenntnisschulen durchschnittlich 2915 Dollar. Im Vergleich dazu beträgt das durchschnittliche Schulgeld nicht konfessionell gebundener Privatschulen 6631 Dollar ... [Von 1992-1999] hat die Zahl der Einschrei- bungen an Privatschulen um 10,6 Prozent zugenommen ...«66 Zusätzlich sehen zumindest öffentliche Schulen eine Gefahr in den Voucher-Plänen. Im Rahmen dieser Pläne würden die verschiedenen Regierungen Bildungsgeld nicht den Schulen geben, sondern direkt den Eltern in Form von Krediten, die diese verwenden können, um ihre Kinder in die von ihnen gewünschte private oder öffentliche Schule zu geben. Auf diese Weise können es sich viel mehr Eltern leisten, ihre Kinder in Privatschulen zu geben oder selbst eine Schule zu gründen, was auch vermehrt geschieht. Wahrscheinlich werden demnächst in den meisten Staaten Voucher-Pläne in der einen oder anderen Art beschlossen. ’) Voucher-Pline sind heute viel leichter zugänglich als 1981, als Holt darüber schrieb, und sie werden auch heute noch von den Schulen ange- fochten. Am 27. Juni 2002 entschied der U.S. Supreme Court (Oberster Gerichtshof der USA), dass Bildungsvoucher verfassungsgemäß sind. Damit hat sich Holts Prognose bewahrheitet. Allerdings wurden Voucher als Mechanismus für die Schulwahl in vielerlei Hinsicht von der Charter- Schul-Bewegung eingeholt, die es noch nicht gab, als Holt zu diesem Thema schrieb. [Anm. d. dt. Hrsg.: Diese öffentlichen, an keine Konfes- sion gebundenen Schulen sind von den traditionellen Regulierungen des Schulsystems ausgenommen. Sie sind ihrem Auftraggeber (meist dem Schuldistrikt) und den Bürgern verpflichtet. Sie müssen staatlich geprüfte Lehrer einstellen und an staatlichen Prüfungen zur Sicherung des Bil- dungsstands teilnehmen. Charter Schools beruhen auf einem Vertrag (»charter«) zwischen dem Schulmanagement und der Schulbehörde, des- wegen kann man 1m Deutschen auch von »Vertragsschulen« sprechen.] Einerseits glaube ich, dass Holt das Konzept der Charter-Schulen begrüßt hätte, wenn auch nicht in ihrer heutigen amerikanischen Praxis, 287 wo Charter-Schulen allzu oft durch Regierungsfinanzierung zu gering- fligig veränderten Varianten der staatlichen Pflichtschulen geworden sind. In Bildung in Freiheit schlägt Holt Eltern vor, wenn möglich eigene Schulen zu errichten, und spricht oft über das dänische Schulmodell als Beispiel dafür, wie sich dies auch in großem Rahmen umsetzen ließe. In Dänemark werden nicht nur kleine, von Eltern betriebene Schulen gestat- tet, und dies schon seit Jahren, sondern sie auch mit öffentlichen Mit- teln gefördert, wenn bestimmte Kriterien erfüllt werden. Diese kleinen, in Zusammenarbeit mit einigen wenigen gleichgesinnten Lehrern geführ- ten Familienschulen, die über einen flexiblen Lehrplan und öffentliche Unterstützung verfügen, wie es sie so häufig als »kleine Schulen« in Däne- mark gibt, sind in den USA wesentlich schwerer zu errichten. Massa- chusetts gestattet zwar seit 1995 die Errichtung von Charter-Schulen, seitdem wurden jedoch nur 42 gegründet. Angesichts der drohenden Budgetkürzungen fordern die öffentlichen Schulen nun, dass in den nächsten zwei Jahren keine weiteren Charter-Schulen mehr finanziert werden. Offenbar gibt es jedoch ein Interesse an Charter-Schulen und auch Unterstützung - denn in Massachusetts warten derzeit 11000 Schüler auf einen Platz, während gegenwärtig 15 000 Schüler eine solche Schule besuchen. Die rasche Verbreitung von Charter-Schulen wird jedoch von verschiedener Seite gebremst. Ich habe von einigen wenigen Charter-Schulen gehört, die in den USA von Eltern errichtet wurden und geführt werden. Allerdings sind es nicht viele. In ihrer Do-it-yourself-Manier warten einige Homeschooler nicht darauf, dass ihnen der Staat Zuschüsse und Bewilligungen erteilt, um die Art von Cafeteria-Schule zu gründen, die sie sich wünschen: Sie packen zu und tun es selbst. In einem Artikel mit dem Titel »Home- schooled Away from Home« berichtete die Washington Post über die- sen Trend, bei dem »Eltern in Lernkooperativen zusammenarbeiten, mit- unter im eigenen Zuhause, aber in steigendem Maß auch in leer stehen- den Kirchen- und Gemeindegebiuden«. Dies könnte ein neuer Trend sein für Menschen, die der Methode »Schule zu Hause« folgen. Aber wie Sie bereits gelesen haben, schrieb schon John Holt über diese Clubs und Kooperationen, die Freilerner fiir sich geschaffen und seit Jahren genützt haben. Die Ängste der Schulbehérden, dass Homeschooler ihnen Finanz- mittel entziehen könnten, um eigene Schulen zu errichten, sind einfach übertrieben: Homeschooler sind entschlossen, sich zu schaffen, was sie brauchen, und zwar unabhängig von Regierungszuschüssen. Die Schulen würden besser daran tun, Vereinbarungen mit Homeschoolern anzustre- 288 ben statt sie zu vergraulen, vor allem angesichts der vielen kostenlosen und kostenpflichtigen Lernmöglichkeiten außerhalb der Schule. Hingegen streben privatwirtschaftlich orientierte Schulen - auch Fernschulen - nach Charterverträgen und öffentlichen Finanzmitteln. Derartige Bestrebungen müssten die öffentlichen Schulen wesentlich stär- ker beunruhigen als Eltern, die in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung Lernkooperationen für ihre Kinder aufbauen wollen. Öffentliche Schulen könnten unter der wachsenden Zahl motivierter Eltern, die sich für Homeschooling interessieren, wichtige Verbündete finden, sofern sie mit ihnen zusammenarbeiten. Wie Holt betont, sollte der Kampf gegen Homeschooler für öffentliche Schulen kein großes Thema sein, solange sie drängenderen Bedrohungen gegenüberstehen; Kooperation wire fiir die Gesellschaft, die Schulen und die Homeschooler wesentlich fruchtbarer.€¢ Offentliche Schulen haben Grund genug, sich wegen vieler Probleme zu sorgen, allerdings nicht wegen Homeschooling. Wenn sie sich dagegenstellen, haben sie wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren von dem geringen Rest an Vertrauen in der Offentlichkeit. Ein Beispiel: Eine talentierte klassische Konzertmusikerin, Leh- rerin und Dirigentin übersiedelte in eine Kleinstadt im Norden von Minnesota. Ihre jüngste Tochter übte eigenständig fur eine Karriere als professionelle Geigerin und hatte schon auf professionellem Niveau konzertiert. Weil die Schule kein Spezialprogramm für Musik anbot und das Mädchen seiner Klasse in den akademischen Fächern zwei bis drei Jahre voraus war, beschloss die Mutter, sie aus der Schule zu nehmen und zu Hause zu unterrichten. Die Schule bezeich- nete das von der Mutter zu Hause durchgeführte Bildungsprogramm als unangemessen und brachte sie vor Gericht, wo sie in erster Instanz unterlag. In der nächsten Instanz erhielt die Mutter jedoch Recht. Diese Geschichte wurde landesweit mit große Sympathie für die Mutter und die Familie in den Zeitungen verbreitet. In Providence/Rhode Island wollten Peter und Brigitta Van Daam, beide intelligent und gut gebildet, ihre Tochter aus der öffentlichen Schule nehmen. Sie fragten die Schulbehörden nach dem geeigne- ten Procedere. Diese erklärte ihnen wiederholt (vielleicht aus Unwis- senheit), dass es dafür weder geeignete Formulare noch überhaupt eine Regelung gäbe - was nicht den Tatsachen entspricht. Als die Familie schließlich - erschöpft durch das Hin und Her - begann, ihr 289 Kind zu Hause zu unterrichten, leitete die Schule rechtliche Schritte gegen sie ein und bewirkte, dass die gesamte Familie verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde. Die Van Daams haben viel Mühe auf sich genommen, um ihren Fall in die Öffentlichkeit und die Medien zu bringen. Als sie von der Polizei abgeholt wurden, waren alle drei großen TV-Stationen mit Kameras vor Ort. Kurz darauf konnten Mil- lionen von Amerikanern in zumindest einer landesweiten TV-Sendung zusehen, wie diese offensichtlich intelligenten und verantwortungs- bewussten Eltern mit ihren offensichtlich intelligenten Kindern ins Gefängnis gebracht wurden. Derartige Taten lassen die Schulen nur arrogant, rücksichtslos, grausam und dumm erscheinen. Es ist nicht notwendig, weitere Bei- spiele zu zitieren, von denen es jede Menge gibt. In schwierigen Zei- ten wie diesen kann sich die Schule nicht noch mehr derart nega- tive Publicity leisten. Die öffentliche Meinung hinsichtlich des momen- tanen Bildungssystems vollzieht ohnehin eine Kehrtwende. Seit ihrer Gründung haben die öffentlichen Schulen nahezu unbegrenztes öffentliches Vertrauen genossen. Auch wenn die Menschen sie in Details kritisierten, stimmten fast alle darin überein, dass offentli- che Schulen uneingeschränkt notwendig seien. Der Gedanke eines wirkungsvollen Regierungsmonopols im Bereich Bildung wurde nahezu ungefragt akzeptiert. Jetzt plötzlich glauben immer weniger Menschen, dass die Regierung diese Monopolstellung haben sollte, und viele fragen sich allmählich, ob der Staat überhaupt in das Schul- wesen eingreifen sollte. Zwar wird behauptet, es sei immer noch eine Minderheit, die sich gegen Schulen stelle, und das vor allem aus Gründen, die außerhalb der Schulen lägen. Bis zu einem gewissen Grad mag das wahr sein. Die heutige Anti-Schule-Stimmung ist eindeutig Teil einer weitrei- chenden Reaktion auf alle Monopolisierungstendenzen, insbeson- dere der des Staates. Ein anderer Teil ist die Angst der Menschen vor wirtschaftlichem Niedergang, Jobverlust und steigenden Ölprei- sen. In welchem Maß die Schulen für diesen plötzlichen Stim- mungsumschwung gegen sie verantwortlich sind, ist unerheblich. Der Meinungsumschwung ist erfolgt und verfestigt sich. In einer sol- chen Zeit kann es sich das Schulsystem eigentlich nicht leisten, sich durch unbesonnenes Vorgehen zusätzlich Feinde zu machen sowie Zeit und Öffentliche Gelder dafür aufzuwenden, Eltern Schwierigkei- ten zu bereiten, die ihre Kinder selbst unterrichten wollen. 290 Aber das ist nur die negative Seite des Bildes. Denn ich will hier vor allem betonen, dass Schulen viele wirklich wertvolle Dinge gewin- nen könnten, wenn sie in vollem Umfang mit Homeschoolern zusam- menarbeiteten. Gestatten Sie mir, einige davon (nicht nach ihrer Wichtigkeit geordnet) hier anzusprechen: FORSCHUNG Schulen benötigten schon immer Möglichkeiten, um das Lernen zu erforschen. Hiermit meine ich nicht jenes Forschen mit Experimen- talgruppen, Kontrollgruppen, Statistiken, usw., wie es üblicherweise verstanden wird, sondern jene Art, die ich während all meiner Jahre als Klassenlehrer unternommen habe, in denen ich beständig neue Unterrichtsmethoden ausprobierte und verbesserte. Diese Art der Forschung, die Lehrer in ihren eigenen Klassenzimmern durchführen und die vorrangig auf Erfahrung und weniger auf Experimenten basiert, ist die einzige Art, die das Unterrichten deutlich verbessern wird. Für Lehrer in Schulen ist es jedoch nahezu unmöglich, derartige Forschungen durchzuführen. Wenn die in Schulen »erprobten« Metho- den - wie zum Beispiel etwas auswendig zu lernen - nicht funktio- nieren, was ja allgemein üblich ist, so ist die Öffentlichkeit bereit, die Schüler dafür verantwortlich zu machen. Findet jedoch eine »neue« Methode Anwendung, die nicht zum gewünschten Resultat führt, so weist die Öffentlichkeit Schule und Lehrern die Schuld dafür zu. Daraus folgt die Regel: Um Schwierigkeiten zu vermeiden, bleibt man bei den alten Methoden, selbst wenn sie nicht funktionieren. Wollen Schulen also wirkliche Grundlagenforschung betreiben, wofür die Allgemeinheit bezahlen soll, stehen sie unter großem Druck, möglichst rasch Resultate zu erzielen, wie zum Beispiel durch bessere Testergebnisse. Selbst bei national finanzierten Langzeit- programmen erhielten Schulen nur selten drei Jahre Zeit, um neue Lehrmethoden - mit positivem Resultat - zu erproben; meist muss- ten sie schon innerhalb von einem oder zwei Jahren Ergebnisse vor- weisen. Wahre Grundlagenforschung kann also nicht stattfinden. Es Kindern über einen längeren Zeitraum hinweg selbst zu überlassen, wann und in welchem Tempo sie lesen lernen, hat somit keine Chance. Ein mir bekannter, völlig normal begabter Junge erhielt diese 291 Wahlfreiheit. Er lernte erst im Alter von acht Jahren lesen, indem er es sich selbst beibrachte. Als er jedoch drei Jahre später von einer Schule getestet wurde, zeigte sich, dass er im Lesen bereits auf dem Niveau der zwölften Schulstufe war. In einem dieser Kurzzeitfor- schungsprojekte wäre dieser Junge einfach als Analphabet in die Sta- tistik eingegangen und hätte somit »bewiesen«, dass man Kindern diese Wahlfreiheit nicht selbst überlassen kann. Aus all diesen Gründen können wir vermutlich nur von Eltern, die ihre Kinder selbst unterrichten, erwarten, echte und grundlegende Langzeitforschungsergebnisse über das Lernen zu erhalten, und zwar über die Art und Weise und das Ausmaß des Unterrichtens, das für das Lernen am förderlichsten ist, und über die Nützlichkeit ver- schiedener Methoden und Lehrmaterialien. Sie können es sich leis- ten, geduldig zu sein und lange auf Ergebnisse zu warten; sie haben ihre Arbeit selbst in der Hand und können ihre Methoden nach ihren Wünschen abwandeln; sie können Beobachtungen aus nächster Nähe durchführen; sie sind frei von sämtlichen routinemäßigen Ablenkungen großer Schulen, und sie sind nur an Ergebnissen inter- essiert, nicht an Entschuldigungen. Von diesen Menschen und ihrer Arbeit könnten alle Schulen, von denen viele heute unter stark ein- geschränkten Bedingungen arbeiten müssen, eine Menge lernen. Lassen Sie uns zunächst definieren, was sie nicht lernen wer- den. Sie werden nicht erfahren, dass dies oder jenes die beste Methode ist, um lesen, schreiben und rechnen zu erlernen; oder dass dies die besten Bücher für Kinder sind oder jenes der beste Lehr- plan für eine bestimmte Schulstufe ist; oder dass dieses Fachgebiet immer in einer bestimmten Reihenfolge unterrichtet werden sollte. Homeschooler werden die Schulen nicht das lehren, was sie am mei- sten wissen wollen, nämlich was der einzige und beste Weg ist, um etwas zu tun. Stattdessen wird deutlich werden, dass es diesen »ein- zigen und besten Weg« nicht gibt, und dass es Zeit- und Energiever- schwendung ist, danach zu suchen; dass Kinder (wie auch Erwach- sene) auf unterschiedlichste Weise lernen; das jedes Kind auf die Art am besten lernt, die es am meisten interessiert, begeistert und befriedigt; und dass es Aufgabe der Schule sein sollte, den Lernen- den eine möglichst breite Palette an Optionen im Hinblick darauf zu bieten, was und wie gelernt wird. Wenn Eltern berichten, dass ihre Kinder gerne Bücher über Astronomie, Architektur, Anthropologie, Flugzeuge, Atome, Raketen, Raumfahrt oder Mikroben lesen, und 292 gerne mit Buntstiften, Computern, Puzzles, Geigen, Schreibmaschi- nen, Gartengeräten, Kassettenrekordern usw. arbeiten, dann ist dies ein Hinweis darauf, dass diese Bücher und Materialien in den Schu- len vorhanden sein sollten, nicht damit alle Kinder sie benützen, son- dern jene Kinder, die dies wünschen. Darüber hinaus können Homeschooler den Schulen noch weitere wichtige und allgemeine Prinzipien über das Unterrichten und das Ler- nen vermitteln. Derzeit gibt es allerdings noch so wenige Homeschoo- ler, dass ihre Erfahrungen von konventionellen Pädagogen noch immer als nicht aussagefähig abgestempelt werden. Wenn die Zahl der Home- schooler wächst, wird es auch den erbittertsten Widersachern schwer fallen, diese Erkenntnisse zu ignorieren. Wenn wir auf zehntausende Kinder verweisen können - wozu wir im Lauf der Zeit sicher in der Lage sein werden -, die selbständig zu einem selbst gewählten Zeitpunkt und in ihrem Tempo lesen gelernt haben und die wenige Jahre später im Lesen den meisten Schulkindern ihrer Altersklasse weit voraus sind, so wird dies gewiss auch auf die Schulen selbst große Auswir- kung haben. All jene, die in den Schulen diese Richtung einschlagen wollen, werden dadurch ermutigt, während es den anderen schwerer fallen wird, sich diesen Erfahrungen zu widersetzen. FEEDBACK Wir können unsere Aufgaben nur dann besser erfüllen, wenn wir wissen, wie gut wir sie jetzt erfüllen. Experimente haben dies immer wieder bewiesen. Wenn wir das Gewicht von Gegenständen abschät- zen und nie erfahren, ob unsere Schätzungen zu gering oder zu hoch sind, werden wir keine Fortschritte machen. Aber wenn wir bei jedem Mal erfahren, ob und um wie viel wir zu hoch oder zu niedrig ge- schätzt haben, bessern wir uns rasch. Wenn Sie auf ein Ziel schie- Ben, aber nicht sehen können, wohin Ihre Schüsse gegangen sind, können Sie Ihre Treffsicherheit nicht steigern. Einer der Gründe, warum es Schulen und Lehrern normalerweise so schwer fällt, sich in ihrer Arbeit zu bessern, besteht darin, dass sie von ihren Schülern zu wenig Feedback bekommen - zu wenig auf- richtige Informationen über die Unterrichtsqualität. Ein guter Freund von mir, der ein ausgezeichneter, erfolgreicher und insgesamt sehr glücklicher Student an einer führenden Universität war, erzählte mir 293 einmal, dass er und seine Freunde nie mit ihren Professoren disku- tieren würden oder gar streiten, weder im Lehrsaal noch in Form einer Korrespondenz. Er meinte: »Man hat nur dann eine sichere Chance auf eine Eins, wenn man das sagt, wovon man glaubt, es entspre- che der Meinung des Professors. Selbstverständlich musst du es in eigene Worte verpacken, damit er deine Absicht nicht errät.« Seit damals haben sich viele andere Collegestudenten in Gesprächen, Briefen oder Büchern gleichlautend darüber geäußert. Professoren, die von sich glauben, es sei ihre Bestimmung, Unwissenden die Wahrheit zu verkünden, stört es vielleicht gar nicht, wenn ihre Stu- denten so handeln, andere hingegen beträchtlich. Denn diese haben sich entschlossen zu unterrichten, um mit Studenten fruchtbare Dis- kussionen über ein Thema zu führen, dass sie alle interessiert, und sind enttäuscht, wenn ihnen die Studenten nur nach dem Munde reden, um gute Zensuren zu bekommen. Sie haben es satt, stets die- selben Fragen zu hören: »Was müssen wir tun, um in diesem Kurs eine gute Zensur zu bekommen? Werden wir dafür verantwortlich gemacht? Kommt dieses oder jenes beim Examen dran?« Solche Fra- gen vertreiben einige gänzlich aus der Welt des Unterrichtens. Während ich eine fünfte Schulstufe unterrichtete, lernte ich end- lich, was meine schwierigste und härteste Aufgabe war: Meinen Schülern zu helfen, keine Angst vor mir und voreinander zu haben, nicht zu bluffen, zu schwindeln und mich nicht auf die Probe zu stel- len. Erst wenn sie sich in der Klasse wohl genug fühlten, um wirklich ganz sie selbst zu sein, konnten sie ihre wahren Interessen und Stär- ken offenbaren, ebenso ihre Ängste und Schwächen. Erst dann | konnte ich daruber nachdenken, wie ich auf ihren Starken aufbauen und ihre Schwachen umgehen oder uberwinden konnte. All dies benötigte Zeit und Geduld. Einige erzählten mir lange Zeit nicht, dass sie nicht wussten, wie ein bestimmtes Problem zu lösen sei, oder wie etwas gemeint war, was ich ihnen gesagt oder an die Tafel geschrie- ben hatte. Einige sagten es mir nie, weil sie nie ihre Maske ablegten. Um unsere Arbeit als Lehrer gut zu erledigen, benotigen wir Schuler, die keine Angst vor uns haben, um uns zu sagen, was sie denken, wissen oder nicht wissen. Moglicherweise gibt es heute schon einige dieser Schuler in unseren Schulen, aber noch nicht genug - wir brauchen noch viel mehr. Und wir werden mehr derartige Schuler haben, sobald Kinder, die außerhalb der Schule lernen, aus freien Stücken fur ausgewählte Kurse in die Schule kommen. 294 AUTORITÄT UND FÜHRUNGSQUALITÄTEN Weil Schulen das Wesen natürlicher Autorität nicht begreifen, stecken sie in einer Autoritätskrise. Ihre aufgezwungene Autorität bricht mehr und mehr zusammen, aber das ist die einzige Autorität, die sie ken- nen. Ihnen fällt die Vorstellung schwer, mit Kindern zu tun zu haben, die Lehrer nicht im Geringsten fürchten und ihnen keine Gelegenheit bieten, ihnen Angst einzujagen. Durch Worte allein wird sich das nicht ändern. Die Schulen werden erst von jenen Kindern etwas über natür- liche Autorität lernen, für die sie tatsächlich eine natürliche Autorität sind. Das sind jene Kinder, die zur Schule gehen, weil sie dies wollen, um ein Lehrmittel für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Von ihnen wer- den sie viel über jene Führungsqualitäten erfahren, welche die Schu- len so dringend benötigen. Als Lehrer einer fünften Schulstufe dachte ich viel über pädago- gische Führungsqualitäten nach. Lange Zeit wusste ich nicht, was damit gemeint war. Allmählich erkannte ich, dass die Atmosphäre und der Geist meiner Klassen vor allem von den Schülern selbst bestimmt wurden, und dies zumeist von zweien oder dreien, die unabhängig von ihren schulischen Leistungen und ihrem Verhalten tatsächlich die realen Anführer waren. Von den fünf Klassen, die ich in der fünften Stufe unterrichtete und die ich alle mochte, war die letzte die weitaus beste - die interessanteste und aktivste und die, die mir am meisten Spaß bereitete und die für die Kinder am wert- vollsten war. Nach üblichen Standards wäre sie wohl eine der schlechtesten gewesen; nur drei Kinder waren wirklich gute Schüler, und mehr als die Hälfte der Klasse hatte ernste akademische bzw. emotionale Probleme. Was diese Klasse zur besten machte, waren die zwei Kinder, die sie (ohne es zu wissen oder zu versuchen) führten. Das eine Kind war ein farbiger Junge, der bei weitem genialste Schüler, den ich je unterrichtet habe. Er war nicht nur schulisch gese- hen klug, sondern lebensklug, in jeder Weise klug. Das andere Kind, ein Mädchen, war eine ebenso gute Anführerin. Sie hatte keine wohl- habenden Eltern, war außergewöhnlich fantasievoll und künstlerisch veranlagt und besaß auch diese Klugheit für die reale Welt. Nicht nur ihre offensichtliche Wachsamkeit, Fantasie, Neugier, Fröhlich- keit, gute Laune und ihr Interesse an vielen Dingen machte es zu einem wahren Vergnügen, mit diesen beiden Kindern zusammen zu 295 sein und übte einen so mächtigen Einfluss auf die anderen Kinder aus, sondern auch ihre Energie, Vitalität, Selbstachtung, ihr Mut und - vor allem - ihre echte Unabhängigkeit. Sie mussten nicht gedrängt oder überredet werden, um etwas zu tun. Und sie hatten auch kein Interesse daran, mit mir ihr Spielchen zu treiben oder mir Widerstand entgegenzusetzen nach dem altbekannten Schülermotto: »Sie kön- nen mich nicht zwingen, das zu tun.« Zweifellos half ihnen auch die Tatsache, dass ich - im Gegensatz zu vielen anderen Erwachsenen —- jene Qualitäten, die sie an sich selbst am meisten schätzten, offen- sichtlich auch genoss und schätzte. Aber ich habe ihre Qualitäten nicht hervorgebracht, sie haben sie selbst in die Klasse mitgebracht. Was ohne diese Kinder ein schlimmes Jahr hätte werden können, wurde zum interessantesten und aufregendsten Jahr, das ich je in einem Klassenzimmer verbracht habe. Einige wenige solche Kinder können in einer Klasse - oder gar in einer gesamten Schule - vieles bewirken. Sie bestimmen in wesentlich stärkerem Maß den Ton in einer Schule als jeder Direktor oder Lehrer. Wenn sich andererseits gerade die Kinder mit der meis- ten Energie, Fantasie und Courage ständig der Schule widersetzen, und wenn die »braven« offensichtlich jene sind, die aus Angst keine eigene Position beziehen, werden die meisten Kinder die Outlaws bewundern und beneiden, auch wenn sie es nicht wagen würden, sie nachzuahmen. Niemand kann dann an solch einem Ort Ordnung, Autorität oder Disziplin bewahren. In meiner fünften Schulstufe waren die Kinder, die am meisten bewundert wurden, keine Chaoten. Gleichzeitig waren diese beiden Anführer meilenweit davon entfernt, Speichellecker des Lehrers zu sein. Wenn ihnen etwas im Unterricht nicht gefiel, oder wenn sie etwas anderes wollten oder der Meinung waren, dass ich ungerecht war, sagten sie es mir. Aber dies hatte nichts mit der Frage zu tun, wer der Boss war. In unserer Beziehung ging es um etwas anderes. Sie waren auf vielfache Weise an der Welt interessiert, und ich wusste mehr über die Welt als sie. So nutzten sie mein Wissen für sich und wir genossen einander. Auch diese Klasse hatte ihren Anteil an Kin- dern, die nach dem Motto vorgingen: »Sie können mich zu nichts zwingen«. Wenn sie dabei wirklich lustig waren, was mitunter geschah, lachten die anderen Kinder mit ihnen, so wie ich es tat. Aber sie wurden nicht bewundert, weil sie Widerstand leisteten. Die anderen Kinder empfanden ihre Possen oft als ablenkend und 296 störend, denn sie hatten Besseres zu tun. Wichtig und bewunderns- wert war es, So lebendig, wachsam, aktiv, neugierig und engagiert zu sein wie diese Anführer. Die Klassendisziplin, die aus dieser Art von Gefühl hervorgeht, unterscheidet sich wie Tag und Nacht von einer, wo die Kinder einander sagen: »Wenn du das tust, sage ich es dem Lehrer und du bekommst Ärger.« Diese Art des Umgangs ist nicht nur viel angenehmer, sondern auch dauerhafter. Solche Kinder, deren Handlungen nicht von Angst geprägt sind, benötigt die Schule dringend, und wenn auch nur als Beispiel für die anderen. Diese Kinder werden der Schule nicht nur eine andere Einstellung gegenüber der Welt vermitteln (sie ist interessant und aufregend), über sich (sie sind unabhängig und kompetent) und über die Schule (sie ist nützlich), sondern sie zeigen auch Interessen, die weit über die TV-Shows des Vorabends hinausgehen. Von diesen Interessen werden auch die anderen Kinder einige aufnehmen. Mein oben erwähnter farbiger Schüler der 5. Stufe »unterrichtete« die anderen Kinder seiner Klasse wesentlich nachhaltiger als ich. Indem sie ihn bewunderten, sprachen sie auch so viel wie möglich mit ihm (was ich gestattete), und lernten aus diesen Gesprächen eine Menge. Auf dieselbe Weise werden Homeschooling-Kinder, wenn sie denn freiwillig die Schule besuchen, viele neue Ideen, Fertigkeiten, Aktivitäten und Lehrmaterialien einbringen, um sie mit den ande- ren Kindern zu teilen. Selbst wenn diese Kinder nur einen geringen Prozentsatz der Schüler ausmachen, werden sie die Schule verän- dern und sie zu einem freundlicheren und interessanteren Ort machen. II Unsere drei Homeschool-Téchter haben mehrmals auf Teilzeit- und Vollzeitbasis in öffentliche und private Schulen gewechselt und diese wie- der verlassen. Auch wenn ich jetzt nicht wie ein aufschneiderischer Vater klingen will, haben meine Mädchen sowohl von ihren Lehrern als auch von anderen Schülern Komplimente dafür erhalten, dass sie ihr Spiel, ihre Klassen und die Arbeit mit anderen Kindern mit Energie erfüllt und dabei Flihrungsqualititen bewiesen haben. Ich kenne viele andere Homeschool- Eltern, die dasselbe berichten kénnen. Soviel zu den Angsten, Home- schooling lasse die sozialen Kompetenzen verkiimmern! Häufig wird Schule von der Schulverwaltung als Alles-oder-Nichts-Option angeboten. Die Möglichkeiten, die Schule freiwillig auf Teilzeitbasis zu besuchen, werden demnach weniger durch den mangelnden Wunsch der Kinder 297 beschränkt als durch die Bürokratie. Aber wie unsere Erfahrungen und die vieler Homeschooler zeigen, funktioniert eine Schulmischform für alle Beteiligten ausgezeichnet, ohne komplizierte Finanzierungsmodelle, Rege- lungen und Vorschriften. ¢¢ GELD, OFFENTLICHKEIT UND KLIENTEN Schulen haben haufig aus finanziellen Grunden Angst vor Home- schooling. Die meisten Schulen erhalten finanzielle Hilfe vom Staat - je nach Schulerzahl. Dieser Zuschuss macht oft einen betrachtli- chen Teil des Schulbudgets aus. Wenn die Schulen jedoch mit Home- schoolern kooperieren und diese fur die von ihnen gewahlten Akti- vitaten zur Schule kommen, konnen sie der Gesamtschulerschaft hinzugerechnet werden, was positive Auswirkungen auf die Finan- zierung der Schule hat. Es gibt keinen rechlichten Grund, warum ein Schulbezirk, der sich zu einer Kooperation mit einer Homeschool-Familie entschließt, deren Kinder nicht als Schulbesucher eintragen sollte, selbst wenn sie nicht 100 Prozent der Unterrichtszeit anwesend sind. Ich kenne kein Gesetz, dass »Anwesenheit« ausschließlich auf die körperliche Anwesenheit im Schulgebäude begrenzt. Schließlich verbringen viele Schüler im Rahmen von Projekttagen und Praktika ihren Tag nicht in Schulgebäuden, sondern in verschiedenen öffentlichen Einrichtun- gen oder privaten Betrieben. Niemand käme auf die Idee, diese Rege- lung verstieße gegen die Schulpflicht; es wäre völlig absurd. Daher gibt es auch keinen Grund, warum eine Schule ein unter ihrer Aufsicht zu Hause lernendes Kind nicht als ordentlichen Schüler führen sollte. Sie könnte sogar behaupten, dass es nicht nur legal, sondern auch moralisch gerechtfertigt ist, die entsprechenden Finanzmittel für einen Homeschooler anzunehmen, weil dieses Kind in gewisser Weise sogar mehr individuelle Aufmerksamkeit erhält als Vollzeitschüler. Schulen haben also keinen Grund, Homeschooler als eine finanzielle Bedrohung zu betrachten. Eine Kooperation mit Homeschool-Familien kann den Schulen sogar zu einer verbesserten Außendarstellung verhelfen, die diese nur allzu gerne hätten. Während eines Auftritts in einer TV-Talkshow erwähnte ich kurz, dass die Schulen von Barnstable/Massachusetts umfassend mit einer Homeschool-Familie kooperierten, so dass 298 deren Kinder, wann immer sie wollten, zur Schule gehen und an von ihnen gewünschten Aktivitäten teilnehmen konnten. Diese kurze Erwähnung brachte und beschert dem Schulbezirk nach wie vor zahl- reiche Anfragen, einige davon sogar aus anderen Bundesstaaten und alle in überaus wohlwollendem Ton. Wie viele andere auch fühlen sich Schulleute wohl bei dem Gedanken, an der Spitze einer Reform- bewegung zu stehen, neue Wege zu beschreiten und von anderen in dieser Rolle gesehen zu werden. Eine Kooperation mit Homeschool- Familien ist für eine Schule eine einfach und authentische Art und Weise, sich in diese Rolle zu versetzen und somit eine überaus posi- tive Außendarstellung zu erlangen. Holts Frage findet auch bei mir noch Nachhall, wenn ich beob- achte, wie sich öffentliche Schulen ein um das andere Mal selbst ins Bein schießen bei dem Versuch, Homeschooling einzudimmen. Jahrelang durften lokale Schulbezirke in Massachusetts Homeschooler in ihrer Anwesenheitsliste führen und fiir sie Zuschüsse empfangen. Auch die Homeschooler aus Massachusetts waren damit im Großen und Ganzen einverstanden, denn die Schulen, die diese Zuschüsse bekamen, waren oft gerne bereit, Homeschoolern zu gestatten, an Kursen teilzunehmen oder andere Schuleinrichtungen zu nutzen. Eine Familie aus Boston erhielt per E-Mail eine gültige Anwesenheitsbescheinigung fiir ihren Sohn, der nie auch nur einen Fuß in seine zuständige Schule gesetzt hatte, aber dessen Name auf der Anwesenheitsliste der Schule erschien, um den Zuschuss zu bekommen. Die Situation erreichte vor ein paar Jahren einen Hohepunkt, als der Schulamtsleiter von Uxbridge/Massachusetts anbot, einen Teil des Anwesenheitszuschusses, den er für Homeschooler erhielt, den betroffenen Familien direkt zukommen zu lassen, um einen Teil ihrer Bildungskosten damit abzudecken. Derartige Arrangements sind nicht ungewöhnlich. In den letzten Jahren haben Schulbezirke in Kalifornien und Washington Homeschoolern Steuergutschriften, finanzielle Anreize und schulische Lehrmittel angeboten, als Gegenleistung dafür, dass die Schulen die Homeschooler in ihre Independent Study Programs oder andere Arten von Voll- oder Teilzeit-Schulprogrammen einschreiben dürfen. 1996 entschloss sich jedoch das Bildungsministerium des Staates Massachusetts, Homeschooler hinauszudrängen; eine neue Bestimmung untersagte, Homeschooler in der Anwesenheitsliste einer Schule zu führen und dafür finanzielle Zuwendungen zu erhalten. Dieser Zug hat die Alles- oder-Nichts-Mentalität vieler Schuladministratoren in Massachusetts 299 bestärkt. Dennoch arbeiten einige wenige Superintendenten immer noch offen mit Homeschoolern zusammen und zeigen, wie leicht es ist, in gutem Licht zu stehen und die Ausbildung aller Kinder in ihren Bezirken zu unterstützen. ; Aufgrund der rückläufigen Geburtenrate werden Schulen in jedem Fall immer mehr Schüler verlieren. Um im Geschäft zu bleiben, müs- sen sie also neue »Kundenkreise« erschließen. Viele sehen die Lösung darin, die Schulpflicht früher beginnen zu lassen, die tägliche Unterrichtsdauer auszuweiten und den Kindergartenbesuch zur Pflicht zu erheben; einige Lehrergewerkschaften haben sogar vorge- schlagen, dass die Schulpflicht bereits im Alter von zwei oder drei Jahren beginnen soll. Gleichzeitig sprechen Pädagogen viel über eine ziemlich düstere Idee namens Mandatory Continuing Education (verpflichtende Weiterbildung). Wenn sie diese Idee durchsetzen kön- nen, bedeutet es, dass immer mehr Menschen, die jahrelang zur Schule gegangen sind, um einen Job zu bekommen, weiterhin zur Schule gehen müssen, um diesen Job zu behalten. Dies ist der falsche Ansatz. Diese Idee hätte vielleicht in einer Zeit gegriffen, als alle bis auf ein paar Spinner hinter den Schulen standen, oder als die Menschen noch davon überzeugt waren, dass jedes zusätzliche Jahr, das sie in der Schule zubrächten, automatisch ein höheres Gehalt bedeutete. Aber heute greift diese Vorstellung nicht mehr angesichts der rückläufigen Wirtschaftsentwicklung, in der sogar Universitätsabschlüsse von Jahr zu Jahr weniger wert sind. Wenn Schulen überleben und wieder aufblühen wollen, wie es einige gut verstehen, müssen sie in zunehmendem Maß zu Orten werden, die Schüler besuchen, weil sie es wollen und weil sie wissen, dass sie hier interessante Dinge erfahren und tun können. Bisher wird diese Ansicht nur von wenigen Menschen geteilt. Selbst wenn sie Schulen vom Prinzip her unterstützen, teilen mir Hunderte von Eltern mit, von denen viele selbst gute Schüler und Stu- denten waren, dass ihre schlimmsten Angstträume immer noch mit der Schule zusammenhängen, oder dass sie sich noch heute beim Betreten eines Schulgebäudes innerlich verkrampfen und schweißnasse Hände bekommen. Hingegen vermitteln andere Orte - z.B. Konzerthallen, Sportplätze, Theater, Parks etc. - den meisten Menschen ein gutes Gefühl, sobald sie diese betreten. Für ihr eigenes Überleben benötigen Schulen Menschen, die sich in ihnen wohlfühlen. 300 Einige Schulbezirke verstehen dies nur allzu gut. Hier ein paar Worte aus der Broschüre »Declining Enrollments« (Rückläufige Regis- trierungszahlen), das vom Center for Community Education Deve- lopment der Schulen des Distrikts Santa Barbara veröffentlicht wurde: Wenn Schulen abseits der Gemeinschaft bestehen, erheben sie sich wie Denkmäler ... wie eine Erinnerung der Bürger an die unangenehme Ver- gangenheit ihrer eigenen Schulzeit ... als Symbole für etwas, gegen das man in Zukunft stimmen wird ... sie stehen leer da, unbenützt, wirt- schaftlich unbrauchbar und bewirken eine weitere Segmentierung und Fragmentierung der Gesellschaft. Die andere Seite der Medaille ist eine Schule, die integraler Bestandteil der Gesamtressourcen der Gemein- schaft ist. Es gibt natürlich auch die schon beinahe klassische Geschichte, dass man ein Gebäude so unentbehrlich macht, dass die Schulaufsichts- behörde nicht einmal über eine Schließung nachdenkt. Als die Direktorin der Fairlington Elementary School in Arlington/Virginia bei der Zahl der Schuleinschreibungen einen Rückgang von 440 auf 225 bemerkte, gab sie zunächst einen Teil der Räumlichkeiten an einen Kindergarten, lud dann die Vereine dazu ein, die Schule für einige ihrer Programme zu nützen, und reservierte einen zusätzlichen Raum für eine Seniorengruppe. Ein Gemeindetheater und verschiedene andere lokale Organisationen nütz- ten ebenfalls schon bald die Einrichtungen der Schule. Binnen kurzer Zeit verstummten die Überlegungen, die Schule zu schließen, und es wurden sogar Stimmen laut, ob nicht eine Erweiterung erforderlich wäre. TRAINING FÜR LEHRER Mit der Zeit könnte die Homeschool-Bewegung zumindest für die innovativeren Lehrerbildungsanstalten als Trainingsmöglichkeit für Lehrer sehr nützlich werden. Im Lauf der Jahre haben mich Professoren derartiger Lehrerbil- dungsanstalten immer wieder gefragt, wie die Ausbildung der Leh- rer zu verbessern sei. Bis vor Kurzem lautete meine Antwort: Solange wir unter Lehrerbildung verstehen, dass wir junge Leute aufs Col- lege schicken, um pädagogische Kurse zu besuchen, können wir die Ausbildung nicht weniger schädlich machen, als sie derzeit ist. Junge Menschen, die auf diese Weise ausgebildet wurden, gehen mit der 301 Überzeugung in die Klasse, dass sie viel über Kinder, das Lernen und das Unterrichten wissen, während sie in Wirklichkeit fast nichts wissen - was ich auch sagen würde, wenn ich selbst diese Lehrer- bildungskurse leiten würde. Menschen, die auf diese Weise ausge- bildet worden sind, haben nichts in ihrem Kopf als Worte. Sie wissen über Kinder und das Unterrichten nicht mehr, als Menschen, die ihr ganzes Leben in der Wüste oder im Dschungel verbracht haben, über schneebedeckte Berge wissen - nämlich nur vom Hörensagen oder aus Büchern. Wir können nicht eine komplexe Erfahrung in Worte fassen und diese Erfahrung jemandem weitergeben, der sie nicht gemacht hat. Nicht einmal die allerbeste Beschreibung von Bergen oder von Kindern - auch nicht in Form von Fotos oder kunstvoll animierten Filmen - kann ein Ersatz dafür sein, echte Berge zu sehen und auf ihnen herumzuklettern oder mit echten Kindern zu arbeiten. Weil angehenden Lehrern in Ihrer Ausbildung nur Theorie ver- mittelt wird, fehlt ihnen in der Regel jeglicher Praxisbezug. Wenn solche Studenten erstmals als Lehrer ein Klassenzimmer betreten, kommen sie sozusagen mit einem Bogen selbstklebender Etiketten herein: »Minderbegabt, hochbegabt, lernbehindert, hirngeschädigt, verhaltensauffällig, emotional gestört, kulturell benachteiligt« usw. Anstatt sich in der Klasse umzusehen und langsam zu lernen, diese Erfahrung auf eigene Weise zu beschreiben und zu beurteilen, suchen sie nach Kindern und Ereignissen, denen sie die vorbereite- ten Etiketten aus ihrer Kartei aufkleben können. Weil sie glauben, dass sie ein Kind, das sie mit einem Etikett versehen, auch verste- hen, beschließen sie rasch, dass Billy ein »Minderbegabter« ist und Susie eine typische Dies und Thomas ein typischer Das. Selbst wenn die Etiketten stimmten, wäre dies schlimm genug. Selbst wenn das Wort »Minderbegabter« etwas Reales und Wichtiges beschriebe, anstatt nur die Diskrepanz zwischen den Resultaten zweier unter- schiedlicher Kinder bei Tests hervorzuheben (was beides nicht viel wert ist), würde es viele Arten »Minderbegabter« geben und viele Arten von »Minderleistung«. Aber viele Lehrer, die mit dieser Art der augenblicklichen Diagnose zufrieden sind, nehmen sich nicht die Zeit, tiefer Einblick zu nehmen, oder sie wissen nicht, wie sie dies tun sollen. Und so werden diese willkürlich und unbedacht verteilten Etiketten Teil des offiziellen Schulberichts der Kinder und bestimmen in hohem Maß ihre zukünftige Entwicklung. 302 All diese Fehler und Mängel innerhalb der Lehrerbildung lassen sich nicht verbessern, indem man den zukünftigen Lehrern während des Studiums einige »Unterrichtspraktika« in einer normalen Schul- klasse abverlangt. Diese Praktika bestehen zumeist darin, den ver- antwortlichen Lehrer zu beobachten und ihm bei untergeordneten Aufgaben zur Hand gehen. Nur selten, und dann auch unter Aufsicht des examinierten Lehrers, gestattet man den künftigen Lehrern, ein oder zwei eigene »Einheiten« zu unterrichten. Zu erwarten, dass irgendjemand durch solche Methoden lernt, wie man unterrichtet, ist etwa so wahrscheinlich, wie von einem Kind zu erwarten, dass es Auto fahren lernt, wenn es auf Papas Schoß sitzt und das Lenkrad festhält, während dieser steuert. Wenn ich in meiner fünften Schulstufe mitunter mit Lehramts- anwärtern zusammenarbeitete, übergab ich ihnen die gesamte Klasse. Ich verließ dazu auch den Raum, nicht ohne den Schülern vorher zu sagen, dass der Praktikant nun der Boss sei und sie seinen Anweisungen zu folgen hätten. Allerdings wussten sowohl die Kinder als auch die Lehramtsanwärter, dass in Wirklichkeit ich der Boss war. Immerhin verhängte ich die notwendigen Strafen und war darüber hinaus zuständig für die Zensuren, die wahren und wirksamsten Belohnungen oder Strafen. Ihr Schicksal als Schüler der fünften Schulstufe lag in meinen Händen, nicht in denen der Praktikanten. Ich hatte das Ruder in der Hand. Ob der reguläre »kooperative« Lehrer während dieses Unter- richtspraktikums im Klassenzimmer anwesend ist oder nicht, es wird jeweils ein Bericht gefordert, aus dem der Lehrer den jeweiligen Unterrichtablauf ersehen kann. Weil jedoch jeder Lehramtsanwärter von seinem Anleiter gute Beurteilungen benötigt, wird er in dieser kurzen Praxiszeit keine Methoden anwenden, die dem Lehrer nicht gefallen. Er wird nicht daran denken, wie er die Schüler bestmöglich unterstützen kann, sondern wie er die bestmögliche Beurteilung bekommt. Abgesehen davon erhalten Lehramtsanwärter so selten und so kurz Gelegenheit zu unterrichten, dass sie keine Möglichkeit zum Ausprobieren anderer oder verbesserter Lehrmethoden finden. Das Lehrerpraktikum ist größtenteils Augenwischerei und Täuschung. Es bietet den Studenten einen sehr kurzen Einblick in ein echtes Klassenzimmer, und ermöglicht es den Lehrerbildungsanstalten, zukünftigen Arbeitgebern gegenüber behaupten zu können, dass ihre Absolventen über »Felderfahrung« verfügen. Das ist auch schon alles. 303 Wesentlich hilfreicher wäre es, Lehramtsanwärter auf den Unter- richt im Klassenzimmer vorzubereiten, indem sie echte Klassen in echten Schulen unterrichten, und nebenbei Raum und ausreichend Zeit haben, um ihre Arbeit mit anderen neuen Lehrern zu bespre- chen, die sich in derselben Situation befinden. Mitunter (aber nicht ständig) könnten diese Gespräche auch in Gesellschaft eines ver- ständnisvollen, erfahreneren Lehrers stattfinden. Neben diesen Dis- kussionen könnten die neuen Lehrer Bücher über das Unterrichten, über Kinderpsychologie usw. lesen und diskutieren sowie nach Ideen suchen, die ihnen helfen, ihre Erfahrungen zu begreifen und ihre Lehrmethode zu verbessern. Sie würden ermutigt werden, diese Bücher kritisch zu lesen und nicht passiv. Vielleicht könnten sie auf Basis ihrer Erfahrungen, ihrer Diskussionen und ihrer Lektüre auch eigene Leitfäden und Bücher schreiben. Auf diese Weise würden uns mehr Fachbücher über Lehrmethoden im Klassenzimmer zur Verfü- gung stehen, die von Menschen geschrieben sind, die tatsächlich und erst kürzlich im Klassenzimmer gearbeitet haben. Aber selbst wenn wir die Art und Weise, wie wir Lehrer einstellen und ausbilden, verändern, werden sie beim Unterrichten in einer Pflichtschule nicht viel über das Lernen selbst erfahren. Meine eigene Arbeit als Lehrer begann auf die oben beschriebene Weise. Ich begann, ohne jede formelle Ausbildung zu unterrichten. Erst nach- dem ich schon mehrere Jahre unterrichtet hatte, las ich Bücher über Pädagogik. Ich hatte viel Zeit und Gelegenheit, um mit anderen jun- gen Lehrern über unsere jeweiligen Probleme zu sprechen, und viele dieser Gespräche mit meinem Freund und Kollegen Bill Hull wurden zum Nährboden, auf dem mein ersten Buch entstand. In meinen ersten Jahren im Klassenzimmer erfuhr ich jedoch nicht viel darüber, wie Kinder lernen, sondern wie sie sich gegen das Lernen wehren. Ich erfuhr nicht, wie sie forschen und der Welt einen Sinn entlocken, son- dern wie sie raffinierte Strategien ausheckten, um den Gefahren der Schule zu entgehen, dem Schmerz und der Scham darüber, etwas nicht zu wissen, nicht recht zu haben und nicht zu bestehen. Was ich über das echte Lernen im besten und tiefsten Sinn des Wortes lernte, stammte teils aus meiner Erfahrung als Erwachsener beim Erlernen einer Sprache, eines Musikinstruments oder einer Sportart, aber vor allem durch Beobachtung und gemeinsames Spiel mit Babys und Kleinkindern im Haus ihrer Eltern. Erst als ich allmählich begriff, unter welchen Bedingungen Menschen am besten 304 lernen, verstand ich, was im Klassenzimmer und in meinem eige- nen Unterricht schief lief. Indem ich beobachtete, wie ein menschli- ches Wesen - zum Beispiel ein Kleinkind - auf kraftvollste Art lernt, wenn es erstaunliche und stets einzigartige Entdeckungen macht und die Sprache erobert, verfügte ich über einen Maßstab, den ich mit allen anderen Lehr- und Lernerfahrungen vergleichen konnte. Es gibt keine bessere Art, menschliches Lernen zu begreifen, als die genaue Beobachtung von Babys und Kleinkindern in jenen Jah- ren, in denen sie lernen zu stehen, zu gehen und zu sprechen, und es gibt keinen besseren Beobachtungsort als ihr Zuhause, und zwar nicht als Lehrer oder distanzierter Wissenschaftler, sondern als auf- merksames, Anteil nehmendes und liebevolles Mitglied der Familie. Die Erfahrung, als ältere Schwester oder älterer Bruder in einer Fami- lie mit kleinen Kindern zu leben, wäre für all jene unendlich wertvoll, die gerne als Pädagogen arbeiten würden. Abgesehen vom eigentli- chen Unterrichten ist es die einzige Erfolg versprechende Trainings- methode . Wenn ich in die Zukunft blicke, sehe ich bereits den Tag, an dem zumindest eine bestimmte Anzahl von Lehramtsanwartern als Teil ihrer Ausbildung eine derartige Erfahrung macht. Selbstverständlich sind noch einige Probleme zu lösen. Die Familien müssten eine Bezahlung erhalten, nicht nur für die Kosten und die Mühe, einen Studenten zu beherbergen und zu verköstigen, sondern auch als faire Abgeltung für den wichtigen Dienst, den sie leisten. Ein derartiges Praktikum sollte aber nicht obligatorisch sein; es sollte nur jenen Stu- denten gestattet werden, die glauben, etwas Wichtiges lernen zu kön- nen, wenn sie bei einer Familie mit kleinen Kindern leben. Lehrer- bildungsinstitute müssten für ein derartiges Praktikum großzügig akademische Leistungsbescheinigungen erteilen. Allerdings dürften sie von den Studenten nicht zu viele Dokumentationen und Berichte verlangen, denn die Studenten sollen sich ja nicht als Reporter in der Familie aufhalten, sondern als deren Mitglieder. Sie können zudem nicht mit kleinen Kindern spielen und gleichzeitig Notizen machen. Sämtliche Pädagogikprofessoren, denen es wichtig ist, durch Stapel von Papieren zu beweisen, dass ihre Studenten etwas lernen, sollten von einem solchen Programm ausgeschlossen werden. Ich hätte nicht einmal die Hälfte aus meinen Erfahrungen im Zusammenleben mit Kleinkindfamilien gelernt, wenn man von mir gefordert hätte, darüber Berichte zu verfassen. Wenn ich etwas niederschrieb - was 305 ich oft genug tat -, dann nur, weil ich im Nachhinein erkannte, dass ich etwas so Interessantes gesehen hatte, dass ich sicher sein wollte, mich später daran erinnern und mit anderen austauschen zu können. Studenten und Familien müssten übereinkommen, in welchem Ausmaß sich die als Familienmitglieder lebenden Studenten den Familiengepflogenheiten und -ritualen anpassen müssten, bei- spielsweise hinsichtlich der zu leistenden Mitarbeit im Haushalt. Vie- len Familien würde es nicht gefallen, wenn ein Student in ihrem Zuhause etwas tut, was sie ihren eigenen Kindern nicht erlauben würden. Auch hier müssen vorab klare Regelungen getroffen werden. Es müssen also die richtigen Familien gefunden werden, die ihre Kinder selbst in höchstem Maße schätzen und ihnen vertrauen, sie respektieren und ihnen mit Vergnügen beim Lernen zusehen sowie bei Bedarf Hilfestellung leisten. Hier könnte die Homeschooling- Bewegung sehr nützlich sein für die Schulen. Menschen, die ihre Kin- der zu Hause unterrichten, oder es gerne täten, oder auch nur darü- ber nachdenken, sind mit ziemlicher Sicherheit Menschen, die ihre Kinder mit liebevollem Respekt behandeln und sie dazu ermutigen, die Welt auf ihre Weise zu erforschen. Dieses Training könnte nicht nur für Lehrer wertvoll sein, sondern auch für künftige Psychologen, Psychiater, Therapeuten, Sozial- arbeiter und andere, die mit Kindern arbeiten. Junge Leute könnten den Wunsch haben, für eine Weile eine derartige Erfahrung zu machen, um sich auf eigene Kinder vorzubereiten. Wir hören oft genug, dass es für junge Leute sinnvoll wäre, einen Kurs in »Eltern- schaft« zu absolvieren. Sechs Monate in einer Familie mit kleinen Kindern zu leben, wäre wesentlich wertvoller als jeder Kurs. 9) Während ich von Fällen weiß, wo junge Erwachsene bei Home- school-Familien lebten im Austausch gegen Hilfe beim Lernen und Beauf- sichtigung, und auch von Anthropologen und Erziehungswissenschaft- lern, die ber Homeschooling-Familien lebten, habe ich noch nie davon gehört, dass zukünftige Lehrer von den Lehrerbildungsinstituten ermutigt worden wiren, ein wenig Zeit aufzuwenden, um auf diese Weise mehr uber kleine Kinder zu erfahren. Das Internet und das wachsende Ange- bot an Homeschooling-Ressourcen sowohl auf lokaler als auch staatlicher Ebene können jedoch all jenen Studenten eine große Hilfe sein, die daran interessiert sind zu erfahren, wie Kinder außerhalb der Schule lernen.¢¢ 306 SCHLUSSFOLGERUNGEN Nachdem ich meine Ansicht darüber geäußert habe, warum es für Schulen klug wäre, Homeschooling-Familien voll und ganz zu unter- stützen, möchte ich noch zwei Dinge klarstellen. Erstens behaupte ich nicht, dass sich alle Schulprobleme schnell lösen lassen, indem die Schulen Homeschooling unterstützen. Für die gegenwärtigen Schul- probleme gibt es keine schnellen Lösungen. Die Schulen sind über viele Jahre hinweg in ihre heutige schlechte Situation gekommen, und selbst nachdem sie verstanden haben werden, wie und warum dies so geschehen ist, wird es viele Jahre dauern, das Tief zu überwinden. Zweitens betrachte ich Homeschooling nicht als Vehikel zur Lösung schulischer Probleme. Ich wünsche mir, dass Homeschooling nach und nach mithelfen kann, die Misere im Schulwesen zu überwinden. Aber die ist nicht der Grund, warum ich Homeschooling favorisiere; es ist aus sich selbst heraus eine wichtige und erstrebenswerte Idee. Nun wiederhole ich noch einmal den Gedanken, mit dem ich die- ses Buch begann: Es ist ein schwer wiegender Fehler zu glauben, Lernen sei eine vom restlichen Leben abgetrennte Aktivität, und Men- schen könnten am besten an Orten lernen, wo nichts anderes als eben das getan wird. Es ist ein ebenso großer Fehler anzunehmen, dass Unterrichten, die Hilfestellung beim Lernen sowie die Weiter- gabe von Wissen und Fähigkeiten nur von ausgewählten Spezialisten bewerkstelligt werden kann. Wenn wir das Lernen und das Unter- richten in der Schulbox verschließen, wie wir das heute tun, erhalten wir keinen wirkungsvolleren Unterricht und kein besseres Lerner- gebnis in der Gesellschaft, sondern das Gegenteil. Was die Menschen klug, neugierig, wachsam, aufmerksam, kom- petent, selbstbewusst, einfallsreich und ausdauernd macht - und damit intelligent, im besten und umfassendsten Sinn des Wortes -, ist nicht der Zugang zu mehr Lernorten, Lehrmitteln und Lehrern, sondern die Fähigkeit, in ihrem Leben eine breite Vielfalt interes- santer Dinge tun zu können, die es ihnen ermöglichen, ihre Erfin- dungsgabe, ihre Fähigkeiten und ihr Urteilsvermögen herausfordern, und die sich sichtbar auf ihr eigenes Leben und das der Menschen in ihrer Umgebung auswirken. Es ist toricht zu glauben, dass wir durch »Ausbildung« eine Gesellschaft bekommen, in der - unabhän- gig von der niedrigen Qualität der Arbeit - die Qualität des Lernens und der Intelligenz hoch bleibt. Menschen, die einen langweiligen 307 und sinnentleerten Job machen, werden jenseits dieses Jobs kaum ein aktives, interessantes und produktives Leben führen. Die Wahr- scheinlichkeit ist größer, dass sie sich vor dem Fernsehapparat auf die Couch fallen lassen und ihrem farblosen Alltagsleben entfliehen, indem sie in ein Fantasieleben flüchten und sich für eine Weile vor- stellen, so reich, schön, sexy, mächtig, fröhlich, aktiv und erfolgreich zu sein wie die Stars auf dem Bildschirm. Ich habe den Begriff »Homeschooling« verwendet, um einen Pro- zess zu beschreiben, bei dem Kinder in der Welt aufwachsen und lernen, ohne in die Schule zu gehen (oder nur ab und zu), weil sich dieser Begriff mittlerweile allgemein etabliert hat. In einem wichti- gen Sinn ist er jedoch irreführend. Das Wichtigste und Wertvollste am eigenen Zuhause als Basis für die Entwicklung der Kinder in die- ser Welt ist nicht ein Zuhause, das besser ist als die Schule, sondern dass dieses Zuhause überhaupt keine Schule ist. Es ist kein von der übrigen Welt abgeschnittener Ort, wo nichts anderes geschieht als »Lernen«. Das Zuhause ist eine natürliche, organische, zentrale, fun- damentale und menschliche Einrichtung, von der wir mit Fug und Recht behaupten können, dass sie die Grundlage für alles gesell- schaftliche Leben darstellt. Wir können uns menschliche Gesell- schaften ohne Schulen, Fabriken, Bibliotheken, Museen, Kranken- häuser, Straßen, Legislativen, Gerichte und jede andere Art von Insti- tutionen vorstellen, die in unserem modernen Leben so unverzicht- bar erscheinen. Sollten wir uns eines Tages entschließen oder dazu gezwungen sein, ohne all dies zu leben, so können wir uns jedoch keine Gesellschaft vorstellen ohne ein Zuhause, selbst wenn die- ses Zuhause nur ein Zelt, eine Holzhütte oder eine Höhle sein sollte. Damit möchte ich sagen, dass unsere vorrangigen Bildungspro- bleme nicht dadurch gelöst werden können, dass wir unser Zuhause an die Schulen angleichen. Wenn überhaupt, sollten wir dafür Sorge tragen, dass unsere Schulen weniger wie Schulen wirken. Die Aktivität, die ich in diesem Buch zu beschreiben versuchte, lässt sich besser als Freilernen bezeichnet. Wie immer man sie nennt, sie wird sich schneller, einfacher, weniger schmerzhaft und produktiver durchführen lassen, wenn die Schulen kooperationsbe- reit sind, anstatt Widerstand zu leisten. In den letzten Kapiteln wollte ich begründen, warum eine derartige Kooperation nicht einfach großzügig, sondern eher klug wäre - wie einige bereits in die Tat umgesetzte Beispiele demonstrieren. 308 Als mich John Merrow für das National Public Radio interviewte, sagte ich ihm, warum Schulen gut daran täten, Homeschooling zu unterstützen. Er fragte daraufhin: »Sind Sie nicht ein wenig naiv?« Nun, das wäre ich sicher, wenn ich glaubte, dass bereits im nächsten Jahr eine große Zahl von Schulbezirken derartige Kooperationen in die Tat umsetzen werden. Zunächst erwarte ich nicht, dass viele die- sen Weg beschreiten werden. Aber der Weg ist da für all jene, die bereit sind, ihn zu gehen. Noch ist die Liste unterstützender Schul- bezirke kurz. Aber wie die Homeschool-Bewegung selbst wird sie wei- terwachsen, weil Homeschooling sinnvoll ist und funktioniert. 9 1991 wurde auch ich von John Merrow von National Public Radio interviewt; ich gehörte zu einem Ausschuss von Fachleuten, die zusam- mengekommen waren, um über die »neue Homeschool-Bewegung« zu diskutieren. Wir waren »neu«, weil wir nunmehr Unterstützungssysteme, Anerkennung und Erfolgsstorys hatten - und weil eine ganze Generation von Homeschoolern bereits aufgewachsen und in die Arbeitswelt oder ins College eingetreten war, seit Merrow im Jahr 1981 John Holt inter- viewt hatte. Mittlerweile gibt es schon bedeutend mehr Homeschooler und kooperative Schulbezirke. Auch wenn die Liste, die wir bei Holt Asso- ciates führen, nie über zwanzig hinausging, die öffentlich als kooperati- ver Schulbezirk mit der Möglichkeit zu Homeschooling genannt werden wollten, gibt es noch viele weitere Bezirke, die auf der Liste stehen könn- ten, es aber aus verschiedenen Griinden nicht wollen. Zum Beispiel erwies sich unser eigener lokaler Schulbezirk in Medford/Massachusetts als kooperativ, indem er unseren Kindern gestattete, bestimmte Kurse der Grundschule zu besuchen. Dennoch fordert der Schulbezirk die örtlichen Immobilienmakler nicht auf, Medford als einen fiir Homeschooling auf- geschlossenen Ort anzupreisen. Wie ich schon früher erwähnte, werben Schulen 1m Staat Washing- ton aktiv um Homeschool-Familien fiir thre unabhängigen Studienpro- gramme. In Washington geht man heute in der Kooperation fast schon einen Schritt zu weit; Homeschooling wird von einigen Schulen als von der Regierung betreutes »Schule-zu-Hause«Programm angeboten, wo die Schüler als Austausch für die Freiheit auflerschulischen Lernens Lehr- bücher, Computer sowie andere Lernmaterialien und -hilfen für den häus- lichen Unterricht bekommen. Während es sogar beträchtliche und durch- aus gerechtfertigte Kontroversen hinsichtlich des Übermaßes an Koope- ration zwischen den Schulen und Homeschoolern gibt, lässt sich nicht 309 leugnen, dass dies nun zumindest an der amerikanischen Westküste zum Trend geworden ist. Sowohl die Schulen als auch die Homeschooler müs- sen Vorsicht walten lassen, wenn sie sich in diese Grauzone hineinbewe- gen, wo das Familienleben von Homeschoolern von der Schule und ihren Forderungen dominiert werden könnte, und dies, obwohl die Kinder phy- sisch nicht einmal in einer öffentlichen Schule anwesend sind. 1983 schrieb Holt für das Pädagogenjournal Phi Delta Kappan einen Artikel mit dem Titel: »Schools and Homeschoolers: A Fruitful Part- nership.« Viele seiner Gedanken aus diesem letzten Kapitel finden sich auch in diesem Essay wieder, der deutlich aufzeigt, dass es viel mehr zu gewinnen gibt, wenn öffentliche Schulen mit Homeschoolern zusam- menarbeiten, statt diese zu ignorieren oder zu bekämpfen. Zu derselben Ansicht gelangt Susannah Sheffer in ihrer Sammlung von Holts Briefen A Life Worth Living: Während der letzten Jahre seines Leben sammelte er [Holt] Material und machte Notizen für einen Ordner mit der Aufschrift »School Reform Book«. Offenbar war er immer noch überzeugt, sich zu diesem Thema äußern zu sol- len. Auch wenn er vorgeblich schon vor Jahren den Gedanken aufgegeben hatte, die Schulen zu reformieren, und sogar die bewusste Entscheidung getroffen hatte, nichts mehr verändern zu wollen, was sich nicht verändern ließe, hat er anscheinend nie die Hoffnung aufgegeben, dass die notwendigen Schritte gesetzt würden, sobald der Weg deutlich genug aufgezeigt war. Holt starb 1985. Zu früh, um noch zu sehen, wie sich die Homeschool- Bewegung so weit entwickelte, dass man ihr auf den Titelseiten von Times, Newsweek und der New York Times Platz einräumt und sie regelmäßig am Ende der Sommerferien als »Zurlick-zur-Schule«-Thema im Fernsehen auftaucht. Ich glaube, John wusste, dass die Homeschooling-Bewegung wachsen würde, ungeachtet aller Versuche seitens der Schulen und Politi- ker, sie aufzuhalten. Aber ich glaube, dass er nicht wusste, wie schnell sie in der Bevölkerung allgemein Akzeptanz finden würde. So stellte man 1985 in einer Gallup-Erhebung die Frage, ob Homeschooling für die USA gut oder schlecht sei. 73 Prozent äußerten sich ablehnend. Im September 1997 war der negative Stimmanteil auf 59 Prozent gesunken.“ Als die Meinungsforscher fragten, ob Homeschooler Zugang zu den Dienstlei- stungen der öffentlichen Schulen haben sollten - wie z.B. Förderunter- richt, Fahrunterricht oder außerschulische Aktivitäten -, reichte die Zustimmung von 72 bis 92 Prozent. Auf die Frage, ob Homeschooler »sämtliche bundesstaatlichen und nationalen Leistungstests ablegen soll- 310 ten, die auch von Schülern öffentlicher Schulen gefordert werden«, stimm- ten 92 Prozent der Befragten zu. Die Homeschooler sollten diese öffentliche Haltung beachten und mit offenen Augen an entsprechende Situationen herangehen: Wenn Homeschooler mit Schulen zusammenarbeiten wollen, werden sie wie Schulen beurteilt werden, was die Möglichkeiten für Experimente und Forschung zu Hause limitiert. Während dieses Thema öffentlich diskutiert wird und sich die wichtigsten Schattierungen zeigen, hoffe ich, dass wir das sehen werden, was John weiter vorne in diesem Buch schrieb: dass die Stärke des Homeschoolings darin liegt, sich vollständig von der öffentli- chen Schule zu unterscheiden, statt bloß eine verbesserte Version der öffentlichen Schule zu sein. Homeschooling hat sich während der letzten zwanzig Jahre ohne offene Unterstützung durch das Bildungssystem er- folgreich entwickelt; und wenn die Homeschooling-Bewegung nun in eine neue Phase steigender Akzeptanz durch die Öffentlichkeit eintritt, wie diese Umfrage aufzeigt, muss die Homeschooling-Bewegung bedeutend klügere Entscheidungen treffen, vor allem im Hinblick auf den gewaltigen Vorteil, wenn die Schulen mit ihr kooperieren, statt sie zu bestimmen. Zudem verpackten die Meinungsforscher ihre Fragen so, als wäre Homeschooling lediglich eine andere Form von öffentlicher Schulbil- dung, was zu beträchtlicher Verwirrung führt. Indem die Meinungsfor- scher nicht darauf verwiesen, dass Homeschooling in vielen Staaten nach den Regelungen von Privatschulen betrieben wird, und somit von bun- desstaatlichen und nationalen Lehrplänen und Tests ausgenommen sind, setzten sich diese Meinungsforscher über wichtige Themen einfach hin- weg. Zum Beispiel wurde bereits vielfach dokumentiert, dass Privatschu- len und Homeschooling großartige Leistungen erbringen, obwohl die Jugendlichen keine nationalen Tests ablegen und eine breite Palette von Lehrplänen, Methoden und Philosophien zur Anwendung kommt. Dies ist ein essenzieller Punkt, der vollkommen untergeht in den Gesprächen über hohe Standards, Tests und Nachweise. Wie Holt gegen Ende dieses Buches so gut hervorhebt, ist Ausbildung nicht alles. Der verstorbene bri- tische Komiker Spike Milligan sagte es so: »Ausbildung ist nicht alles. Zunächst einmal 1st sie kein Elefant.« Unsere Kinder vermuten, dass die Schule nicht so wichtig ist für ihre Zukunft, wie die Behörden behaupten, und dass Erfolg wesentlich stär- ker von anderen Faktoren abhängt als von Testergebnissen. Wie schon zuvor in diesem Buch angemerkt, hat sich dadurch Ernüchterung breit- gemacht. So wie sich in Japan Kinder einfach weigern, zur Schule zu 311 gehen, tun dies auch Kinder in den USA, und zwar ungeachtet des gesell- schaftlichen Drucks, in der Schule gute Leistungen zu erbringen. John Amos Comenius (1592-1670) wird aufgrund seiner Arbeit als »Vater der modernen Pädagogik« bezeichnet. Er versuchte schon damals, die Schule an die Kinder anzupassen und sie somit für die Kinder inter- essant zu machen (wird sich eine solche Reform je durchsetzen?). Sein Motto lautete: »Die vollständige Kunst, alle Menschen alles perfekt zu lehren.« Im 17. Jahrhundert, als nur wenige Menschen lesen konnten und das menschliche Wissen begrenzt erschien, könnte dies vernünftig geklun- gen haben. In unserer heutigen Welt, in der das, was wir wissen und nicht wissen, jedes Mal zunimmt, wenn im Internet eine neue Homepage ein- gestellt, ein neues Buch veröffentlicht, eine neue Spezies entdeckt oder eine alte ausgelöscht wird, oder wenn neue Bilder eines Forschungssatel- liten unseren Planeten erreichen, erscheint diese Vision etwas weit herge- holt. Dennoch halten unsere Schulen an Comenius’ Ansicht unbeirrt fest. Homeschooler erschaffen ein neues Ethos für Bildung: »Alles zu ler- nen, was ich zu einem bestimmten Zeitpunkt brauche und wünsche.« Wie John Holt und ich in diesem Buch aufzuzeigen versuchen, schließt diese Haltung hohe Standards, gute Beurteilungen und Unterstützung durch Erwachsene nicht aus. Allerdings setzt sie den einzelnen Lernenden in eine neue Beziehung zu diesen Elementen. Diese neue Beziehung basiert auf dem persönlichen Einsatz beim Lernen, nützlichem Feedback und Geduld. Wie ich zu Beginn dieses Buches sagte, ist es möglich, Fuß- ballspieler und Pferde mit Erniedrigung und Strafe zu trainieren, aber bes- ser geht es ohne diese Techniken. Und die Vorteile eines körperlich und emotional weniger schmerzvollen Lernprozesses wirken sich langfristig nicht nur günstig auf das Individuum aus, sondern auf die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Ungeachtet der bedeutenden Leistungen in ihren Fachgebieten wer- den Lehrer wie John Holt, John Gagliardi und Monty Roberts von unse- ren heutigen Bildungspolitikern und Schulexperten oft als »nachgiebig« bezeichnet. Im Gegensatz zu diesen drei Lehrerpersönlichkeiten hat unsere heutige Bildungspolitik nur wenig Freundlichkeit und Geduld zu bieten und zieht Zuckerbrot und Peitsche vor. Doch wie Holt und viele andere Lehrer, Eltern und Bildungsforscher bemerkt haben, bringt die heutige Pädagogik bei den meisten Studenten nur ein höchst oberfläch- liches Verständnis für die Lehrinhalte hervor. Frei nach Holt besteht in dieser Pädagogik der Unterschied zwischen einem guten und einem 312 schlechten Schüler nur darin, dass der gute Schüler darauf achtet, sich das Gelernte so lange zu merken, bis der Test vorüber ist. In seinem ersten und bekanntesten Buch Aus schlauen Kindern werden Schüler - Von dem, was in der Schule verlernt wird erklärte Holt detailliert, wie wahres Lernen - jenes Lernen, das länger anhält als bis zu einem bestimmten Test und das wir ein Leben lang nutzen und ausbauen - durch Angst gehemmt wird. Dennoch erhöhen wir die Versagensangst in unseren Schu- len, weil wir es für das beste Mittel halten, »gute Bürger« hervorzubrin- gen, was der wichtigste rechtliche Grund ist, warum die Gesellschaft Kin- der zum Schulbesuch zwingt. Homeschooler beweisen jedoch, dass gute Bürger auch außerhalb der Schule und auf unterschiedlichste Weisen, die von den Schulen abgelehnt werden, heranwachsen können. Unabhängig von der Art der Ausbildung gibt es keine Garantie, dass jemand tatsächlich etwas gelernt hat, auch wenn er Tests bestanden und Diplome erworben hat. Erwachsene verlangen fortwährend von Kindern, Daten abzuspeichern, die ihnen im Moment nichts nützen, was die Kluft zwischen schulischem Lernen und echtem Leben nur vergrößert und die Glaubwürdigkeit verringert. In einem häufig wiederholten psychologi- schen Experiment hat man beispielsweise die »Bill of Rights« [zehn Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten] ohne eben diese Überschrift an Passanten ausgehändigt und sie gebeten, dieses Doku- ment zu unterzeichnen, was die meisten Erwachsenen ablehnten, weil es ihnen zu gefährlich erschien. Vor wenigen Jahren sorgte ein Dokumen- tarfilm mit dem Titel A Private Universe für Aufregung: Der Film zeigt einen Reporter, der frisch gebackene Absolventen der Harvard-Univer- sität fragt, ob sie ihm erklären können, warum es auf der Erde verschie- dene Jahreszeiten gibt; keiner der Befragten konnte dies zufriedenstel- lend erklären. Aus einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 1993 ging hervor, dass jeder siebte Erwachsene die USA auf einer physikalischen Landkarte nicht identifizieren konnte. Jeder Vierte wusste nicht, wo der Pazifik liegt. Vor kurzem absolvierte ein Redakteur des Boston Globe die neue staat- liche High-School-Abschlussprüfung MCAS; er schaffte den sprachli- chen Teil, fiel jedoch in Mathematik durch. Daraus folgerte er, dass die Prüfung gerecht sei, weil er seit langem wüsste, dass er schlecht in Mathe- matik sei. Allerdings erwähnte er nicht, dass er niemals ohne High- School-Abschluss Redakteur beim Boston Globe geworden wäre, oder dass thn seine mangelnden Mathematikkenntnisse in keiner Weise daran hinderten, ein fähiger Autor und »guter Bürger« zu sein. Die Annahme, dass man nur durch die erfolgreiche Ablegung einer Reihe von Prüfun- 313 gen ein guter Bürger oder ein umfassend gebildetes Individuum wird, ist falsch. Während der Staat unbedingt sicherstellen möchte, dass alle Kinder eine Ausbildung erhalten, ist es ihm durch die Verfassung untersagt, den Kindern eine bestimmte Ausbildungsform aufzuzwingen. Er muss somit Alternativen zur Schule zulassen, in der Bandbreite von privaten Schulen bis hin zu freiem Lernen ohne Schule. Die Art der Bildung verändert jedoch das Selbstverständnis von Bürgern ohne große Diskussion. In einem unveröffentlichten Gespräch mit Studenten im Jahr 1971 bemerkte John Holt: Thomas Jefferson betrachtete Ausbildung als notwendiges Hilfsmittel, um das zu werden, was er als Bürger bezeichnete. Unter dem Begriff »Bürger« verstand er jedoch nicht das, was wir heute als »Steuerzahler« oder »Konsumenten« bezeichnen. Ein Bürger zeichnete sich dadurch aus, dass er sich Gedanken darüber machte, wie er sich »in die Gesellschaft einfügt«. Er war der Schöpfer und Former der Gesellschaft. Er nahm den höchsten Rang in der Republik ein; die öffentlich Bediensteten waren seine Bediensteten, nicht seine Bosse und Herrscher. Heute wird ein Bürger nur noch als »angestellter Konsument« betrachtet. So ist es auch bei Bildungspolitikern beliebt, Kinder als »Ressourcen« zu bezeichnen, die entwickelt werden müssen, statt sie als Individuen zu betrachten, die gefördert werden wollen. Es 1st auch schwierig sich vor- zustellen, wie Schüler und Lehrer zu Bürgern werden sollen, welche »die Gesellschaft schaffen und formen«, wenn so viel Zeit dafür aufgewendet wird, die Kinder so zu »formen«, dass sie den Anforderungen von zwölf oder mehr Jahren Schulbesuch entsprechen. Wie Ivan Illich hervorhob, war Comenius auch Alchemist. Seine Suche nach dem Stein der Weisen, dem Geheimnis, das Blei in Gold ver- wandeln würde, wird heute als aussichtloses Streben betrachtet. Dennoch hielt diese Suche über Jahrhunderte an und reizte Tausende mit ihrem Ver- sprechen. Dasselbe gilt für Comenius’ Traum von der »vollständigen Kunst, alle Menschen alles perfekt zu lehren«, zu dem auch viele der besten Denker in Politik und Wissenschaft verleitet werden. Es ist eine Illusion, eine nationale Identität zu formen, die auf der erzwungenen Erfahrung basiert, um Zensuren zu wetteifern und dieselben Dinge zur selben Zeit und in derselben Weise zu lernen. Wie Holt in seinen bisher veröffentlichten Büchern betonte, ist diese Vision von Ausbildung keine zunächst gute Idee, die sich zu einer schlechten entwickelt hat, sondern 314 eine von Anfang an verrückte. Wir lernen in unterschiedlicher Geschwin- digkeit, auf unterschiedliche Art und aus unterschiedlichen Gründen. Ebenso unzutreffend wäre die Behauptung, es wäre unerheblich, ob ein Schüler eine Pflichtschule in Beverly Hills (Kalifornien) besucht oder in der New Yorker Bronx! Um eine nationale Identität zu erschaffen, gibt es andere gemein- same Erfahrungen und Projekte, die wir hervorheben und verwenden können, anstelle unserer heutigen, aufgrund unserer Ausbildung ungleich verteilten Möglichkeiten. Wir könnten argumentieren, Fernsehen, Inter- net und andere Massenmedien hätten unseren Schulen die Rolle des Schöpfers einer nationalen Identität entrissen. Ich tröste mich jedoch mit vielen mir bekannten Familien, die den Einfluss der Massenmedien in ihrem Leben reduziert haben und sich bemühen, ihre Kinder auch so zu guten Bürgern zu erziehen. Mir sind etliche Familien bekannt, wo Eltern und Kinder gemeinsam gesellschaftspolitisch und kulturell aktiv sind. Ich kenne Maler, Keramiker, Bühnendichter, Schriftsteller, Poeten, Musiker und andere Künstler, die Kindern gestatten, sie bei ihrem schöp- ferischen Tun zu beobachten; einige wirken sogar als Tutoren und bezie- hen Kinder direkt in kreative Aktionen ein. Es gibt Bauunternehmer, Elektriker, Rechtsanwälte, Geistliche, Bibliothekare, Professoren und viele andere Berufstätige, die ihre Kinder mit zur Arbeit nehmen, und zwar nicht, weil sie für einen bestimmten Tag keine Kinderbetreuung gefun- den haben, sondern um zur Bildung ihrer Kinder beizutragen. Man könnte mehr Gelegenheiten schaffen, wo Erwachsene und Kinder eine gemeinsame Arbeit ausführen und über ihr Leben sprechen, oder wo sie auf ihre Weise forschen und spielen können, ohne direkte Kontrolle all ihrer Interaktionen durch Erwachsene (jedoch mit der ständigen Mög- lichkeit, Hilfe von Erwachsenen anzufordern). Dies sind nur einige Mög- lichkeiten, wie wir unser Leben auch außerhalb der Schule miteinander gestalten können. Während die Homeschooling-Bewegung in den letzten zwanzig Jah- ren stark gewachsen ist und immer mehr Einfluss auf die Öffentlichkeit hat, scheinen die meisten Schulbehörden noch immer entschlossen zu sein, sie zu bekämpfen oder zu ignorieren. Die National Education Asso- ciation, die Parent Teacher Association und die National Association of Elementary School Principals stellen sich auch weiterhin 6ffentlich gegen Homeschooling, wie sie es seit Jahren tun. Allerdings halten sie nicht Schritt mit der öffentlichen Meinung, den sich verändernden Technolo- gien, Familien- und Arbeitsmodellen, und auch nicht mit den umfang- 315 reichen und hervorragenden Forschungsarbeiten, welche die typischen Unterrichts- und Lehrmethoden in den Schulen in Frage stellen. Zum Glück müssen Sie nicht darauf warten, dass sich diese Organisationen oder die Schulen verändern, um ihr Kind heute beim Lernen zu beglei- ten: Sie können Ihrem Kind ermöglichen, eigenständig und auch ohne Schule zu lernen. ¢¢ 316 Anmerkungen 1 Ross Atkin, »Unorthodox Coach Gets Results.« The Christian Science Monitor, 23. September, 1994, S. 13. 2 Monty Roberts, Der mit den Pferden spricht. Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 1997, S. 87-88. 3 Susannah Sheffer, A Life Worth Living: Selected Letters of John Holt. (Columbus: The Ohio State University Press, 1990) S. 55. 4 S. Bielick, K. Chandler und S. P. Broughman. Homeschooling in the Uni- ted States: 1999 (NCES 2001-033). 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August 2001. 12 Boston Globe, 24. November 2001, Editorialseite. 13 The Shell Poll, Band 1, Thema 4, Sommer 1999, S. 1. 14 The Wakefield Observer, 3. August 2001, S. 1. 15 Greg Toppo, »NEA Offers Homicide Insurance«. Associated Press, 11. Januar 2002. 16 2008 wurden etwa 4 Prozent aller Kinder in den USA zu Hause unter- richtet, und ihre Zahl wachst standig weiter. Dies deutet darauf hin, dass immer mehr Eltern daran glauben, dass Kinder imstande sind, ohne Zwang von außen zu lernen. 317 17 U.S. Department of Justice, Office of Juvenile Justice and Delinquency Prevention, Juvenile Justice Bulletin, September 2001, S. 2. 18 GWS 97, Januar/Februar 1994, S. 30-31. 19 Boston Globe, 7. Januar 2002, S. B12. 20 Northeastern University Center of Labor Market Studies, veröffentlicht im Boston Globe, 20. Dezember 2001, S. 1. 21 Rebecca Smithers, »Poor A-Levels Leads Family to Sue.« The Guardian, 2. Oktober 2001, www.guardian.co.uk/Archive. 22 John Holt, What Do | Do Monday?, Portsmouth, NH: Heinemann, 1995, SS. 223-224 23 Rosalind S. Helderma, »Home-Schooled Away from Home: Parents Form Academies to Support One Another«, Washington Post, 26. Marz 2002, S. BO1 24 Susannah Sheffer, A Life Worth Living: Selected Letters of John Holt (Columbus: The Ohio State University Press, 1990), S. 10-11. 25 »The 31st Annual Phi Delta Kappa/Gallup Poll of the Public's Attitudes toward the Public Schools.« Phi Delta Kappan 81, 1. September 1999, S. 41-56. 318 ANHANG Für die deutsche Ausgabe des Buches wurde der Anhang überarbeitet und teil- weise völlig neu gestaltet. Wir möchten hier vor allem auf die für Homeschoo- ling in Deutschland und Europa relevanten Publikationen und Organisationen hinweisen. Für die deutsche Ausgabe wurde die Liste daher um die für Deutsch- land und Europa relevanten Publikationen ergänzt und auf spezielle Informatio- nen, die für Homeschooling in den USA wichtig sind, verzichtet; diese können aber beim Verlag angefordert werden. DIE HERAUSGEBER Anhang A Ausgewählte Bibliographie Soweit auf Deutsch erschienen, ist der deutsche Titel aufgeführt (Originaltitel in Klammern). In Ausnahmefällen wurde eine adäquate Veröffentlichung des Autors in deutscher Sprache aufgeführt. Bildung und Gesellschaft Appleton, Matthew (2001): Summerhill - Kindern ihre Kindheit zurückgeben: Demokratie und Selbstregulation in der Erziehung. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. (A Free Range Childhood: Self-Regulation at Summerhill School) Arons, Stephen (1986). Compelling Relief: The Culture of American Schooling. University of Massachusetts Press. Axline, Virginia (1990): Dibs: Die wunderbare Entfaltung des menschlichen Wesens. Bern/Munchen: Scherz. 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Leipzig: Tologo. www.tologo.de/natuerlich-lernen 327 ANHANG B Fernschulen für den deutschsprachigen Raum Clonlara Schule Deutschland Dachauer Straße 37, 80335 München Tel.: 089 / 23513608 www.clonlara.de Deutschsprachiges Programm der Clonlara School. Unterstutzung fur Homeschooling-Familien. Deutsche Fernschule e. V. Frankfurter Str. 69, 35578 Wetzlar Tel.: 06441 / 921892 df@deutsche-fernschule.de - www.deutsche-fernschule.de Christlich geprägt, Unterstützung deutscher Familien im Ausland. Staatlich anerkannt. Flex-Fernschule Christophorus-Jugendwerk, 79206 Breisach-Oberrimsingen Tel.: 07664 / 50540 - www.flex-fernschule.de Vorbereitung auf Haupt- und Realschulabschlüsse. IIS - Institut für Lernsysteme GmbH Doberaner Weg 20, 22143 Hamburg Tel.: 040 / 67570 177 - www.ils.de Schulabschlüsse, Lehrgänge, Weiterbildung im Fernstudium. Philadelphia-Schule. Freies christliches Heimschulwerk. Grabettstr. 48, 57080 Siegen Tel.: 0271 / 387431 - www.philadelphia-schule.de Christlich geprägte Fernschule, Unterrichtshilfen. Web-Individualschule Bochum Hermannshöhe 7c, D-44789 Bochum Tel.: 0234 / 29879962 | www.web-individualschule.de Lernmaterialien, Vorbereitung auf Haupt- und Realschulabschluss. 328 ANHANG C Homeschooling-Organisationen und Web-Links Deutschland: Netzwerk Bildungsfreiheit, ein Zusammenschluss mehrerer nationaler und internationaler Organisationen, Vereine und Wissenschaftler gegen den in Deutschland noch immer praktizierten Schul(besuchs)zwang: www.netzwerk-bildungsfreiheit.de Informationsportal fur Schuler, Eltern und Lehrer: www.bildunginfreiheit.de Lernen ist Leben, Bundesverband Natürlich Lernen! e.V.: www.bvnl.de Schulbildung in Familieninitiative e.V.: Der bundesweit agierende Verein ver- folgt satzungsgemaf zwei Hauptzwecke: Die Förderung ausgewählter Pro- jekte schulfreier Schulbildung in Initiative von Familiengemeinschaften und daneben entsprechende Offentlichkeitsarbeit in jeder Form. (www.sfev.de) Selbsthilfegruppe »Bildungsinitiative Zukunft« www.bi-z.de Bildung und Erziehung in Familien: Ein Zusammenschluss von Homeschool- familien aus Baden-Wurttemberg: www.homeschool.de Schulunterricht zu Hause e.V. Rechtshilfeorganisation fur die Anerkennung von Homeschooling in Deutschland, unterstützt von HSLDA (Homeschooling Legal Defense Association, USA, ca. 80 000 Mitglieder): www.schuzh.de Homeschooling in Deutschland: Das wohl umfangreichste Informationsportal fur Homeschooling in deutscher Sprache. Alle Aspekte rund um schulfreie, subjektbestimmte Bildung im Schulalter, auch im weltweiten Vergleich, werden beleuchtet. Dabei wird der international gebrauchliche Begriff »Homeschooling« verwendet, der auf diesen Seiten alle Formen der Schul- bildung ohne regelrechten Schulbesuch meint und zu vereinen sucht. (www.homeschooling.de) Lernen in Freiheit: www.herrschaftsfrei-lernen.de.vu Initiative deutscher Hausschulfamilien: www.hausunterricht.org Deutsche Fernschule www.deutsche-fernschule.de FFH - Families for Homeschooling. Europäische Vereinigung zur Unterstützung deutscher Familien: www.ffh-europ-verein.eu 329 Europa Europäisches Forum für Bildungsfreiheit (effe): www.effe-eu.org Clonlara Europa: www.clonlara.eu European Democratic Education Community www.eudec.org Learning Freely Networks: www.learningfreely.net Belgien - Area Christian Homeschooling Group: http://www.freewebs.com/shapehomeschool Danemark: - Hlemmeundervisning: www.hjemmeundervisning.dk Frankreich: - Les enfants d’ abord: www.lesenfantsdabord.org (auch Englisch) Großbritannien: - Learning Unlimited: www.learning-unlimited.org - Home Education www.home-education.org.uk - Home Service: www.home-service.org - The Otherwise Club www.education-otherwise.org - Home Education Advisory Service: www.heas.org.uk Holland: - www.lereninvrijheid.nl - Nederlandse Vereniging voor Thuisonderwijs: www.nvvto.nl Irland: - Das irische Home Education Networks: www.henireland.org Italien: -http://groups.msn.com/HomeschoolingFamiliesinitaly Norwegen: - Hlemme Undervisningen: home.online.no/~hunwww Osterreich: - Netzwerk fur Hausunterricht: www.unsereschulen.at Schweiz: - Bildung zu Hause Schweiz e.V: www.bildungzuhause.ch - Home Education Network of Geneva: www.heng.nyonweb.ch Spanien: - Asociacion para la Libre Educacion, Spanien: www.educacionlibre.org Tschechien: -Uckme se doma: www.volny.cz/domvzd Ungarn: - http://otthonoktatas.lap.hu 330 International American Homeschool Association (AHA): www.americanhomeschoolassociation.org (USA) Home School Legal Defense Association: www.hslda.org (USA) National Home Education Research Institute: www.nheri.org (USA) National Home Education Network: www.nhen.org (USA) Home Education Association Inc. www.hea.asn.au (Australien) The Canadian Homeschool Resource Page: www.flora.org/homeschool.ca (Kanada) Andere Organisationen Die folgenden Organisationen und ihre Publikationen, deren Themen Bildung und Erziehung sind, konnen Ihnen ggf. eine Hilfe sein. Bundesverband Freier Alternativschulen e.V. Brandenburger Str. 5, 34131 Kassel Tel.: 0561 / 3161778 - www.freie-alternativschulen.de La Leche Liga Deutschland e.V. Gesellenweg 13, 32427 Minden Telefon: 0571 / 48946 - www.lalecheliga.de Deutschsprachiges Liedloff-Continuum-Netzwerk: www.continuum-concept.de Kratz. Die KinderRAchTsZAnker, Berlin: http://www.kraetzae.de Internationale Akademie fur innovative Padagogik, Psychologie und Okonomie gGmbH der FU Berlin, Prof. Dr. Manfred Liebel www.ina.fu-berlin.de Sudbury-Schulen in Deutschland: www.sudbury.de Institut für Bildungsforschung und Bildungsrecht e.V. Prof. Dr. Frank-Rudiger Jach, Verfassungsrechtler Salzweg 22, 30952 Ronnenberg Tel.: 05109 / 516261 - www.institut-ifbb.de Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, Transferzentrum fur Neurowissenschaften und Lernen, Universitat Ulm Vera F. Birkenbihl, Institut fur gehirn-gerechtes Arbeiten: www.birkenbihl-insider.de Kinder haben Rechte e.V. - Bremen: www.kinderrechte.de Familie ist Zukunft e.V. - www.familie-ist-zukunft.de Freinet-Kooperative e.V. - www.freinet-kooperative.de Montessori-Dachverband Deutschland :www.montessori-deutschland.de Bund der freien Waldorfschulen: www.waldorfschule.info Lernen ohne Angst e.V.: www.lernen-ohne-angst.de Institut fur Wertwirtschaft: www.wertewirtschaft.org 331 Englischsprachig Open Connections: Freedom to learn and create: www.openconnections.org Aware Parenting Institute: www.awareparenting.com Coalition for Self Learning: http://www.creatinglearningcommunities.org/ The Alternative Education Resource Organization AERO. Jerry Mintz: www.educationrevolution.org The Teacher’ s Web: www.teacherweb.com Home Schooling (Methods, Planning, Resources, Organisations): www.myhomeschoolingweb.com Homeschool World: www.home-school.com Resources for Christian Homeschooling Families: www.titus2.com ePals - die weltweit größte Online-Klassengemeinschaft: www.epals.com Weitere Informationen im Internet Heutzutage treffen Homeschooler-Familien vor allem uber das Internet auf Gleichgesinnte. In einschlägigen Foren, auf verschiedenen Blogs und in Mailinglisten werden alle moglichen Aspekte des Homeschooling diskutiert. Unsere Auswahl kann da nur Anregungen geben: Informationsportal Bildungsfreiheit: www.bildunginfreiheit.de Informationszentrum Leben ohne Schule: www.leben-ohne-schule.de www.homeschooling.de www.netzwerk-bildungsfreiheit.de www.menschenskinder2000.de www.unerzogen.de www.bildungsfreiheit.org www.diefreilerner.eu BLOGS http://bildungsfreiheit.worldpress.com Ubersicht: http://mehr-ohne-schule.blogspot.com 332 ANHANG D Lernmaterialien Die nachstehende Auflistung basiert auf den von Stefanie Mohsennia für die Clonlara Schule Deutschland zusammengestellten Empfehlungen für Kinder und Jugendliche. Ergänzt für dieses Buch von Luise Fuchs. Einige Buchemp- fehlungen basieren auch auf den Hinweisen in Grace Llewellyns Teenager- Befreiungshandbuch bzw. deren Bearbeitung und Ergänzung von Richard Krutisch (siehe auch seine Seite www.polyhistoricum.de). Diese Liste erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll nur mögliche Ein- stiegswege aufzeigen. Jüngere Kinder Allgemein - Der Kinderbrockhaus - Löwenzahn Kinderlexikon - Mein großes Buch des Wissens Einstieg ins Lesen und Schreiben - Robischon, Rolf: Ich kann schreiben und lesen - Peikert, Marlit: Spielabenteuer mit Jim Knopf Ansonsten einfach drauflos schreiben lassen (Einkaufslisten, Notizen, Straf- zettel, usw.), mit Wörtern spielen, viel vorlesen und selber lesen lassen, woran das Kind Spaß hat. Lektüre für Kinder ab 5 Berg, Christian: Tamino Pinguin Bond, Michael: Ein Bär mit Namen Paddington Brender, Irmela: War mal ein Lama in Alabama Ende, Michael: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer Fuchs, Thomas: Der Vogel Kakapo Kaut, Ellis: Meister Eder und sein Pumuckl Kruse, Max: Geschichten vom Urmel Langen, Annette: Briefe von Felix / Neue Briefe von Felix / Abenteuerliche Briefe von Felix 333 Lindgren, Astrid: Die Kinder aus Bullerbü, Gesamtausgabe Lindgren, Astrid: Die Kinder aus der Krachmacherstrasse Lobel, Arnold: Das große Buch von Frosch und Kröte Maar, Paul: Das kleine Känguru und seine Freunde Merz, Christine: Das große Buch von Lea Wirbelwind Milne, Alan Alexander: Pu der Bär Nordqvist, Sven: Aufruhr im Gemüsebeet / Eine Geburtstagstorte für die Katze / Wie Findus zu Pettersson kam Pfister, Marcus: Mats und die Streifenmäuse Pfister, Marcus: Mats und die Wundersteine Preußler, Otfried: Hörbe mit dem großen Hut Timm, Uwe: Die Zugmaus Ullrich, Hortense: Leanders Mutprobe Lektüre für Kinder ab 8 Avi: /m Düsterwald /Im Bau der Füchse / Im finstren Biberbau / Im Dschungel der Großstadt Biermann, Franziska: Herr Fuchs mag Bücher ! Blacker, Terence: Zauberhafte Miss Wiss Boie, Kirsten: Sommer im Mowenweg Broger, Achim: Mein 24. Dezember + Hörbuch Chidolue, Dagmar: Millie in New York Degre, Tippi: Tippi aus Afrika DelLaFontaine, Jean: Fabeln Dillner, Sabine: Der schönste Sommer von allen Ebbertz, Martin: Der kleine Herr Jaromir Funke, Cornelia: Emma und der blaue Dschinn Funke, Cornelia: Greta und Eule, Hundesitter + Horbuch Gelberg, Hans-Joachim: Großer Ozean Guggenmos, Josef: Was denkt die Maus am Donnerstag? Hartling, Peter: Das war der Hirbel Hauff, Wilhelm: Kalif Storch Heidenreich, Elke: Nero Corleone + Horbuch Heine, Helme: Freunde Jansson, Tove: Die Mumins, Eine drollige Gesellschaft Kastner, Erich: Das doppelte Lottchen / Die Konferenz der Tiere / Die Schildburger / Till Eulenspiegel Kindermann, Barbara: Faust - nach Johann Wolfgang von Goethe / Gotz von Berlichingen - nach Johann Wolfgang von Goethe / Kleider machen Leute - nach G. Keller / Nathan der Weise / Romeo und Julia - nach Shakespeare / Wilhelm Tell Kruse, Max: Der Lowe ist los Leffler, Silke: Das Fabelbuch von Aesop bis heute Lindgren, Astrid: Ferien auf Saltkrokan / Mio, mein Mio / Pippi Langstrumpf 334 Moser, Erwin: Ein Käfer wie ich Nilsson, Per: Für immer Milena Osborne, Mary Pope: Das magische Baumhaus Pearson, Maggie: Geschichten aus Nah und Fern Preußler, Otfried: Die kleine Hexe/ Der kleine Wassermann / Räuber Hotzenplotz Schwarz, Annelies: Meine Oma lebt in Afrika Smola, Hedwig: Märchen aus Tausendundeiner Nacht Spyri, Johanna: Heidi, Lehr- und Wanderjahre Wölfel, Ursula: Fliegender Stern Englisch Dralle, Annette: PONS Express Wörterbuch Englisch Simpson, Stuart: Nessie, Englisch für Kinder Weinhold, Angela: /ch lerne Englisch Wilkes, Angela: Meine ersten Wörter und Sätze, Englisch PONS: Englisch - Ein Kinderspiel Rudolph, Annet: Englisch lernen mit Nick und Nelly Richardson, Karen: Zebra Toast on Monday Harvey, Ken: Fliegend Englisch lernen Richardson, Karen: Feste feiern - Englisch lernen Rosenbaum, Monika: Pickadill & Poppadom Schultze, Miriam: Didgeridoo und Känguru QO’ Sullivan, Jean: PONS Singlish, Englisch durch Kinderlieder Casimir, Roswitha: Schone englische Kinderlieder, mit CD Jocker, Detlev: Start English with a Song, mit CD | Englisch Lesen und Horen Hargreaves, Roger: Mr. Happy Finds a Hobby Wormell, Chris: The animal train Brown, Ken: The scarecrow’s hat Amery, Heather: Farmyard Tales Thomas, Patricia: Stand back, said the elephant, ... Numeroff, Laurea Joffe: If you give a mouse a cookie big book Cooke, Trish: So much de Beer, Hans: Little Polar Bear Finds a Friend Pfister, Marcus: Milo and the Mysterious Island Pfister, Marcus: Milo and the Magical Stones Langen, Annette: Letters from Felix: A Little Rabbit on a World Tour with Envelope Felix Explores Planet Earth / Felix Travels Back in Time Kimmel, Eric A.: Anansi Goes Fishing Lobel, Arnold: Frog and Toad Are Friends Brisley, Joyce Lankester: Milly-Molly-Mandy Stories Osborne, Mary Pope: Dinosaurs Before Dark 335 Mathematik * Anregungen für Eltern: Wunderlich, Gabriele: Wo Kinder rechnen lernen Bares, Hannelore: Zeit erfahren, strukturieren und messen * für Kinder: Dahl, Kristin: Wollen wir Mathe spielen? Hille, Astrid: Wie viel ist viel? / Wohin läuft die Zeit? Mathematik bärenstark, 1. - bis 4. Schuljahr Hatt, Werner: Ruck-Zuck! Mathetraining, EURO, 1. - 3. Schuljahr Grabis, Bettina: Pettersson und Findus, Erstes Rechnen ... Krick, Manfred: Logico Trainer, Übungsbücher Vogel, Heinz: mini LÜK, Übungshefte Naturwissenschaften (Biologie, Astronomie, etc.) Biermann, Christoph: Christophs Experimente Sagnier, Christine: Wissenschaften Mallett, Dagmar: Entdeckungsreise mit Fleurus durch die Wissenschaften Dutilleul, Helene: Entdeckungsreise mit Fleurus in die Natur Der Kinder-Brockhaus Tiere Das große Tierlexikon Clausen, Marion: Apfelbaum und Weidentraum Björk, Christina: Linnea und die schnellste Bohne der Stadt Bull, Jane: Gärtnern für Kids Bergmann, Heide: Mein kleiner bunter Garten VanCleave, Janice: Eine Reise in deinen Körper Ich und mein Körper Bridgman, Roger: 1000 Erfindungen & Entdeckungen Köthe, Rainer: Tessloffs superschlaues Antwortbuch Wissenschaft im Alltag Beaumont, Emilie: Magica. Ägypten: Unsere wunderbare Welt Ernährung und Kochen Russelmann, Anna: Neues aus dem Bahnhof Bauch Schurmann-Mock, Iris: Kinderküche spitzenmäßig Kreider-Stempfle, Ruth: Keks und Krümel Technik Schweikart, Eva: Technik - Von der Entdeckung des Feuers bis zur computer- gestützten Fertigung Gießler, Max: Das Ravensburger Techniklexikon von A -Z Macaulay, David: Das dicke Mammutbuch der Technik Biesty, Stephen: Das Superbuch der technischen Wunderwerke 336 Arbeitswelt und Wirtschaft Hillmann, Peter: Mein erstes Berufe-Lexikon von A bis Z Goder, Annette: Wir machen Schlagzeilen! Schultze, Miriam: Moneten, Kohle, Kies und Schotter Erdkunde Zahn, Ulf: Der Diercke Deutschlandatlas für Kinder DeLuca, Daniela: Meyers bunter Weltatlas für Kinder Arthus-Bertrand, Yann: Die Erde von oben, für Kinder erzählt Köthe, Rainer: Tessloffs superschlaues Antwortbuch - Erde und Weltall Adams, Simon: Tessloffs erstes Buch vom Wetter Kindersley, Barnabas: Kinder aus aller Welt Mason, Anthony: Kinder rund um die Welt Rau, Christina: Kinder dieser Welt Laffon, Martine: Kinder in den Kulturen der Welt Ommer, Uwe: Familien - Kinder aus aller Welt erzählen von zuhause Budde, Pit: Santa, Sinter, Joulupukki, mit CD Lenz, Angelika: Die Reisemaus in Spanien Geschichte Joly, Dominique: Frühe Kulturen Connolly, Peter: Die alten Griechen Connolly, Peter: Die alten Römer Biesty, Stephen: Rom Beaumont, Emilie: Magica, Unsere wunderbare Welt, Mittelalter Nordqvist, Sven: Die Leute von Birka Rias-Bucher, Barbara: Feste & Bräuche Religion Schwikart, Georg: Gott hat viele Namen Brown, Alan: Woran wir glauben Marchon, Benoit: Gibt’ s bei euch auch Ostern und Weihnachten? Kunst Partsch, Susanna: Haus der Kunst D’ Harcourt, Claire: Ich sehe was, was Du nicht siehst Heller, Eva: Die wahre Geschichte von allen Farben Wierz, Jakobine: Große Kunst in Kinderhand Watt, Fiona: Werkbuch Farbe Michalski, Ute: Werkbuch Papier Björk, Christina: Linnea im Garten des Malers 337 Musik O’ Brien, Eileen: Tessloffs Welt der Musik Elliot, Jane: Musikinstrumente Simsa, Marko: Tina und das Orchester. mit CD Ruhle, Ulrich: Ganz verrückt nach Musik Steffe, Susanne: Europa in 80 Tonen, auch als CD Ekker, Ernst A.: Johann Sebastian Bach, mit Audio-CD Simsa, Marko: Mozart fur Kinder / Vivaldi fur Kinder Bohm, Karlheinz: Peter und der Wolf, CD Simsa, Marko: Der Karneval der Tiere Loriot: Peter und der Wolf / Karneval der Tiere, CD Patz, Anne-Grete: Kinder, spielt doch draufsen! Thiesen, Peter: Himmel, Holle & Co Reihe: Klassik mit der Maus / Das große Abenteuer Musik / Wir entdecken Komponisten / Der Holzwurm der Oper erzählt Spielen Altere Kinder und Jugendliche Allgemein Bertelsmann Jugendlexikon Das visuelle Lexikon Lekture Abdel-Qadir, Ghazi: Die sprechenden Steine Allende, Isabel: Die Stadt der wilden Götter Almond, David: Zeit des Mondes Anderson, H.-C.: Die Schneekonigin Avi: Frei wie ein Wolf Baum, L. Frank: Der Zauberer von Oz Boie, Kirsten: Der durch den Spiegel kommt Carrol, Lewis: Alice im Wunderland Chidolue, Dagmar: Zuckerbrot und Maggisuppe Dahl, Roald: Matilda DeCesco, Federica: Anahita, Im Land des Monsuns DeCesco, Federica: Shana das Wolfsmadchen Defoe, Daniel: Robinson Crusoe Diaz, Gloria C.: Der Himmel glüht Dickens, Charles: Oliver Twist / Ein Weihnachtsmaéarchen Durian, Wolf: Kai aus der Kiste + Horbuch Ende, Michael: Der satanarchaoliugenialkohdllische Wunschpunsch / Die unendliche Geschichte / Momo 338 Fährmann, Willi: Deutsche Heldensagen / Das Jahr der Wölfe / Unter der Asche die Glut Farley, Walter: Blitz, der schwarze Hengst Fox, Paula: Paul ohne Jacob Frank, Anne: Anne Frank Tagebuch Funke, Cornelia: Herr der Diebe / Tintenherz-Trilogie Fussenegger, Gertrud: Goethe Gaarder, Jostein: Sophies Welt / Das Orangenmädchen Goodall, Jane: Mein Leben mit den Schimpansen Green, Roger L.: Robin Hood, englisch Grimm, Jacob: Deutsche Sagen Hanel, Wolfram: Irgendwo woanders Hartling, Peter: Jakob hinter der blauen Tur / Reise gegen den Wind / Romane fur Kinder Hegewisch, Helga: Lauf, Lilly, lauf! / Lilly und Engelchen Held, Kurt: Die rote Zora und ihre Bande Ibbotson, Eva: Maia oder als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf Ingalls Wilder: Laura in der Prarie Kastner, Erich: Als ich ein kleiner Junge war / Das fliegende Klassenzimmer / Emil und die Detektive / Pünktchen und Anton Kerr, Judith: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kipling, Rudyard: Das Dschungelbuch Kordon, Klaus: Mit dem Rücken zur Wand / Die Zeit ist kaputt / Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter / Der erste Fruhling Kruss, James: Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen Levine, Karen: Hanas Koffer Levoy, Myron: Der gelbe Vogel Lewin, Waldtraut: Mauersegler Lewis, Carol: Die Chroniken von Narnia Bd. 1-7 Lindgren, Astrid: Die Bruder Lowenherz / Ronja Raubertochter London, Jack: Liebe zum Leben / Der Seewolf Lowry, Lois: Wer zählt die Sterne? Maar, Paul: Kartoffelkaferzeiten / Lippels Traum / Das Sams Marc, Pierre und Vladimir Novjk: Amundsen und Scott am Sudpol Marc, Pierre und Jan Sovak: Mit Livingstone durch Afrika Markham, Beryl: Westwarts mit der Nacht. Mein Leben als Fliegerin in Afrika Melville, Hermann: Moby Dick (verschiedene Übersetzungen - még]. Original) Montgomery, Lucy M.: Anne of Green Gables Neill, Alexander S.: Die grüne Wolke Noack, Hans-Georg: Die Webers, eine deutsche Familie 1932 - 1945 Nostlinger, Christine: Gretchen Sackmeier hoch 3 / Maikéfer, flieg! O’ Dell, Scott: Insel der blauen Delphine Orwell, George: Farm der Tiere / 1984 Ossowski, Leonie: Stern ohne Himmel Paolini, Christopher: Eragon-Reihe 339 Paulsen, Gary: Allein in der Wildnis Pausewang, Gudrun: Die Wolke / Du darfst nicht schreien Pearce, Philippa: Als die Uhr dreizehn schlug Ploeger, Maarten: Fahrt ins Unbekannte - Die Geschichte des Seefahrers Francisco d’ Almeida Pohl, Peter: Jan, mein Freund Pressler, Mirjam: Malka Mai / Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen Preußler, Otfried: Krabat Prinz, Alois: Das Paradies ist nirgendwo - Die Lebensgeschichte des Georg Foster Pruetz, Sigurd: Falsch gedacht Rhue, Morton: Die Welle Richter, Hans P.: Wir waren dabei / Damals war es Friedrich Sachar, Louis: Löcher. Das Geheimnis von Green Lake Salinger, J.D.: Der Fänger im Roggen Schins, Marie-Therese: Und wo sind die Indianer? Schroeder, Rainer M.: verschiedene historische Romane Schulz, Hermann: Wenn dich ein Löwe nach der Uhrzeit fragt Schwab, Gustav: Griechische Sagen Skarmeta, Antonio: Der Aufsatz Spinelli, Jerry: Crash Das Leben ist Football / Stargirl Stevenson, Robert L.: Die Schatzinsel Stover, Hans D.: Die Akte Varus / Daniel und Esther, Allein in Rom / Quintus geht nach Rom Tetzner, Lisa: Die schwarzen Brüder, auch als Hörbuch Tetzner, Lisa: Die Kinder aus Nr. 67, auch als Hörbuch Tolkin, J.R.R.: Der Herr der Ringe, Bd. 1-3 (z.B. Ubersetzung von Sophie Caroux) Tolkin, J.R.R.: Der kleine Hobbit Travers, Pamela L.: Mary Poppins Treiber, Jutta: Felsen küssen mit der Nase Twain, Mark: Tom Sawyer und Huckleberry Finn Verne, Jules: Reise um die Erde in 80 Tagen Verne, Jules: 20 000 Meilen unter dem Meer Vinke, Hermann: Das kurze Leben der Sophie Scholl Whelan, Gloria: Stich fur Stich Welsh, Renate: Besuch aus der Vergangenheit Wilson, Jacqueline: Die fabelhaften Barker Girls Winterfeld, Henry: Caius, der Lausbub aus dem alten Rom Wolfel, Ursula: Mond, Mond, Mond Deutsch Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch Mai, Manfred: Geschichte der deutschen Literatur Hetmann, Frederik: Dichter leben 340 Englert, Sylvia: Wörterwerkstatt Gorner, Lutz: Balladen, Gedichte und Geschichten fur kleine und große Leute Gorner, Lutz: Goethe fur Kinder, Goethes letzter Geburtstag Gorner, Lutz: Zauberlehrling & Co Hoffmann und Rosch: Grundlage, Stile und Gestalten der deutschen Literatur Rico, Gabrielle: Garantiert schreiben lernen Goldberg, Natalie: Wild Mind: Freies Schreiben Schneider, Wolf: Deutsch fur Kenner. Die neue Stilkunde Reiners, Ludwig: Stilfibel. Der sichere Weg zum guten Deutsch Zinsser, William: Nonfiction schreiben - Reisebericht, Biografie, Kritik ... Schumann, Otto: Grundlagen und Techniken der Schreibkunst Meynecke, Dirk R.: Von der Buchidee zum Bestseller Oehlmann, Christel Gisela: Garantiert erzählen lernen Biographien Das große Buch der Biografien von A-Z Quadflieg, Josef: Sie bewegten die Welt Sichtermann, Barbara: 50 Klassiker, Frauen Prinz, Alois: Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne Keller, Helen: Geschichte meines Lebens Fremdsprachen allgemein Kleinschroth, Robert: Sprachen lernen. Der Schlüssel zur richtigen Technik Es gibt verschiedene Methoden, Fremdsprachen zu lernen, davon sollen hier einige genannt werden: Simulation globale - Eine (in Frankreich entwickelte) Gruppen-Intensiv- Methode, bei der Teilnehmer Rollen in einer von ihnen erfundenen Welt einnehmen und dem Rollenspiel folgen. Assimil-Methode - Eine der wohl bekanntesten Methoden zum Fremdspra- chenlernen aus dem Buch. www.assimil.de Rosetta Stone - Monolingualer Ansatz / Sprachlernsoftware Die sogenannten interaktiven Hörbücher (d. h., hören & lesen, z. T. mit CD- ROMs), v.a. vom digital publishing-Verlag. Monatliche Sprachlernzeitschriften aus dem Spotlight Verlag. Fremdsprachige Radio-und Fernsendungen Auslandsreisen. Lieblingsliedtexte übersetzen / Sprachen über Lieder entdecken. Sprachkurse an der Volkshochschule, am Wallstreet Institute (Englisch), dem Institut Francais / Centre Culturel Francais (Französisch) Rote Reihe des Reclam-Verlags: fremdsprachige Buchreihe mit Vokabelhilfen 341 Englisch Willmann, Helmut: Langenscheidts Taschenwörterbuch Englisch PONS Collins English Dictionary Murphy, Raymond: English Grammar in Use, New edition Murphy, Raymond: English Grammar in Use, Suppl. Exercises Thomson, A. J.: A Practical English Grammar Strunk, White: The Elements of Style Warriner, John E.: English Composition and Grammar Zinsser, William: Writing to Learn Englisch lesen und hören Dahl, Roald: Matilda u.a. Titel aus der Reihe Penguin Readers Blyton, Enid: The Secret Seven und weitere Titel der Serie Spot on / Spotlight, monatliches Magazin aus dem Spotlight-Verlag Die Mutigen können sich an einige der aus dem Englischen übersetzten Bücher heranwagen, die auf der Liste mit den Lektüretipps (sowohl für jüngere als auch für ältere Kinder) zu finden sind, z.B. »The Black Stallion« von Walter Farley, »Little House on the Prairie« von Laura Ingalls Wilder und andere. Mathematik Large, Tori: Tessloffs Schülerlexikon - Mathematik Vorderman, Carol: Spannendes aus der Welt der Mathematik Dahl, Kristin: Zahlen, Spiralen und magische Quadrate Poskitt, Kjartan: Mathe - voll logisch! / Mathe, einfach maßlos! Enzensberger, Hans M.: Der Zahlenteufel Loyd, Sam: Mathematische Rätsel und Spiele Malle, Horst: Mathematik erleben Seife, Charles: Zwilling der Unendlichkeit. Eine Biographie der Null Singh, Simon: Fermats letzter Satz. Die abenteuerliche Geschichte eines mathematischen Rätsels O’ Shea, Donal: Poincares Vermutung: Die Geschichte eines mathematischen Abenteuers Burns, Marilyn: Mathe macht mich krank Drösser, Christopher: Wie groß ist unendlich? Dahl, Kristin: Wollen wir Mathe spielen? Witzige Spiele und kniffelige Rätsel Dahl, Kristin und Nordqvist, Sven: Zahlen, Spiralen und magische Quadrate. Peterson, Ivars: Mathematische Expeditionen Colerus, Egmont: Vom Einmaleins zum Integral Heyne, Andreas: Leonhard Euler. Ein Mann mit dem man rechnen kann Taschner, Rudolf: Musil, Gödel, Wittgenstein und das Unendliche Havil, Julian: GAMMA. Eulers Konstante, Primzahlstrände und die Riemansche Vermutung 342 Du Sautoy, Marcus: Die Musik der Primzahlen. Auf den Spuren des größten Rätsels der Mathematik Ryan, Mark: Analysis für Dummies Mathe macchiato: Cartoon-Mathematik-Kurs für Schüler und Studenten Mathe macchiato Analysis: Cartoon-Mathematikkurs für Schüler und Studenten Wittgenstein, Ludwig: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik Naturwissenschaften allgemein Die Dummies-Reihe von Wiley-Vch, z.B. Biologie, Chemie Das visuelle Lexikon der Naturwissenschaften Brody, David E.: Die sieben größten Rätsel der Wissenschaft und wie man sie versteht Newth, Eirik: Die Jagd nach der Wahrheit Staguhn, Gerhard: Warum fallen Katzen immer auf die Füße ... und andere Ratsel des Alltags Burns, Marilyn: Mal scharf nachdenken oder wie man ein Problem löst, das doppelt so grofs ist wie man selbst Smullyan, Raymond: Satan, Cantor und die Unendlichkeit und 200 weitere verbliffende Tufteleien Biologie Das visuelle Lexikon der Pflanzen und Tiere Das visuelle Lexikon der Umwelt Arnold, Nick: Einfach tierisch, die Natur! Gates, Phil: Echt revolutionar, die Biologie! Paulsen, Susanne: Sonnenfresser Meckes, Oliver: Der Mikrokosmos Bartos, Burghard: Die Welt im Mikroskop Blech, Jorg: Mensch & Co. Reihe Wissen mit Pfiff / Fleurus Verlag Martin Auer: Ich aber erforsche das Leben - Lebensgeschichte des J.-H. Fabre Jane Goodall: Ein Herz fur Schimpansen Jean-Henri Fabre: Wunder des Lebendigen und Das offenbare Geheimnis. Aus dem Leben des Insektenforschers James D. Watson: Die Doppelhelix. Ein persönlicher Bericht über die Entdeckung der DNS-Struktur Erwin Schrodinger: Was ist Leben? Neil A. Campbell, Jane B. Reece: Biologie (Pearson Studium) Candace B. Pert: Moleküle der Gefühle: Körper, Geist und Emotionen Arnold, Nick: WahnsinnsWissen - Die faszinierende Welt deines Körpers Bryan, Jenny: Das menschliche Gehirn und die Sinne. Biesty, Stephen: Stephen Biestys Fantastische Reise durch den Körper Glover, David: Young Oxford - Der Mensch 343 Chemie Arnold, Nick: Ein Knaller, die Chemie Schwenk, Ernst F.: Sternstunden der frühen Chemie Chemicus / CD-ROM oder DVD Chemicus Il / CD-ROM oder DVD Moore, John T.: Chemie für Dummies Andreas Korn-Müller: Das verrückte Chemie-Labor. Experimente für Kinder Isaac Asimov: Kleine Geschichte der Chemie Paul Strathern: Mendelejews Traum Verlag Pearson Studium: Chemie (Organische, anorganische, allgem. Chemie) Physik Stockley, Corinne: Tessloffs Schülerlexikon - Physik Häußler, Peter: Donnerwetter - Physik! Ditzinger, Thomas: Spaß und Spannung mit Physik Dittmar-ligen, Hannelore: Warum platzen Seifenblasen? Physik für Neugierige Walker, Jearl: Der fliegende Zirkus der Physik Englert, Sylvia: Cafe Andromeda. Eine fantastische Reise durch die moderne Physik Staguhn, Gerhard: Die Jagd nach dem kleinsten Baustein der Welt Bührke, Thomas: Sternstunden der Physik Arnold, Nick: Hochspannend, die Elektrizität Physikus / CD-ROM oder DVD Physikus - die Rückkehr / CD-ROM oder DVD Richard P. Feynman: Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman! Abenteuer eines neugierigen Physikers / Es ist so einfach: Vom Vergnügen, Dinge zu entdecken Eduardo de Campos Valadares: Spaß mit Physik Gisela Lück: Neue leichte Experimente für Eltern und Kinder Niels Boeing: Alles Nano?! Die Technik des 21. Jahrhunderts Paul Davies: Auf dem Weg zur Weltformel Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze Dr. David Deutsch: Die Physik der Welterkenntnis. Douglar C. Giancoli: Physik - Pearson Studium Gebhard von Oppen, Frank Melchert: Physik für Ingenieure - Pearson Studium Astronomie Mitton, Simon: Young Oxford - Astronomie Couper, Heather: Der Weltraum / Spannendes Wissen über das Weltall Poskitt, Kjartan: Die unendliche Welt der Planeten Bührke, Thomas: Sternstunden der Astronomie Hawking, Lucy und Stephen: Der geheime Schlüssel zum Universum 344 Technik Das visuelle Lexikon der Technik Wright, Michael: Das große Arena Lexikon der Technik Ardley, Neil: Spannendes Wissen über Technik im Alltag Macaulay, David: Macaulay’s großes Buch der Bautechnik : Politik Schulz-Reiss, Christine: Nachgefragt: Politik Savater, Fernando: Sei kein Idiot Politibongo. Politik erklärt für Kinder - Bestellbar über www.bundestag.de Schroder-Kopf, Doris und Brodersen, Ingke: Der Kanzler wohnt im Swimmingpool oder Wie Politik gemacht wird Thoreau, Henry David: Uber die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat Materialien der Bundeszentrale fur politische Bildung Wirtschaft Piper, Nikolaus: Geschichte der Wirtschaft / Felix und das liebe Geld) Lietaer, Bernard A.: Die Welt des Geldes Zeitschriften Humanwirtschaft Bücher von und Uber Silvio Gesell Bucher über Regionalwahrungen Bücher uber Tauschringe (z. B. von Margit Kennedy) Erdkunde Die Welt - Atlas International mit Landerenzyklopadie Steele, Philip: Tessloffs große Landerkunde Die visuelle Geschichte der Erde und des Lebens Farndon, John: Spannendes Wissen über die Erde Taylor, Barbara: Zeige & erklare mir die Erde Davis, Kenneth C.: Wieso fließt der Nil bergauf? Allaby, Michael: Faszination Wetter Schultheis, Rainer: DonnerWetter Ganeri, Anita: Orkanstark, das Wetter Alfred Wegener: Mit Motorboot und Schlitten durch Grönland / Tagebuch eines Abenteurers / Entstehung der Kontinente und Ozeane GoogleEarth - Ansichten der Erde auf www.google.de Veronique Chantraine, Veronique Sarano: Die Erde. Entdeckungsreise mit Fleurus und weitere Bücher der Reihe Fleurus Yann-Arthus Bertrand: Die Erde von oben. Ein Jahrhundert-Projekt sowie weitere Publikationen aus dieser Serie Zeitschriften National Geographics sowie GEO 345 Geschichte Das große Arena Lexikon der Weltgeschichte Die visuelle Weltgeschichte der alten Kulturen Die visuelle Weltgeschichte der Neuzeit Gombrich, Ernst H.: Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser Grant, Neil: Young Oxford - Weltgeschichte Mai, Manfred: Weltgeschichte / Deutsche Geschichte Zimmermann, Martin: Weltgeschichte in Geschichten LeGoff, Jacques: Die Geschichte Europas Deick, Christian: Deutsche Geschichte Barth, Reinhard: Nachgefragt: Deutsche Geschichte Vollkommer, Rainer: Sternstunden der Archäologie Deary, Terry: Beinhart, die Steinzeit / Unverwüstlich, die Ägypter! / Sagenhaft, die Griechen / Die abenteuerliche Welt der Wikinger / Unschlagbar, die Ritter Holtei, Christa: Reise in das Alte Ägypten / Reise in das Alte Griechenland : Inkiow, Dimiter: Griechische Sagen / Der Zug der Argonauten Kaempfe, Peter: Odysseus / Herkules / Jason und Medea - Audio-CD Schnieper, Claudia: Reise in das Alte Rom Stover, Hans D.: Report aus der Romerzeit Macaulay, David: Sie bauten eine Kathedrale Braudel, Ferdinand: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts Bd. 1-3 Griffin, Susan: Frau und Natur. Das Brtillen in ihr Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Européaers / Sternstunden der Menschheit. Zwolf historische Miniaturen Haffner, Sebastian: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933 Sellen, Albrecht: Geschichte kurz & klar Bd. 1-2 Engelmann, Berndt: Wir Untertanen. Ein deutsches Geschichtsbuch Durschmied, Erik: Als die Romer im Regen standen. Der Einfluss des Wetters auf den Lauf der Geschichte Cowley, Robert: Was ware gewesen, wenn? Wendepunkte der Weltgeschichte Zolling, Peter: Deutsche Geschichte von 1871 bis zur Gegenwart Biesty, Stephen: Jagd nach dem Gold Kent, Peter: Quer durch die Stadt Hesse, Helge: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Neil Grant: Young Oxford - Weltgeschichte Fernandez Armesto, Felipe: Millenium - Die Weltgeschichte unseres Jahrtausends Black, Jeremy: Dumont - Atlas der Geschichte Barraclough, Geoffrey: Atlas der Weltgeschichte Video-Reihe Komplett Media: Es war einmal der Mensch Philosophie Law, Stephen: Philosophie - Abenteuer Denken Labbe, Brigitte: Denk dir die Welt Soentgen, Jens: Selbstdenken! 346 Savater, Fernando: 7u, was du willst. Ethik für die Erwachsenen von morgen Schwarz, Aljoscha A. und Schweppe, Roland P.: Anleitung zum Philosophieren. Selber denken leicht gemacht. Gleichauf, Ingeborg: Denken aus Leidenschaft. Sieben Philosophinnen und ihre Lebensgeschichte Pirsig, Robert M.: Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten. Religion Das visuelle Lexikon der Weltreligionen Barnes, Trevor: Die großen Religionen der Welt Staguhn, Gerhard: Gott und die Götter Rosen, Sybil: Mensch sucht Sinn Wendl, Lieselotte: Mein Glaube ist mir wichtig Kunst Johannsen, Rolf H.: 50 Klassiker, Gemälde Die visuelle Geschichte der Kunst Kretschmer, Hildegard: Das Abenteuer Kunst Sturgis, Alexander: Peters Engel und die Geheimsprache der Bilder Reihe »Abenteuer Kunst«, Prestel Verlag Edwards, Betty: Garantiert zeichnen lernen Musik Bernstein, Leonard: Konzert für junge Leute, Audio-CD Gümbel, Lutz: Die Geheimschrift im Kloster und andere Titel aus der Reihe Krimis in Dur und Moll” Empfehlenswert für alle Altersstufen sind auch folgende fächerübergreifende Buchreihen, TV-Reihen, Zeitschriften, Internet-Seiten und Spiele: Buchreihe - Was ist was - Sehen, Staunen, Wissen / Verlag Gerstenberg - Megawissen / Verlag Dorling-Kindersley - Dummies-Reihe /Wiley-Vch TV - Schulfernsehen - logo! - Nachrichten für Kinder - Wissen macht Ah! - Löwenzahn 347 Zeitschriften - Geolino - National Geographic World - Willi wills wissen Internet-Seiten www.blinde-kuh.de (Suchmaschine für Kinder) www.wasistwas.de www.geo.de/GEOQOIino www.nationalgeographic.de/kinder/kinder_index.htm www.sachunterricht-online.de: Internetportal fur den Sachunterricht (Unter- richtsdatenbank mit Links für den Sachunterricht nach Themen sortiert, CD-ROMs für den Sachunterricht, täglich aktualisierte Übersicht der nachs- ten sieben Tage über ausgewählte TV-Sendungen, die Themen aus dem Umfeld des Sachunterrichts behandeln) www.ego4you.de - Englische Grammatik Online- Seite mit Arbeitsblättern und Lösungen/Texten/Anregungen rund ums Englischlernen www.bildungsserver.de: Zugang zu den länderspezifischen Lehrplänen www.mallig.eduvinet.de Interaktive Selbstlernkurse, Unterrichtsmaterialien Spiele - Activity Kinder und Activity Junior + Querdenker - Trivial Pursuit . Wer wird Millionär? - 20 Questions - Deutschlandreise - Weltreise - Monopoly - Kniffel - Scrabble - Boggle + Letra-Mix + Wortfix sowie selbst gestaltete Spiele wie Zahlen-, Rechen- oder Worterbingo, Wur- felspiele aller Art und anderes 348 ANHANG E Möglichkeiten und Aktivitäten Eine solche Liste kann nur eine Anregung geben, sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. ASF: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Freiwilligendienste/Sommer-Wor- kcamps weltweit. www.asf-ev.de BUND- Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland. Lokale Gruppen und Aktionen. www.bund.net Deutsch-Französisches Jugendwerk. Möglichkeiten für Austausch, Sprach- kurse, Praktika. www.dfjw.de EUDEC - European Democratic Education Conference. Treffen der Anhänger der demokratischen Bildung in Europa, Öffnung auch für Homeschooling. www.eudec.org Europäischer Freiwilligendienst. www.go4europe.de Freiwilliges soziales Jahr. Für alle zwischen 16 und 27 Jahren. www.pro-fsj.de Freiwilliges ökologisches Jahr. S.0. www.foej.de Freiwilliges kulturelles Jahr. S.o. www.fsjkultur.de The Freeconomy Community - Menschen teilen ihre Fähigkeiten und Fertigkei- ten ohne dass Geld fließt - »just for the love of it«. Weltweit - lokal organisiert. www.justfortheloveofit.org (Englisch) GAIA University. Vergibt universitäre Abschlüsse im Bereich Nachhaltig- keit/Ökologie. Vorwiegend im Selbststudium, unterstützt eigene Projekte. Studium ohne Abitur möglich. www.gaiauniversity.org (Koordinator in Deutschland: Lebensgarten Steyerberg: www.lebensgarten.de) Greenpeace - Die wohl bekannteste Umweltschutzorganisation der Welt. Möglichkeiten für Praktika, Gruppen, Aktionen. www.greenpeace.de 349 Kasseler Gespräche - Informationen beim Bundesverband Natürlich Lernen! e.V. www.bvnl.de Raus von zu Haus - Informationsportal zum Thema Auslandsaufenthalt und Jugendaustausch - in jedem Alter. www.rausvonzuhaus.de Surfrider Foundation - Eine NGO, deren Ziel die Erhaltung des Lebensraums Ozean ist. Sie ist aus einer Gruppe umweltbewusster Surfer entstanden, es werden regelmäßige Strandaufräumaktionen veranstaltet. www.surfrider.eu The Travelling School of Life. Lerndatenbank und Kommunikationsplattform für »SelbstlernerInnen auf ihrer Lebensreise«; ähnlich wie Freeconomy-Community. Deutschsprachig. www.tsolife.org Weltläden. Läden mit Produkten aus fairem Handel. Ehrenamtliche Mitarbeit möglich. www.weltlaeden.de (Dachverband) WWF-Weltweite Natur- und Tierschutzorganisation. U.a. Camps, Praktika. www.wwf.de WWOOF- Weltweite Helfer auf ökologischen Farmen. Arbeit gegen Kost und Logis- weltweit - allein, zu zweit, mit Familie. www.wwoof.de Englischsprachig: Centre for Interim Programs- vermittelt Jobs, Praktika weltweit. www.interimprograms.com Not Back to School Camp - Sommercamp von Grace Llewellyn (Das Teenager-Befreiungshandbuch) in den USA. www.nbtsc.org HESFES. Home-educator’ s Seaside Festival. Internationales Homeschooler- Treffen in England, immer im Sommer. www.hesfes.co.uk HEFTOF. Internationales Homeschooling-Kolloguium. Wechselnde Orte inner- halb Europas. Informationen uber das Netzwerk Bildungsfreiheit www.netzwerk-bildungsfreiheit.de. IDEC - International Democratic Education Conference. Jahrliches Treffen der Anhanger der demokratischen Bildung. www.idec.org 350 LT spam | John Taylor Gatto pny | Verdummt noch mal! DO | 12,80 FB John Taylor Gatto wurde mehrfach zum »Lehrer des Jahres« im EE | Staat New York gekrönt und mit Preisen für seinen außer- 7 gewöhnlich guten Unterricht ausgezeichnet - doch er selbst zieht ein anderes Fazit. Die deutsche Erstausgabe des US-Titels »Dumbing Us Down - the Hidden Curriculum of Compulsory Schooling«, der sich in den USA hunderttau- sendfach verkaufte und die US-Bildungsdiskussion der letzten Jahre entscheidend geprägt hat. Gatto war 35 Jahre lang mit Leib und Seele Lehrer und zog anlässlich mehrfacher Auszeichnungen als »Lehrer des Jahres« in New York eine überraschende, geradezu schockierende Bilanz für seinen Beruf und die individuellen und gesellschaftlichen Folgen von allgemeiner Schulpflicht. Das Buch ist schockierend, aber auch befreiend zu lesen. Ein Muss für Lehrer und Eltern. "Unsere Kinder‘ Unsere Kinder brauchen uns! Unsere Kinder} Die entscheidende Bedeutung der Kind-Eltern-Bindung ~~ HSER | ISBN 978-3-934719-20-0 7 Eltern und entwickeln erst auf dem Boden dieser Gebo rgen- heit die Reife zu echter, selbstbewusster Eigenstandigkeit. So funktionieren seit Men- schengedenken das Heranreifen von Menschen und die Übermittlung kultureller Errungenschaften von Generation zu Generation. Seit ein paar Jahrzehnten werden unsere Kinder jedoch von klein auf standig in Situ- ationen gebracht, wo ihre zentralen Bezugspersonen nicht verfügbar sind und sie sich nicht an Erwachsenen orientieren können. Das hat fatale Folgen. »Gordon Neufeld hat mit diesem Wissen ein Umdenken in der Erziehung weltweit in Gang gesetzt.« (Zeitschrift Gesundheit) TT oe | Grace Llewellyn ny Das Teenager Befreiungs Handbuch ~~ BEFREIUNGS Glucklich und erfolgreich ohne Schule BY “alm < 19,80 bad B: = Dein Leben, deine Zeit und dein Gehirn sollten keiner Ta at Institution gehören, sondern dir. Dieses Handbuch ist fiir alle, ESTE Ea besonders ein Buch fiir Teenager und Leute, die viel mit Teen- 8 agern zu tun haben.« Grace Llewellyn Dieses Buch ist gefährlich. Es widerspricht allen üblichen Weisheiten über Schul- abbrecher und die Wichtigkeit von Schulabschliussen. Es wirkt belebend und inspirierend. Lassen Sie dieses Buch auf keinen Fall in die Hände eines aufge- weckten, frustrierten Jugendlichen gelangen, den das Schulsystem anödet. Die Autorin kann fur das daraus möglicherweise entstehende Glück und das Gefühl von Eigenverantwortung keinerlei Verantwortung übernehmen. Grace Llewellyn war eine gute Schülerin und wurde eine noch bessere Lehrerin. Doch irgendwann wurde ihr klar, dass Schule nicht notwendig die beste Antwort auf das Leben junger Menschen ist, und sie wurde zu einer Pionierin der freien Bildung, wie sie in den USA bereits Millionen Schulkinder nutzen - und ihre Zahl wächst rasant. a | Die Freilerner | Osamarheubronner Unser Leben ohne Schule CB FL. =e ESTEE Dic Schule ist in vielen Familien das Problemthema Nr. 1. ~ Die Freilerner | Dagmar Neubronner, die Mutter der prominentesten I »Schulverweigerer« Deutschlands und Inhaberin des Genius I Verlages, schildert spannend und anschaulich, wie es kam, ~~ dass sie und ihr Mann trotz großer Bedenken den beiden Söhnen Moritz und Thomas erlaubten, frei zu lernen - ohne Schule und mittlerweile ohne jeglichen Pflichtunterricht. Wie funktioniert freies Lernen, und wie muss sich Schule verändern, damit es auch dort funktioniert? Was können Eltern und Lehrer tun? Mit ausfuhrlichem Anhang zu pädagogischen und juristischen Fragen. Die Autorin, ursprünglich Diplombiologin, hat selbst Schule und Studium mit Aus- zeichnung abgeschlossen. Der besondere Lernweg ihrer Kinder, international als »Homeschooling« bezeichnet, und ihr mutiger Widerstand gegen den spezifisch deutschen Schulzwang machte die Familie uber Deutschland hinaus bekannt.